Annäherung

Kapitel 23

Ian

Er hielt vor ihrem Haus an, obwohl er sich eindeutig bei dem Gedanken erwischte, einfach vorbei zufahren und weiter ziellos durch den verregneten Nachmittag zu fahren. Das letzte, was Ian wollte war, Emily gehen zu lassen und dennoch war es genau das, was er tun musste. Als der Motor langsam abklang und Emily zu ihrem zu Hause aufsah, wirkte sie ebenfalls alles andere als glücklich. Eigentlich sollte sie sich freuen. Doch das tat sie nicht und irgendein wahnsinniger Gedanke brachte Ian für eine Sekunde dazu zu glauben, es läge an ihm. Eine Illusion. Er hatte sie angeschrien, sie quasi ein verwöhntes Gör genannt, dass nichts von seiner Welt verstand und das ausgerechnet in einem Moment, wo sie sowieso schon verletzt gewesen war. Das letzte, was sie wollte, war bei ihm zu bleiben. Ihr trauriger Blick hatte nichts damit zu tun, dass es ihr in seiner Nähe gefiel. Es durfte nicht sein.
"Danke fürs nach Hause bringen", rang sie sich hervor und Ian nickte während er wartete, aber noch immer machte sie keine Anstalten sich abzuschnallen, geschweige den aus dem Wagen auszusteigen, dabei hatte Ian fest damit gerechnet, dass sie erneut die Flucht ergreifen würde. Emily sah von dem Haus wieder zu ihren Händen, die ordentlich in ihrem Schoß lagen und dann zu Ian.
Ihr Blick war neben der Trauer, unendlich sanft und drückte dieselbe Verwirrung aus, die auch er tief in seinem Inneren spürte. Dieses lose Gefühl von Anziehung und Sehnsucht nach etwas, das man nicht haben konnte. Vielleicht spürte sie es auch, oder zumindest ein Teil davon. Doch bevor er wieder auf dumme Gedanken kam, löste Ian den Gurt seines Sitzes und öffnete die Tür seines Wagens. Sie musste gehen, sie durfte nicht weiter hier herumsitzen und ihn ansehen, wie sie ihn eben ansah. Das ertrug er einfach nicht, es rüttelte zu sehr an dem Weg, den er in den nächsten Jahren hatte begehen wollen.
Donna, sein Vater, seine Schwester. Er hatte Pläne, verdammt nochmal! Warum machte Emily es ihm so verdammt schwer?
Hier in der Vorstadt war der Regen weniger heftig, als zuvor beim Campus, aber die Kälte fraß dennoch sofort an seiner Haut. Etwas was dafür sorgen würde, dass sein Kopf etwas klarer wurde. Seine Entschlossenheit kehrte zurück. Ian beeilte sich, um den Wagen herumzulaufen und die Beifahrertür aufzureißen. Sie musste gehen! Sie musste aus seinem Auto, aus seinen Leben und aus seinem Kopf verschwinden!
"Ich begleite dich noch bis zur Tür", verkündete Ian dummerweise und hätte sich dafür selbst Ohrfeigen können? Er begleitete sie noch zur Tür? War er den verrückt geworden? Er wollte sie nicht wirklich loswerden, aber diese sehnsuchtsvollen Blicke mussten endlich aufhören. Es wurde Zeit, dass sie in ihr Leben zurückkehrte und er in seines. Sie waren keine Freunde und würden auch nie welche sein. Sie zur Tür zu begleiten, half dabei nicht wirklich.
Emily sah traurig zu ihm auf, aber ob es an den Umständen lag oder daran, dass heute immer noch der Todestag ihres Bruders war, wusste er nicht. Alles, was Ian mit Sicherheit wusste, war, dass seine kleine Predigt von vorhin, nichts besser gemacht hatte.
Emily presste die Lippen aufeinander und wich seinem Blick aus. Sie wusste es. Egal, was sich da gerade zwischen ihnen entwickelte. Es musste aufhören.
Emily brauchte mehrere Versuche, um den Gurt zu lösen und erhob sich mühsam auf wackeligen Beinen. Die Hand, die er ihr zu Hilfestellung hinhielt, ignorierte sie. Stattdessen schlang sie die Arme um sich selbst, als der kühle Wind sie traf.
Ian kämpfte gegen den Drang an, ihr seinen nassen Mantel zu geben. Zum einen wäre die Geste verheerend, zum anderen würde er wohl nichts wirklich besser machen. Es wäre eine vollkommen sinnlose Tat. Die wenigen Schritte bis zu ihrem Haus würde sie auch ohne überstehen.
All das wusste Ian und dennoch schien sein Körper ein weiteres Mal eine Art Aussetzer zu bekommen und tat genau das, wovon sein Verstand gerade noch beschlossen hatte, es sein zu lassen
Er schlüpfte aus den Ärmeln und legte sie Emily um die Schultern, die wieder nur zu ihm aufsah, ohne etwas zu sagen. Sie protestierte nicht, machte ihn nicht darauf aufmerksam, wie nutzlos diese Geste war. Sie sah ihn einfach weiter an, sodass er einfach nicht mehr widerstehen konnte.
Sollte ihn doch der Teufel holen! Er wollte sich auch nicht mehr zurückhalten.
Ians Hände glitten von ihren Schultern zu den Seiten ihres Gesichtes, umfassten es und ließen kaum einen Zweifel daran, was gleich passieren würde.
Er spürte Emilys beschleunigten Puls unter seinen Fingern, sah wie sich ihre Lieder etwas senkten und sich ihre Lippen erwartungsvoll öffneten. Ian wusste, dass es alles nur noch sehr viel komplizierter machen würde, dass es schwieriger werden würde sich von ihr fernzuhalten, wenn er diese Grenze überschritt, aber er konnte nicht anders.
Die Art wie sie ihn ansah, die Trauer in ihrem Gesicht, der warme Puls unter seinen Fingern, der immer schneller schlug während er sich zu ihr herunterbeugte und das unvermeidliche immer näher rückte.
Es überraschte ihn auch nicht, dass sie es auch wollte, dass Emily selbst es war, die sich auf die Zehenspitzen stellte und die letzten wenigen Zentimetern überwand.
Ihre kalten Lippen trafen auf seine und waren so sanft, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, der über seine Haut glitt.
Als wollte sie ihn nur kosten. Nur einmal kurz schmecken, bevor sie sich wieder zurückzog und ihn stehen lassen würde. Eine leichtfertige Geste, ausgeführt von einer Frau, die wohl schon viele Herzen gebrochen hatte. Ian dachte daran, wie Dave und dieser andere Kerl, der mit ihr und der Garage gestanden hatte, auf sie reagiert hatten. Emily hatte keine Ahnung, welche Wirkung sie auf die Männer hatte oder sie wusste es und es war ihr schlichtweg egal, wie sehr sich die Kerle bei ihr zum Affen machten, um auch nur etwas ihrer Aufmerksamkeit zu erhaschen. Ian fürchtete sich nicht wirklich davor, ihr in die Falle zu gehen, worauf er nicht vertraute war seine eigene Fähigkeit sich wieder aus dieser heraus zu kämpfen.
Verwirrt, unfähig zu denken und mit dem Wissen, dass ihn diese sanfte, fast flüchtige Berührung, bis in alle Ewigkeit verfolgen würde, wollte er diesen Kuss.
Doch Ian gehörte nicht zu Männern, die es einfach hinnehmen, wenn eine Frau versuchte sich in ihr Leben zu schleichen. Wenn Emily sich ihn auf diese Art näherte und das hier vielleicht ihr erster und zugleich letzter Kuss sein würde, dann wollte er mehr. Viel mehr.



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