Anklage

Kapitel 19

Emily

Es war albern gewesen ihm all das zu erzählen und obwohl Emily gerade noch Angst vor dieser Autofahrt verspürt hatte, machte ihr jetzt nur eines zu schaffen: Ians unfassbare Kälte. Sie hätte es ihm nicht gestehen sollen, zum einen, weil es ihm nichts anging und zum anderen, weil sie sich ihm gegenüber nicht rechtfertigen musste. Doch es war passiert und jetzt musste sie die Konsequenzen dafür tragen.
Schutzlos und roh hatte sie ihm ihr Herz präsentiert und er hatte darauf nur mit ein Schulterzucken reagiert. Es abgetan als wäre es unbedeutend. Seine Ignoranz tat weh und Emily sollte wirklich froh über die unangenehme Stille im Wagen sein, war sie aber nicht. Sie wollte schreien und toben, ihn schlagen und anbrüllen. Es reichte nicht ihn zu beleidigen, sie wollte ihm wehtun. Genauso wie er ihr weh getan hatte.
"Du bist ein Arschloch", sagte sie einfach, um sich zumindest ein bisschen Luft zu machen, wobei ihr vor Wut glatt die Tränen in die Augen stiegen. Normalerweise war sie nicht der Typ Frau, der vor Wut heulte, wie ihre Mutter es tat. Sie kam nach ihrem Vater, der einfach einen Blick aufsetze, der jeden vor Angst erzitter ließen. Natürlich war Emily nicht so eindrucksvoll wie ihr Dad. Ihre Erscheinung macht ihr da ein Strich durch die Rechnung, aber sie weinte nie vor Wut. Jetzt allerdings schon. Sie wusste selbst nicht, warum.
Schnell wischte sie sich eine Träne von der Wange, bevor Ian sie bemerken konnte und schmiss weiter mit Beleidigungen um sich, einfach um ihn irgendwie zu treffen.
"Dein Vater wird in den Medien als egozentrischer Despot beschrieben. Normalerweise gebe ich nichts auf solche Gerüchte, aber der Apfel fällt wohl nicht weit vom Stamm. Und wenn ich mir dich so anschauen, scheinen die Medien ausnahmsweise mal recht zu haben!" fauchte sie weiter und sah wie sich Ians Fingerknöchel weis verfärbten. Auch sein Kinn sah noch härter und störrischer aus als sonst, während sie ihn ansah. Sie wusste nicht wie, aber der Vergleich mit seinem Vater schien ihn mehr zu treffen, als die Beleidigung vorhin.
"Du weißt nicht, was du da sagst. Du weißt gar nichts!" entfuhr es ihm, obwohl Emily fast damit gerechnet hatte, dass er wieder schweigen würde. Doch das tat er nicht, er reagierte und Emilys verletzter Stolz schlug Purzelbäume vor Schadenfreude. Er tat ihr weh, sie würde ihm wehtun!
"Ich erkenne ein selbstverliebtes, psychopathisches Arschloch, wenn er vor mir steht, ich..."
Der Wagen hielt abrupt an. Ian trat so hart auf die Bremse, dass es hinter ihnen hupte und sicherlich auch wüste Beschimpfungen vielen, aber davon bekam Emily kaum etwas mit. Alles, was sie spürte, war, dass Ian seine Faust in ihrem Oberteil versenkte und sie in seine Richtung, halb über die Mittelkonsole, zerrte.
"Du. Weißt. Einen. Scheiß! Glaubst du, du hast die Weisheit mit Löffeln gefressen, nur weil du eine scheiß, glückliche Familie hast? Du denkst, ich bin ein privilegiertes Arschloch? Was weißt du schon von Privilegien? Als würde Geld alles ausgleichen. Aus meiner Sicht bist du diejenige, die die Nase viel zu hochträgt und das nur, weil sie das Glück hatte, in einer Familie aufzuwachsen, die aus einer scheiß Sonntags-Vormittags-Sendung hätte kommen können. Du glaubst, der Tod deines Bruders, würde dein Leben ruinieren? Du bist sehr damit beschäftigt darüber zu verzweifeln, was du verloren hast, dass du nicht siehst, was dir geblieben ist. Deine ach so tollen Eltern, dein kleiner Bruder, dein verficktes Stipendium auf einer der besten Universitäten des Landes. Es tut mir leid, dass ich dir nicht die Schulter tätschle und dich bemitleide, wie du es gerne hättest. Ich hatte in keiner Sekunde meines Lebens auch nur ansatzweise so etwas wie eine intakte Familie. Also erklär mir nicht, wie man sich aus deiner Sicht zu verhalten hat. Ich bin, wer ich bin, weil ich es sein muss, weil mein Leben eben nie so gewesen ist wie deines!", knurrte er und Emily sah ihn eine Zeit lang an und dachte über seine Worte nach.
Er hatte recht. Ihre Einstellung war genauso daneben wie die seine, aber sie hatte vorher nicht klar denken können. Sie war emotional angeschlagen und wusste einfach nicht wohin mit ihrer ganzen Frustration. Da war Ian ein guter Blitzableiter. Wieder kamen ihr einfach die Tränen, weil sie sich selbst Vorwürfe machte. Es tat ihr leid, dass sie so um sich geschlagen hatte.
"Tut mir lei..."
"Hör auf!" unterbrach Ian ihren Versuch ihr Gewissen zu erleichtern. Aber während er immer noch ihr Shirt gepackt hielt und ihn direkt in die Augen starrte, sah er kein bisschen so aus, als würde es ihr Mitleid wollen oder brauchen.
"Womit?" fragte sie, weil sie nicht genau sagen konnte, ob er ihre Entschuldigungsversuche meinte oder etwas anderes.
"Weinen. Weine nicht. Weder um dich selbst, noch um mich. Es ist gut, dass du mich verachtest. Du bist in einer fast heilen Welt aufgewachsen und wenn du glaubst, dass der Tod deines Bruders sie erschüttert hat, dann solltest du mich kein Teil davon werden lassen. Ich bin, was du gesagt hast. Ich habe früh gelernt, dass mein Vater, etwas anderes als Skrupellosigkeit nicht toleriert. Jeder kleinste Anflug von Schwäche, bringt ihn nur dazu genau diese Schwäche auszunutzen. Ob es ihm was bringt oder nicht. Es bereitet ihm Freude, andere zu quälen. Zeig ihm gegenüber keine Schwäche, Emily!" sagte er und irgendwie verstand Emily in diesem Moment, dass Ian nicht aus eigenmächtigen Gründen hinter ihrem Patent her war. Es war sei Vater.
"Warum tust du das für ihn? Ich hab gelesen, du hättest deine eigene Firma und dennoch bist du im Namen deines Vaters hier, wieso?" fragte sie, weil sie es endlich verstehen wollte. Aber da ließ er sie plötzlich los, lehnte sich in seinem Sitz zurück und fuhr einfach weiter. Er würde ihr nicht antworten, vermutlich weil er damit ebenfalls eine Schwäche zugeben würde und er hatte gelernt, dass dies nichts als Schmerzen verursachen würde.
Er vertraute niemanden und Emily sollte das auch nicht. Doch gerade jetzt, nachdem sie sich gegenseitig ihre Wunden offenbart hatten, sich gegenseitig verletzt und aneinander Vorwürfe gemacht hatte, tat sie es. Sie wusste nicht warum, aber es fühlte sich plötzlich ausgeglichen an, als wären sie sich ähnlicher als sie gedacht hätte. Sie kamen aus unterschiedlichen Welten und dennoch fühlte sich Emily ihm plötzlich so nahe, wie noch nie zuvor. Was war nur geschehen?

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