Kapitel 37

Ein immer lauter werdendes Klingeln holte mich zurück ins Hier und Jetzt. Benommen öffnete ich meine Augen ein wenig und stellte fest, dass Collin bei mir Zuhause Sturm klingelte. Im Flur wurde nun eine Lampe angeschaltet, die durch den Glasstreifen in der Tür einen schmalen Lichtkegel auf die weißen Turnschuhe des Blonden warf.

Mein Kopf dröhnte, als würde ein Ghettoblaster mir Heavy Metal in die Ohren schmettern. Stöhnend versuchte ich mich in Collins Armen etwas aufzurichten, was mir jedoch kläglich misslang.
„Shh, alles gut", flüsterte er in meine Haare, wobei er gebannt auf die Tür starrte. Wieder klingelte er länger als nötig gewesen wäre.
„Ja-ha, mein Gott, ich komm doch schon!", hörte man meinen Bruder hinter der Tür motzen, als sie gerade dabei war, sich schwungvoll zu öffnen.

„Luca!" Ohne zu warten versuchte Collin sich seitlich durch die Tür zu quetschen. „Ich brauche deine Hilfe!"
Verwirrt stand mein Bruder da, schaute mich aus seinen braunen Augen geschockt an und brauchte einen Augenblick, um zu reagieren. „Was... ist passiert?", fragte er dann und schloss eilig die Haustür hinter uns.
Ich war Collin mehr als dankbar, dass er nicht antwortete und so tat, als hätte er die Frage überhört.

„Dad!", schrie Luca in solch einer Lautstärke durch das Haus, dass ich Angst hatte, die Wände könnten einstürzen, während er uns gleichzeitig Richtung Couch dirigierte. „Man, da braucht man diesen Typen einmal und er lässt sich wieder nicht blicken!", nuschelte er. „Dad! Beweg deinen scheiß Arsch hierher!"

Collin bettete mich unterdessen auf die weichen Polster und streifte mir meine Sneaker von den Füßen. Liebevoll strich er mir über den Kopf und ließ sich neben die Couch auf die Knie sinken. „Es wird alles gut, du wirst wieder", flüsterte er mir zittrig ins Ohr, wobei ich mir nicht so sicher war, ob es mich oder doch ihn beruhigen sollte.

„Was ist denn?", hörte ich die raue Stimme meines Vaters, die von einem rhythmischen Schlurfen begleitet wurde.
Augenblicklich erhob sich Collin vom Fußboden und blickte mit malmendem Kiefer Richtung Flur.
„War ja klar", flüsterte Luca, während er sich genervt über die Augen strich. „Was soll das?", fuhr er im nächsten Moment meinen Vater an.
Wäre ich nicht so schläfrig gewesen, hätte ich mir gewünscht im Erdboden zu versinken, doch nun war es mir fast egal.

„Was hast du da bitte an?" Abfällig ließ Luca seinen Blick über Dad wandern. Von seinen verwuschelten, etwas zu langen Haaren, über den Bademantel, hin zu seinen Schlappen. „Wie lange warst du schon wieder in deinem Arbeitszimmer? Ein Tag? Zwei? Oder drei? Ach, ich will's gar nicht wissen! Es gibt jetzt Wichtigeres. Also reiß dich zusammen!"

Bei diesen Worten rieb mein Vater sich müde über die Augen und atmete tief durch, wobei ihm ein Seufzen entwich.
„Wir müssen einen Krankenwagen rufen", meinte Collin plötzlich und griff nach seinem Handy.
Mein Vater hielt mitten in der Bewegung inne und blickte ihn mit zusammengezogenen Brauen an. „Was?" Die Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Hastig stolperte er zur Couch und erstarrte für einen Augenblick, als er meine Finger entdeckte, die aus meinen Ärmeln herausragten.

„Wieso... Wieso hast du Blut an den Händen? Hast du dich verletzt?", wollte er wissen, trat um die Lehne herum, wobei Collin ihm ausweichen musste, und beugte sich über mich. Es war, als wäre er soeben aus seiner Starre erwacht und nun wieder ganz in seinem Element als Arzt.

Routiniert tastete er meinen Oberkörper und meine Beine ab und wartete auf eine Regung meinerseits, die jedoch ausblieb. Ich fühlte mich zu schwach, um auch nur irgendeinen Teil meines Körpers großartig zu bewegen, während mein Atem viel zu schnell war. Er hatte sich fast gänzlich meinem Herzschlag angepasst, der mir noch immer im Kopf dröhnte.
Trotz der Tatsache, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte und es mich immense Anstrengung kostete, die Augen offen zu halten, war mir die ganze Situation und der Trubel, der meinetwegen herrschte, extrem unangenehm. 

Ohne mich weiter abzusuchen drehte mein Vater sich zu Collin und rief: „Keinen Krankenwagen!"
Verwirrt ließ der Blonde sein Handy sinken. „Aber..."
„Tragt sie ins Auto! Ich fahre, so sind wir schneller." Seine Anordnung war unmissverständlich und endgültig. Sie ließ keinen Raum für Diskussionen. Ich war mir sicher, dass er so auch im OP dirigierte.

Collins Blick wurde fest und er nickte knapp. Mein Bruder schien das ebenfalls für eine gute Idee zu halten, denn er verschwand augenblicklich in Richtung Garderobe.
Eine Schweißperle lief mir quälend langsam die Schläfe hinab. Zittrig wischte ich sie weg und versuchte, mich langsam aufzurichten. In meinem Kopf drehte sich alles und das unangenehme Piepen, das ich schon die ganze Zeit leise im Hintergrund vernommen hatte, begann erneut anzuschwellen. Angestrengt kniff ich die Augen zusammen und drückte mit den Fingern gegen meine Stirn.

Plötzlich legte sich eine große, warme Hand an meine Seite und half mir, gerade zu sitzen.
„Hey", Collin kniete sich vor mir nieder, „Alles okay? Kannst du aufstehen?" Ich nickte, wohlwissend, dass ich vermutlich eher hätte verneinen sollen. Aber da ich schon genug Anstrengung verursachte, wollte ich wenigstens das hier alleine machen und den anderen nicht noch mehr zur Last fallen.

Deshalb biss ich die Zähne zusammen und stemmte mich in die Höhe. Einen Moment lang fühlte es sich so an, als würde das Wohnzimmer seine Gestalt verlieren und die Farben und Formen ineinander verschwimmen. Ich wackelte und war froh, über Collins Schulter, an der ich mich abstützen konnte.
„Alenia", begann er und richtete sich auf, wobei er darauf achtete, dass er mir weiterhin Halt bot. „Das kann man ja nicht mit ansehen. Lass mich dir helfen, bitte."

Ohne auf eine Antwort zu warten, schlang Collin die Arme um mich und hob mich hoch. Beschämt vergrub ich meinen Kopf an seinem Hals. „Tut mir leid", flüsterte ich an sein Ohr und konnte nicht verhindern, dass mir eine Träne die Wange hinunterlief.

„Nein, mir tut es leid", gab er genauso leise zurück und machte sich auf zur Haustür, vor der mein Vater schon ungeduldig im Auto wartete und erleichtert schnaufte, als der Blonde mich sanft auf den Rücksitz gleiten ließ, sich daneben. Vorsichtig beugte er sich über mich und schnallte mich an.

Mit einem Nicken in den Rückspiegel gab er meinem Vater zu verstehen, dass wir nun soweit waren, was dieser sich nicht zweimal sagen ließ. Mit quietschenden Reifen bretterte er aus unserer Auffahrt hinaus auf die Straße, als wären wir die einzigen Verkehrsteilnehmer, was zu dieser Uhrzeit vermutlich gar nicht so abwegig war. Er raste die Straßen mit beeindruckender Sicherheit entlang, als wäre er in seinem vorherigen Leben Rennfahrer gewesen.

Innerhalb einer Viertelstunde erreichten wir das Krankenhaus, wo mein Dad direkt vor dem Eingang hielt, um uns rauszulassen. Da ich mittlerweile schon etwas mehr bei Kräften war, stieg ich selbstständig aus dem Auto aus. Allerdings hielt diese Eigenständigkeit nur so lange, bis Collin meinen Arm nahm und über seinen Nacken schwang, sodass er mir beim Laufen behilflich sein konnte.

Luca spurtete voraus und verschwand zwischen den Schiebetüren, wo er direkt auf die Rezeption zu hastete. In mir stieg ein mulmiges Gefühl auf, da mir erst jetzt richtig bewusst wurde, dass ich dem Arzt vermutlich meine Verletzungen erklären musste.

Mit gesenktem Kopf betrat ich den geräumigen Empfangssaal. Sofort kamen mir wieder die Bilder meiner Mutter in den Kopf, wie sie schlafend an Dutzenden Maschinen hing.

„Wir... Wir brauchen einen Arzt!", erklärte Luca unterdessen einer vorbeilaufenden Krankenschwester.
Collin drängte mich vorsichtig zu den beiden hin, sodass die Frau wusste, von wem die Rede war. Als ich aufschaute, begegneten sich unsere Blicke und mir entging nicht das kurze Zucken ihrer linken Augenbraue. Sie sah verwirrt aus und musterte mich nun von oben bis unten.
„Klar", entgegnete sie mit einem Hauch Sarkasmus, lief aber zielgerichtet auf einen Arzt zu, der in dem Moment eilig in einen der abzweigenden Flure verschwinden wollte. Ich ignorierte die beiden.

„Du kannst mich loslassen, Collin."
Meine Hand, die über seiner Schulter hing, wurde schon langsam taub und außerdem war ich kein Pflegefall. Ich konnte alleine stehen.
Nach kurzem Zögern kam er meiner Bitte nach und trat einen Schritt zurück.

„Wie kann ich helfen?", ertönte im nächsten Moment eine tiefe Stimme.
„Naja, also..." Unsicher blickte der Blonde zu mir. Ich war ihm dankbar, dass er es nicht aussprach, dennoch wäre ich am liebsten von einem schwarzen Loch verschluckt worden.

Nachdem ich den dicken, fetten Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte, heruntergeschluckt hatte, streckte ich zittrig meine Arme aus und zog erst einen, dann den anderen Ärmel nach hinten. Der Stoff hatte sich mittlerweile so an meine Wunden gehängt, dass ein paar erneut das Bluten anfingen, als ich sie entblößte.
Beschämt starrte ich auf den Boden. Es war kein schöner Anblick und wenn ich könnte, hätte ich es wieder rückgängig gemacht.

„Hol bitte eine Liege, Ina", dirigierte der Arzt. Schnell nahm ich meine Arme wieder runter und stülpte meine Ärmel darüber.
„Nein, nein, nein! Lass die Ärmel oben!" Der Grauhaarige, ältere Mann legte mir eine Hand auf den Rücken und schob mich nach vorn, am Empfang vorbei und in einen Flur, dessen grell leuchtende Neonröhren mir Kopfschmerzen bereiteten. Collin wich mir dabei keinen Meter von der Seite, immer bereit, falls ich wieder zu schwach wurde.

„Was passiert jetzt mit ihr?", wollte er wissen und blickte sich nach Luca um, der an der Rezeption stehen geblieben war, um auf unseren Vater zu warten.
„Erstmal müssen wir die Wunden säubern und so wie ich das momentan beurteile, sind auch ein paar dabei, die genäht werden müssen. Ich bin mir nicht sicher, wie tief die einzelnen Schnitte sind, deswegen kann ich nicht sagen, wie lange das dauern wird."

Es hörte sich an, als hätte er dieses Prozedere schon hunderte Male durchgeführt, was mich nervös machte. Ich hatte Angst davor, was die Ärzte, die Schwestern und vor allem Collin und meine Familie gerade von mir dachten. Hielten sie mich für schwach? Eine Versagerin? Einen Loser?

Meine Augen wurden feucht und eine einzelne Träne rollte meine Wange hinunter.
„Es tut mir so leid." Ich wusste nicht, wie oft ich diesen Satz heute schon genuschelt hatte. Trotzdem war mir klar, dass es niemals genug sein würde.

Als Ina endlich mit der Liege neben uns auftauchte, bedeutet mir der Arzt, mich darauf zu legen. Stumm folgte ich dieser Anweisung.
„Wir werden dich jetzt erstmal in ein Behandlungszimmer fahren und dann bin ich sofort da, um mich um dich zu kümmern, okay?" Tatsächlich blitzte bei seinen Worten ein beruhigendes Lächeln auf seinem Gesicht auf, was ich mit einem Nicken erwiderte. Damit verschwand er eilig in einen anderen Teil des Flurs und ließ uns drei alleine.

„Es wird alles gut", meinte Collin mit einem sanften Lächeln und umfasste meine Hand mit seiner. Eine angenehme Wärme breite sich in meinem Bauch aus und kurz verlor ich mich in seinen blauen Augen, die in dieser Umgebung noch mehr zu leuchten schienen, als sonst. Sie waren das Einzige, was mich gerade nicht völlig durchdrehen ließen. Der einzige Lichtblick in dieser tristen, erdrückenden Umgebung.
Und für den Moment glaubte ich es. Ich vertraute darauf, dass alles wieder gut werden würde. Dass nach diesem Tag nicht alles anders zwischen Collin und mir war. Dass jeder vergessen würde, was ich heute getan hatte.

„Darf ich mit rein?", wollte der Blonde nun von der Krankenschwester wissen. Wir waren vor einer hellen, doppelflügligen Metalltür angekommen, deren Anblick mich an den Eingang zum OP erinnerte.
„Nein, ich fürchte das geht nicht. Aber sie können hier warten, wenn sie wollen." Die Blondine drückte auf einen Knopf, woraufhin eine der beiden Türhälften sich öffnete und die Sicht auf einen weiteren Gang und noch mehr grelle Neonröhren freigab. Dieses Krankenhaus fühlte sich an, wie ein einziger Irrgarten.

„Aber..." Collin blickte zögernd zu mir hinab und schien zu überlegen. Ich hätte ihm gerne gesagt, dass es in Ordnung war und er einfach nach Hause gehen konnte, doch die Worte schafften es nicht über meine Lippen.
„Na gut, ich warte." Sanft strich er mir ein letztes Mal über den Kopf und lächelte traurig. „Ich werde hier sein, wenn du wieder kommst, versprochen."

Damit trennten sich unsere Hände und ich wurde in den nächsten Gang geschoben, direkt auf das Behandlungszimmer zu.

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