Kapitel 5
Als ich nach Hause kam, ging ich auf direktem Weg in mein Zimmer und warf mich mit ausgebreiteten Armen rückwärts auf mein Bett. Was war das heute nur für ein komischer Tag gewesen?
Während der Busfahrt hatte ich nochmals über mein und Collins Gespräch nachgedacht und hätte mir am liebsten selbst eine geklatscht. Wieso war ich so extrem unfreundlich gewesen? Immerhin hatte er mir bisher nie irgendwas getan, an das ich mich erinnern konnte. Okay, vielleicht hatte er ein paar Mal über mich gelacht, als Vivienne mich mal wieder vor unzähligen Schülern bloßgestellt hatte, aber abgesehen davon fiel mir nichts ein.
Mies gelaunt drehte ich mich auf die Seite und zog meine Beine an mich.
Da hatte ich einmal die Möglichkeit, mit Collin Ellis zu reden und natürlich musste ich das versauen. Dabei hatte ich mir das schon so lange gewünscht. Schließlich war ich auch nur ein Teenie Mädchen und wie es mein Freund, das Schicksal, wollte, gab es da einen Teil in mir, der den schönsten Jungen der Schule anhimmelte, so wie es jedes andere Mädchen auch tat. Schließlich musste es ja so sein, sonst wäre mein Leben nicht sowieso schon schlimm genug.
Noch eine Weile lag ich so da und dachte nach. Hauptsächlich darüber, wieso ich meistens so unfreundlich zu Leuten war, die beliebt waren oder die ich nicht kannte. Dabei versuchte ich mich nur von meinen anderen Gedanken abzulenken, die mich meistens einnahmen, wenn ich alleine war. Diese Art von Gedanken, die mich fertig machten, mir meine letzte Kraft raubten und meine Welt in ein schwarzes Tuch hüllten.
Denn eigentlich wusste ich genau, wieso ich vorhin so reagiert hatte. Über die Jahre hinweg hatte ich mir eine Schutzmauer aufgebaut, die mich und meine Gefühle vor der Welt da draußen schützen sollte. Ein Teil dieser Barriere war eben, so unfreundlich zu anderen Menschen zu sein und sie nicht zu nahe, beziehungsweise überhaupt nicht an mich heranzulassen, um nicht verletzt zu werden.
Denn immer, wenn man jemandem zu sehr vertraute und ihn in sein Leben ließ, wurde man verletzt. Man konnte rein gar nichts dagegen tun, außer den Kontakt gar nicht erst zuzulassen. Irgendwann verließen sie einen nämlich sowieso und dann würde einem nichts anderes bleiben als Schmerz, Trauer und das Gewissen, dass die einst so schönen Erinnerungen und Erlebnisse, die man mit dieser Person verband, für immer Vergangenheit waren und niemals zurückkommen würden.
Mit einem Stöhnen richtete ich mich auf und warf einen Blick auf meinen Wecker, der einsam auf meinem Nachtisch herumstand. In einer Dreiviertelstunde müsste ich in der kleinen Pizzeria sein, in der ich an zwei Tagen in der Woche arbeitete, um mir etwas Geld dazuzuverdienen. Ich sehnte schon den Tag nach meinem Abschluss herbei, an dem ich endlich aus dieser Kleinstadt verschwinden konnte.
Mit einem neuen bisschen Motivation stand ich von meinem Bett auf und packte mein Handy und meinen Geldbeutel in jeweils eine Hosentasche. Dann machte ich mich auf den Weg nach unten und verließ, ohne etwas gegessen zu haben, das Haus.
**
Nach einem circa 25 minütigen Fußmarsch hatte ich es endlich geschafft und flüchtete mich nach drinnen in die Wärme. Der mittlerweile schon vertraute Geruch von Pizza und frischem Basilikum empfingen mich und heiterte meine trübe Stimmung direkt ein wenig auf.
„Ah, da bist du ja Alenia", begrüßte mich Gabriella, die etwas rundliche Besitzerin des Santiano's, mit einem herzlichen Lächeln. Mittlerweile kannte ich sie schon seit fast zwei Jahren und sie war eine der wenigen Personen, die ich in mein Herz geschlossen hatte.
„Komm rein, komm rein. Du erfrierst ja noch. Mamma Mia, ist das kalt!", meinte sie mit ihrem italienischen Akzent und schloss schnell die Tür hinter mir. Meine Züge entspannten sich etwas und ein kleines Lächeln machte sich auf meinen Lippen breit.
„Ich muss dir unbedingt jemanden vorstellen", plapperte sie begeistert drauflos und zog mich regelrecht mit hinter in die Küche.
Dort angekommen entdeckte ich ein fremdes Mädchen, das ungefähr in meinem Alter sein musste. Es hatte dunkelbraunes, mittellanges Haar, welches etwas struppig war, und gebräunte Haut.
„Das ist meine Tochter, Francesca. Sie lebt jetzt bei mir und hilft uns hier in der Pizzeria aus."
Stolz präsentierte sie mir ihr Kind und unwillkürlich versteifte ich mich etwas. Unsicher, wie ich reagieren sollte, war ich froh, als sie den ersten Schritt machte und freudig mit ausgebreiteten Armen auf mich zu gelaufen kam.
„Hallo, ich find's schön dich endlich mal persönlich zu treffen. Meine Mama hat mir schon viel über dich berichtet", erzählte sie strahlend und schloss mich in eine herzliche Umarmung.
Perplex stand ich nur da und meine Reaktion kam eindeutig verspätet. Leicht legte ich meine Hände auf ihren Rücken und lächelte sie an. Langsam hatte ich das Gefühl, als wäre so eine offene und freundliche Art typisch für Italiener. Schon Gabriella hatte mich damals sofort umarmen wollen und war ganz aufgeregt gewesen, mich kennenzulernen.
„Nur Gutes", stellte die ältere Dame lachend klar und hob ihren Zeigefinger. „Ach, ich sehe schon, ihr werdet euch verstehen. Meine zwei Mädchen, ist das schön." Ihr Blick glitt erst zu ihrer Tochter und dann zu mir, ehe sie sich umdrehte und guter Dinge hinaus in das Restaurant schritt.
Mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt, dass sie mich so nannte, ihr Mädchen. Anfangs hatte es mich ziemlich verwirrt und es war mir unangenehm gewesen, da, bis auf meine Mutter, niemand so liebevoll mit mir umgegangen war, wie sie es jetzt tat. Manchmal hatte ich das Gefühl, als hätte sie einen Teil von mir aufgenommen und war sozusagen eine Ersatz-Mutter, wobei ich meine Mum niemals durch irgendjemanden ersetzten könnte.
„Du gehst doch auch auf die Stonebridge, oder?", riss mich Francesca aus meinen Gedanken.
Schnell nickte ich und meinte nur: „Ja." Gespräche waren noch nie meine Stärke gewesen und würden es wahrscheinlich auch niemals sein.
„Wie toll", freute sich das Mädchen. „Ich werde auch dort hingehen, morgen dann. Eigentlich sollte ich schon am Montag kommen, aber mein Flug wurde gestrichen, weswegen sich das ganze etwas verschoben hat", berichtete sie mir und strahlte mich noch immer an. „Oh nein, wie unhöflich von mir. Wahrscheinlich wolltest du dich erstmal umziehen und ich halte dich hier mit meinem Gequatsche davon ab." Sie schüttelte ihren Kopf und sah auf den Boden.
„Ach, alles gut. Wenn du möchtest, könnte ich dir morgen die Schule zeigen", bot ich ihr lächelnd an und ging langsam Richtung Umkleiden. Ich kam mir etwas schlecht vor, dass sie sich meinetwegen entschuldigte, obwohl sie das nicht gebraucht hätte. Ihre Art war mir irgendwie sympathisch, soweit ich das bisher beurteilen konnte, und wahrscheinlich hätte man sich sehr gut mit ihr unterhalten können, wenn man nicht, wie ich, zu inkompetent dafür wäre.
Aus einem Impuls heraus nahm ich mir vor, mich bessern zu wollen und sie nicht direkt zu vergraulen, so wie sonst immer alle. Dazu schien sie mir zu nett zu sein.
„Das würdest du tun? Danke, sehr nett von dir", freute sie sich und lächelte mir nochmals zu, ehe ich in dem kleinen Haushaltsraum verschwand, in dem ein paar Spinde waren, die als Aufbewahrungsort für die Schürzen und Blusen dienten, die man bei der Arbeit tragen musste.
Routiniert suchte ich meine Kleidung heraus und tauschte sie gegen meinen Pullover und die Jacke ein. Meine Jeans behielt ich an und zog dann die Schürze über. Nachdem ich meine verknoteten Haare zu einem kleineren Zopf im Nacken zusammengebunden hatte, verließ ich mit einem letzten Blick in den Spiegel die Umkleide und begab mich hinaus in den vorderen Teil des Restaurants, in dem auch Gabriella und Francesca waren. Unterwegs begegnete ich Giovanni, dem Koch, und grüßte ihn.
Als ich vorne ankam, saßen bereits die ersten paar Gäste an einem der gemütlichen, runden Tischchen, die überall im Raum verteilt standen. Schnell nahm ich mir einen der kleinen, weißen Blöcke und dazu einen Kugelschreiber. Nachdem ich die Bestellung einer Familie aufgenommen hatte, kam ich zurück und gab den Zettel an Giovanni weiter.
„Es ist echt toll hier", meinte Francesca, die sich unbemerkt neben mich gestellt hatte.
Ich nickte nur und sah nach vorne in das Restaurant. Die Kerzen, die auf jedem Tisch standen, warfen ein schummriges Licht in den Raum, welches zur angenehmen Atmosphäre beitrug.
„Wie lange arbeitest du schon hier?", fragte mich das Mädchen und schaute mich interessiert an.
„Seit fast 2 Jahren", entgegnete ich und versuchte zu lächeln.
„Oh wow, das ist schon eine ganze Weile. Dafür, dass du erst 16 oder 17 bist", staunte sie und sah mich mit großen Augen an.
„Ich bin 17 und ja, es ist was. Aber ich würde es immer wieder tun, vor allem weil deine Mum echt nett ist." Etwas erstaunt von mir selbst, dass mir doch tatsächlich das Reden mit ihr nicht schwerfiel, freute ich mich.
Sie nickte nur und lächelte. „Ja, das ist sie. Vorher habe ich ein paar Jahre bei meinem Papa in Italien gewohnt, aber sie hat mir doch zu sehr gefehlt, weißt du? Die wenigen Male, die ich sie im Jahr gesehen habe, waren einfach nicht genug."
Als sie mit den Schultern zuckte, ertönte von vorne her ein Klingeln und ich nickte ihr noch kurz zu, ehe ich mich auf den Weg dorthin machte. Ein Blick in Richtung Theke genügte, dass ich am liebsten wieder umgedreht wäre.
„Hey", begrüßte mich Aron, der beste Freund von Collin, überrascht und sah sich hier um. „Ich wusste gar nicht, dass du hier arbeitest."
Freundlich lächelte er mich an und sofort kam ich mir schlecht vor, dass ich nur wegen Collin gerade auch keine Lust auf ihn hatte. Wir waren im selben Deutschkurs und eigentlich schien er ganz nett zu sein.
„Tja", meinte ich nur, hielt meinen Block und einen Stift bereit und wartete, dass er bestellte. „Was darf's sein?"
„Oh, äh, natürlich. Eine Margherita und eine Salamipizza zum Mitnehmen", sagte er und schaute von oben auf meinen Zettel, als ich alles aufschrieb.
„20 Minuten", informierte ich ihn, ging dann nach hinten, um die Bestellung weiterzugeben und kam mit einer kleinen Nummer, die ich Aron gab, wieder zurück.
„Danke", antwortete er mit einem Lächeln und ich wollte mich gerade abwenden und gehen, als er weiter sprach. „Ich hoffe, die Pizza ist gut und ich kann sie meinem Date servieren."
Langsam drehte ich mich wieder zu ihm und entgegnete: „Das ist sie. Die Beste, die du hier finden kannst."
Er lachte kurz. „Ich hoffe, das sieht er auch so", meinte er und sah mich an.
Wahrscheinlich hatte er meinen leicht verwirrten Blick bemerkt, denn sofort klärte er mich auf. „Ich bin schwul, wusstest du das etwa nicht?" Amüsiert betrachtete er mich und ich kam mir wirklich dumm vor.
Leicht beschämt schüttelte ich den Kopf. „Nein, sorry", entschuldigte ich mich und sah etwas nach unten.
„Ach was, dafür doch nicht." Er machte eine abfällige Geste und lächelte mir zu. „Woher solltest du auch." Dann schien er kurz zu überlegen, nur um wenig später zu fragen: „Du bist Alenia, richtig?"
Schnell nickte ich und war überrascht, dass er meinen Namen kannte. Langsam hatte ich das Gefühl, als wäre es so ein ungeschriebenes Gesetz, dass schwule Jungs viel freundlicher waren, als die anderen. Obwohl ich mir noch nicht ganz sicher war, ob es nicht nur gespielt war.
„Wahrscheinlich hat Vivienne schon genügend über mich erzählt", entfuhr es mir, was mich selbst erschreckte. Verlegen sah ich ihn mit aufgerissenen Augen an und wandte dann meinen Kopf ab.
„Ach, diese alte Zicke."
Überrascht blinzelte ich ihm entgegen und konnte nicht so ganz glauben, was ich gerade gehört hatte. Ich dachte immer, alle würden sie vergöttern!
„Die macht den Mund auf und am liebsten würde man ihn ihr direkt wieder zukleben!" Genervt verdrehte er die Augen und schüttelte leicht den Kopf. „Lass dich nicht zu sehr von dem, was sie sagt runterziehen. So ist sie einfach. Sie hat ein schlechtes Herz und daran sollte man sich kein Beispiel nehmen", klärte er mich auf, was nur noch mehr zu meiner Verwunderung beitrug.
Als Francesca seine Pizzen brachte, bezahlte er, lächelte mir nochmal zu und verließ dann gut gelaunt das Restaurant.
Verwirrt starrte ich ihm hinterher und spürte, wie meine Mundwinkel etwas nach oben rutschten. Vielleicht waren ja doch nicht alle beliebten Menschen so gemein, wie ich immer dachte.
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