Kapitel 8
Am nächsten Tag war ich sehr erleichtert, als endlich die Schule aus war. Anscheinend hatte Vivienne jetzt wieder zu sich gefunden und war ganz die Alte.
Francesca hatte heute länger Unterricht, als ich, weshalb ich mich, wie normaler Weiser immer, auf das Mädchenklo verzog und wartete, bis eine Vielzahl an Schülern weg war, ehe ich mich raus auf den Gang traute.
Langsam lief ich den Flur entlang und ging hinter einem anderen Mädchen durch die schwere Metalltür, die nach draußen auf den Hof führte. Tief atmete ich durch und beschloss, heute nicht den Bus zu nehmen und vielleicht nochmal auf dem Friedhof vorbeizuschauen.
Als ich so auf dem Pausenhof entlang marschierte, bemerkte ich die Freundesgruppe von Collin und beschleunigte unwillkürlich meinen Gang. Irgendwie war es mir unangenehm, vor ihnen entlangzulaufen.
Im Augenwinkel bekam ich mit, dass sich eine Person von der Gruppe löste und in meine Richtung spaziert kam. Spätestens nachdem ich einen mehr als nur auffälligen Blick zu ihm geworfen hatte, wusste ich, wer es war.
„Hey Alenia", begrüßte er mich und lächelte wieder dieses charmante Aufreißer-Lächeln. Seine Freunde warfen uns teilweise interessierte, teilweise seltsame Blicke zu. Einzig und alleine Aron schaute mich freundlich an, was er so oft tat, dass ich wettete, es war sein normaler Gesichtsausdruck, und winkte. Schnell versuchte ich genauso nett zurück zu sehen, war mir aber nicht ganz sicher, ob es funktioniert hatte.
„Hey", nuschelte ich etwas und blieb stehen. „Ist was?", fragte ich dann und sah ihn skeptisch an. Seine Augen waren wirklich fesselnd. Sie erinnerten mich, an das Meer. Ja, sie waren atlantikblau und ich musste mich wirklich zusammenreißen, ihn nicht die ganze Zeit anzustarren.
„Ich dachte, wir könnten vielleicht jetzt zusammen ins Bellas gehen und dort mit Bio anfangen", schlug er vor und ich war überrascht von mir, dass ich mir ein enttäuschtes Seufzen unterdrücken musste. Unterbewusst hatte ich gehofft, er würde einen anderen Grund nennen, als das Lernen.
Kurz grübelte ich, da dann mein Vorhaben, meine Mutter zu besuchen, wohl nichts werden würde. Ich werde es nachholen, sagte ich mir in Gedanken und willigte dann in Collins Angebot ein. So hatte ich es wenigstens hinter mir, auch, wenn es mit Sicherheit nicht nur einmal ein Treffen geben würde.
Nebeneinander machten wir uns auf den Weg, zu dem kleinen Café in der Stadt. Etwas neugierig war ich schon, da ich noch nie wirklich dort gewesen war. Ein paar Mal habe ich es von außen gesehen, aber das konnte man auf keinen Fall zu einem ‚Besuch' zählen. Normalerweise war es der Treffpunkt für die meisten beliebten Leuten, was auch der Grund war, weshalb ich mich noch nie herein getraut hatte. Offensichtlicher Weise gehörte ich nämlich nicht zu dieser Gruppe.
Fröstelnd vergrub ich mein Kinn in meiner Jacke und ballte die Hände in meinen Taschen zu Fäusten. Heute war es mal wieder sehr kalt und Schnee wollte immer noch keiner vom Himmel fallen.
Plötzlich durchbrach Collins Stimme die Stille: „Ich weiß, es geht mich nichts an, aber darf ich fragen, wieso du nach Unterrichtsschluss immer so lange brauchst, um aus der Schule zu kommen?" Neugierig sah er mich von der Seite an und ich spürte, wie mir etwas warm um die Nasenspitze wurde, da es mir peinlich war. Am liebsten hätte ich ‚nein' geantwortet, aber das schien mir recht unhöflich, schließlich hatte ich mir ja vorgenommen, mich in dieser Hinsicht zu bessern und wahrscheinlich würde es suboptimal für die Nachhilfe sein, wenn ich weiterhin so unfreundlich zu ihm war.
„Mir sind einfach zu viele Menschen auf den Gängen. Deswegen warte ich immer bis die meisten weg sind und gehe dann erst raus", antwortete ich und sah dabei gebannt auf den Weg vor mir. Es war mir sehr unangenehm, weil ich wusste, dass er es nicht verstehen würde. Schließlich machte für ihn eh jeder Platz, so zum Thema: Oh, der gut aussehende Fußballgott kommt. Wir dürfen ihn nicht beim Laufen behindern.
Etwas unverständlich in meinen Augen, weil er auch nur ein Mensch war, aber wenn es die anderen glücklich machte, dann sollten sie es halt tun. Mir war es sowieso egal.
Collin wendete seinen Blick wieder von mir ab und nickte. „Verstehe", meinte er, was ich jedoch stark bezweifelte.
„Aron hat mir gestern erzählt, dass du in einer kleinen Pizzeria bei ihm um die Ecke arbeitest. Santiago's oder so. Stimmt das?"
Überrascht schaute ich ihn nun doch an und zog die Augenbrauen hoch. Versuchte er gerade so etwas wie Smalltalk?
Stockend nickte ich und verbesserte ihn: „Ja, stimmt. Aber es heißt Santiano's."
Den restlichen Weg schwiegen wir, was man als unangenehme Stille hätte betrachten können. Der Smalltalk fiel also doch aus. Allerdings war ich das gewohnt, da man mit mir meistens kein richtiges Gespräch führen konnte.
**
Nach zehn Minuten Fußmarsch tauchte das kleine Café vor uns auf. Von außen sah es relativ modern aus. Große, bodentiefe Fenster gewährten einen Einblick in das Innere des Ladens. Staunend blieb ich stehen und beobachtete die Menschen, die an den kleinen, runden Tischchen saßen und sich unterhielten. Es wirkte sehr idyllisch und ich schimpfte mich selber, noch nicht hier gewesen zu sein.
„Kommst du oder willst du lieber weiter die Leute stalken?" Collin hielt mir schmunzelnd die Tür zum Café auf und ich beeilte mich, hinein zu huschen.
Eine angenehme Wärme empfing mich und ließ langsam wieder meine Finger auftauen. Von der Tür führten zwei kleine Treppenstufen hinauf zu den Tischen. Der Geruch von gerösteten Kaffeebohnen und Schokolade betäubte meine Sinne und ließ meinen Bauch knurren.
Während ich zu einem freien Platz lief, der sich ganz an der Wand befand, sah ich mich weiter beeindruckt um. Es wirkte sehr stilvoll eingerichtet und überall im Raum standen die verschiedensten Pflanzen auf Brettern, die an der Wand befestigt waren, herum. Sofort fühlte ich mich hier wohl und konnte nachvollziehen, wieso die Beliebten immer hier herkamen.
Auch jetzt entdeckte ich ein paar bekannte Gesichter und setzte mich schnell auf einen der zwei freien Stühle, damit ich weniger auffiel. Meine Jacke hängte ich an die Stuhllehne und betrachtete fasziniert das Blümchen, das in der Mitte des runden Tisches stand.
„Wie ich sehe gefällt es dir hier", stellte Collin mit einem Grinsen fest, was mir Hitze in die Wangen steigen ließ. Auch er hatte sich von seiner Jacke entledigt und nahm die farblich zur Einrichtung passende Karte in die Hand, die auf dem Tisch gelegen hatte.
Sein Sweatshirt war in der gleichen Farbe wie seine Augen, was ihn noch schöner wirken ließ, als er ohnehin schon war.
Plötzlich kam ich mir seltsam vor, hier mit ihm zu sitzen.
„Ja, es ist sehr gemütlich."
Langsam versuchte ich nicht mehr so auffällig im Raum herum zu glotzen, sondern warf neugierig einen Blick auf die zweite Karte, die direkt vor mir lag. Es gab hier wirklich alles, was man sich von einem Café wünschte. Verschiedenste Kuchen, Torten und Muffins, diverse Heiß- und Kaltgetränke und noch ein paar andere Köstlichkeiten.
Etwas hin- und hergerissen überlegte ich, ob ich mir etwas bestellen sollte, da mich ein paar Dinge wirklich ansprachen.
„Und? Was gefunden?", fragte Collin und legte seine Liste mit den Spezialitäten bei Seite.
Nickend tat ich es ihm gleich, faltete dann meine Hände vor mir zusammen und stützte meine Arme auf dem Tisch ab.
„Ich werde eine heiße Schokolade nehmen", teilte ich ihm etwas schüchtern mit. Es war mir unangenehm, da man es wahrscheinlich von mir erwartet hatte, weil ich nicht so dünn, wie Vivienne war, was sie mir ständig unter die Nase rieb. Auf Essen hatte ich zumindest verzichtet, da ich nicht noch mehr diese Vorstellung einer "immer Essenden", die Collin wahrscheinlich schon von mir hatte, bekräftigen wollte.
Etwas skeptisch warf mir der Junge einen Blick zu, wobei er seine Augen zusammenkniff. „Sicher, dass das alles ist?", hakte er nach und legte dann seinen Kopf schief.
Als ich beschämt nickte, zuckte er nur mit den Schultern und hob eine Hand, sodass direkt ein Kellner zu uns geeilt kam.
„Was darf ich Ihnen bringen?", fragte er uns höflich und hielt seinen Zettel und einen Stift bereit, um mitzuschreiben.
„Für mich einen schwarzen Kaffee, ein Stück von der Schwarzwälder-Kirsch-Torte und eins von dem Apfelkuchen und für meine Begleitung eine heiße Schokolade, bitte." Etwas verständnislos sah er gegen Ende zu mir und man konnte erahnen, dass der Blick meiner mickrigen Bestellung galt.
Überrascht schaute ich ihn an, da ich nicht erwartet hätte, dass er gleich zwei Kuchenstücke orderte. Irgendwie machte es ihn aber auch sympathischer, da es mir das Gefühl des Unwohlseins, was meinem Aussehen geschuldet war, etwas nahm.
Er ließ sich nicht weiter an meinem Blick stören und meinte nur: „Das Zeug hier ist gut."
Leicht kicherte ich, was wahrscheinlich an der ausgelassenen Stimmung lag, die hier im Café herrschte, und bemerkte, dass er mich erstaunt dabei beobachtete. Sofort hörte ich damit auf. „Stimmt was nicht?"
„Nein nein, alles gut. Es ist nur...", er brach mittendrin ab und sah mich an.
Unwohl rutschte ich auf meinem Stuhl herum. „Es ist nur?", fragte ich und bedeutete ihm, dass er weiterreden sollte.
„Ich habe dich noch nie lachen gehört." Seine Augen bohrten sich in meine und ich konnte nicht anders, als die Tiefe des Blaus zu bewundern. Sie übten eine unglaubliche Anziehung auf mich aus und ich unterbrach den Blickkontakt erst, als mein Gesicht sich aufheizte. Nervös blinzelte ich ein paar Mal und betrachtete das kleine Blümchen zwischen uns.
„Wir kennen uns ja auch nicht", merkte ich an und zuckte mit den Schultern. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, dass er mich die letzten Jahre überhaupt nicht wahrgenommen hatte und erst seit kurzem wusste, dass ich existierte und das auch nur durch Mr Gibbels.
„Ja, stimmt. Das tun wir nicht." Auch er ließ nun seine Augen woandershin gleiten und lächelte etwas. „Aber das kann sich ja noch ändern."
Gerade wollte ich etwas dazu sagen, als unsere Bestellung kam und der junge Mann uns jedem die gewünschte Speise hinstellte. Mit einem, „Guten Appetit", wendete er sich von uns ab und ging wieder seiner Arbeit nach.
Ich beschloss, es einfach sein zu lassen und erinnerte mich an die Nachhilfe. „Wir wollten doch Bio machen", meinte ich und unterbrach Collin damit beim Essen.
Mürrisch schaute er von seiner Torte auf und seufzte. „Stimmt." Schnell steckte er sich noch ein Stück Schwarzwälder-Kirsch in den Mund und bückte sich dann zu seinem Rucksack, aus dem er ein grünes Heft und eine dazu passende Mappe zog. Die Sachen legte er mir vor die Nase und widmete sich wieder seinem Essen.
Prüfend blätterte ich seine Unterlagen durch. „Womit willst du anfangen?", fragte ich dann und sah ihn abwartend an.
„Das von letzter Stunde würde ich sagen. Dieses komische, neue Zeug." Mit seiner freien Hand, in der nicht die Gabel für die Torte war, die er unbeirrt weiter aß, blätterte er ein paar Seiten in seinem Heft um und zeigte dann mit einem Finger auf das letzte Geschriebene.
Langsam nickte ich. „Okay, Genetik also. Weißt du, was das ist?"
„Ja, schon. Aber erklär einfach nochmal", antwortete er und sah mich halbwegs aufmerksam an, als ich mit dem Erzählen begann.
**
Nach ungefähr anderthalb Stunden waren wir soweit fertig und außerdem musste Collin zum Fußballtraining. Zusammen verließen wir das Café, nachdem er, zu meiner Verwunderung, die Rechnung übernommen hatte.
„Soll ich dich noch nach Hause begleiten?" Er sah mich fragend an und lächelte dann charmant. Es war die Art von Lächeln, bei dem jedes Mädchen ganz weiche Knie bekam, so auch ich.
„Äh, nein. Passt schon, aber danke", entgegnete ich und bemühte mich um einen halbwegs normalen Tonfall, da ich das Gefühl hatte, meine Stimme könnte jeden Augenblick versagen.
„In welche Richtung musst du?", wollte er wissen und holte sein Handy heraus, um auf die Uhr zu schauen.
„Nach da." Ich zeigte links die Straße entlang, in der gerade ein verliebt aussehendes Pärchen Händchen haltend entlang lief und konnte nicht anders, als die beiden kurz zu beobachten.
Collin nickte nur. „Okay, ich muss in die andere. Dann sehen wir uns morgen." Damit drehte er sich um und verschwand ohne ein weiteres Wort hinter der nächsten Ecke.
Etwas verdattert stand ich da und sah ihm hinterher. Irgendwie war das ein sehr kühler Abschied, was mich auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Der Tag heute mit ihm war zwar schön gewesen, aber das musste noch lange nichts heißen. Mal wieder war ich zu voreilig mit meinen Gedanken gewesen, was mich nun ärgerte.
Langsam drehte ich mich um, schlug mir Collin aus dem Kopf und machte mich auf den Nachhauseweg.
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