Kapitel 35
„Vergesst nicht, nächste Woche bin ich nicht da", erinnerte uns Mrs Sullivan, nachdem sie den heutigen Sportunterricht für beendet erklärt hatte.
Francesca gab einen stummen Freudenschrei von sich und rüttelte dabei wild an meinem Arm, was Lola mit einem Lachen quittierte.
Schmunzelnd lief ich hinter den beiden aus der Sporthalle heraus und beobachtete, wie sie sich gegenseitig liebevoll neckten.
„Oh, hey Aron!", rief die Italienerin durch den Flur, als wir auf dem Weg zu den Umkleiden auf die Jungs trafen.
Synchron blieben Aron, Sasha und Collin stehen und drehten ihre Köpfe in unsere Richtung. Fröhlich winkte der Braunhaarige uns zu und es dauerte nicht lange, da hatten wir sie eingeholt.
Als sich Collins und mein Blick kreuzten, blieb mein Herz für eine Sekunde stehen. Viel zu viele Gedanken schwirrten mir durch den Kopf und dennoch konnte ich nur an unseren Kuss denken.
„Hey", begrüßte er mich und schenkte mir eines dieser umwerfenden Lächeln.
Verdammt! War ihm überhaupt bewusst, was für eine Wirkung er auf mich hatte? Ich gaffte ihn an, als wäre er ein strahlender Engel, dessen Erscheinung pure Glückseligkeit bedeutete!
Unauffällig rempelte Francesca mich von der Seite an und zog die Augenbrauen nach oben, um mich aus meiner Trance zu befreien.
„Hi", erwiderte ich und räusperte mich im nächsten Moment, da meine Stimme unnatürlich hoch klang. „Hey", verbesserte ich, diesmal in normaler Stimmlage, und konnte förmlich vor meinem inneren Auge sehen, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Nervös schob ich mir eine braune Haarsträhne hinters Ohr und richtete meinen Blick auf den Boden.
Collin bedachte mich mit einem belustigten Lächeln und trat neben mich, sodass wir beide das Schlusslicht der Gruppe bildeten. Lässig schob er die Hände in die Hosentaschen der Jogginghose, die er damals auch getragen hatte, als ich bei ihm übernachten musste, nachdem wir für Bio gelernt hatten. Bei dem Gedanken an den Abend musste ich unwillkürlich lächeln.
„Kommst du nachher nochmal zum Durchgang, wenn du dich umgezogen hast?", fragte er.
Ich brauchte kurz, um zu kapieren, dass er den Glasgang zwischen Schule und Sporthalle meinte, nickte dann aber.
„Perfekt!" Er grinste wie ein kleines Kind und zauberte mir mit seiner Euphorie ebenfalls ein Lächeln auf die Lippen.
Da die Umkleiden nur wenige Meter von der Sporthalle trennten, blieben wir vor der Mädchenumkleide stehen. Die anderen waren bereits hinter den Türen verschwunden.
Unschlüssig blickte ich zu Collin nach oben und lächelte dann. „Bis gleich", meinte ich und hob zum Abschied die Hand.
„Bis gleich", wiederholte er, lief an mir vorbei und winkte mir über seine Schulter zu.
Mit meinen Augen verfolgte ich ihn, bis er außer Sichtweite war. Es wollte mir noch immer nicht in den Kopf gehen, dass Collin Ellis wirklich Interesse an mir zeigte.
Zweifelnd zog ich die Augenbrauen zusammen und entdeckte knapp vor mir einen kleine, weißen Zettel, als ich gerade die Klinke zur Umkleide hinunter drücken wollte. Aus einem Impuls heraus bückte ich mich, hob das Papier auf und schloss meine Hand darum. Es wirkte wie ein zusammengefalteter, winziger Brief, den ich erst selbst lesen wollte, bevor ich ihn jemand zu Gesicht bekam.
Plötzlich trat Vivienne mit einem seltsam freudigen Blick um die Ecke und jagte mir damit einen kurzen Schrecken ein. Ich fühlte mich ertappt und hoffte, dass sie nichts von Collin und mir mitbekommen hatte. Es war zwar kein Geheimnis, aber dennoch wollte ich das mit uns lieber vor ihr verstecken, da ich das Gefühl hatte, sie könnte mir diesen Teil meines Lebens sonst auch vermiesen, so wie sie es immer tat.
Schnell drückte ich die Türklinke der Umkleide nach unten und schlüpfte hinein. Schnurstracks marschierte ich zu meinen Sachen, wo Francesca sich bereits von ihren Sportklamotten entledigte.
„Na du", empfing sie mich mit einem fröhlichen Glitzern in den Augen. „Ich werde nachher noch mit Lola ins Bellas gehen, also wenn du Lust hast mitzukommen, bist du hiermit herzlich dazu eingeladen!"
Schmunzelnd betrachtete ich sie. „Nein, ist schon in Ordnung, aber danke. Collin wollte sich gleich noch kurz mit mir treffen."
Unauffällig ließ ich den Zettel in die Seitentasche meines Rucksacks gleiten und hob dabei meine Schuhe vom Boden auf, die ich zwischen uns auf die klappernde Holzbank stellte.
„Uhh", meine Freundin wackelte anzüglich mit den dunklen Augenbrauen, „Na dann. Er will sich bestimmt gebührend verabschieden." Zweifellos spielte sie damit auf unseren Kuss von Samstag an, was mich zum Augenrollen brachte. Nichtsdestotrotz breite sich bei dem Gedanken daran die Nervosität wie ein Lauffeuer in mir aus.
Als wir zu Dritt die Umkleide verließen, waren wir die Letzten, die noch durch die Gänge irrten. Unsere Schritte auf dem grauen Linoleumboden hallten von den kahlen weißen Wänden wider, genau wie das Kichern meiner beiden Begleiterinnen. Die vereinzelten Leuchtstoffröhren tauchten den Flur in grelles Licht, das einen an Krankenhaus erinnerte.
„Was?! Du warst noch nie in Italien? Glaub mir, einmal in deinem Leben musst du da noch hin, mindestens!" Francesca legte einen Arm um Lola und zog sie beim Laufen ein wenig zu sich heran.
Die Rothaarige lachte. „Werde ich. Aber für den Moment habe ich ja ein Stückchen Italien neben mir." Sie küsste meine Freundin auf die Wange und ich kam mir ziemlich überflüssig vor, wie das fünfte Rad am Wagen.
Schweigend trottete ich hinter den beiden her und verabschiedete mich, als sie durch eine Seitentür nach draußen traten.
Stille breitete sich um mich herum aus, die ich einen Moment lang genoss. Unvermittelt kam mir das Papierstück von vorhin wieder in den Sinn.
Mit einer halben Verrenkung ließ ich meine Finger in die Seitentasche meines Rucksacks gleiten und ertastete den Zettel. Er fühlte sich rau an und wirkte, als ob er schon einmal in der Waschmaschine gelandet wäre.
Neugierig faltete ich ihn auseinander, wobei ich versehentlich eine kleine Ecke abriss, da er ziemlich zusammen klebte.
Auf einmal durchschnitt eine mir sehr bekannte Stimme die Stille und ließ mich innehalten.
„Du hast es also geschafft?" Es klang weniger wie eine Frage, als eine Feststellung.
Er atmete genervt aus. „Was willst du?"
Mein Herzschlag beschleunigte sich und aus einem Reflex heraus presste ich mich schnell an die kühle Wand und huschte bis zu der Ecke vor, hinter der sich Collin und Vivienne befanden.
„Sei doch nicht so", jammerte sie und seufzte.
Ich wusste, dass es falsch war, aber ich konnte mich nicht zurückhalten, einen kurzen Blick in den Gang zu werfen, in dem die beiden standen. Collin wandte mir den Rücken zu, während Vivienne frontal in meine Richtung gedreht war und nur teilweise durch den Körper des Blonden verdeckt wurde.
Ruckartig schreckte ich zurück und konnte nur hoffen, dass sie mich nicht bemerkt hatte.
Mein Atem setzte aus und meine Gedanken schwirrten wild durch meinen Kopf. Was machten sie da?
Adrenalin strömte durch meine Adern und ließ das Blut in meinen Ohren rauschen. Ich fühlte mich, als tat ich etwas Verbotenes.
Mein Blick glitt zu meiner rechten Hand, in der ich noch immer den aufgefalteten Zettel hielt, von dem mir geschwungene schwarze Letter unheilvoll entgegen blitzten.
In meinem Gedächtnis regte sich etwas und plötzlich wusste ich ganz genau, was sich hier in meinen Fingern befand. Es war das Papierstück, dass ich damals zwischen den Seiten von Collins Biologiebuch entdeckt und er mir daraufhin schnell abgenommen und in seiner Hosentasche verschwinden lassen hatte. Und zwar in der grauen Jogginghose, die er heute zum Sportunterricht getragen hatte. Der Zettel musste bei unserem Abschied heraus gefallen sein.
Ich ignorierte mein Gewissen, dass mir einredete, ich würde sein Vertrauen missbrauchen, während ich mich anstrengte, die zwei Zeilen schwarzer Schrift, vermutlich mit Kugelschreiber geschrieben, zu entziffern.
„Die Wette war ein Fehler. Schön, du hast gewonnen! Ich weiß zwar nicht, wie du es geschafft hast, aber Alenia klebt an dir, wie eine lästige Klette!", erklang es auf einmal.
Überfordert und verwirrt zu gleich, fühlte ich, wie ich den Atem anhielt und mit ihm mein Herz aussetzte.
„Du kannst jetzt damit aufhören und zu mir zurück kommen."
Drückende Stille breitete sich im Gang aus.
„Vi, du weißt doch-"
„Ich liebe dich noch immer Collin", vernahm ich Viviennes klägliche Stimme, die nur langsam zu mir durchdrang.
Schockiert starrte ich auf das Papier. Mein Herz stand noch immer still und in mir breitete sich ein eiskalter Schauer aus, der bis vor in meine Fingerspitzen drang.
Viel Glück dabei, Alenia um den Finger zu wickeln.
Viviennes Worte hallten in meinem Kopf wider, genau wie das Quietschen meines Sneakers, als ich einen Schritt zur Seite taumelte und mich mit einer Hand an der Wand abstützen musste.
Mein Verstand versuchte sich mit aller Kraft gegen das zu wehren, was meine Ohren gerade eindeutig gehört und meine Augen gelesen hatten.
All die schönen Momente, all die Gefühle, unser Kuss. Das soll alles nur gespielt gewesen sein? Das war alles Teil einer perfiden Wette? Ich war nur Teil einer Wette?
Das Klopfen in meiner Brust setzte wieder ein, viel zu schnell und viel zu unregelmäßig. Mit jedem Schlag fühlte ich, wie mein Herz in weitere kleine Teile zerbrach, bis es nur noch aus einem Haufen winziger Scherben bestand.
Noch immer wollte ich nicht realisieren, was ich soeben erfahren hatte. Ich fühlte mich so unendlich dumm, auf ihn herein gefallen zu sein, Teil seines widerwärtigen Spiels gewesen zu sein. So unendlich naiv, gedacht zu haben, er hätte sich wirklich in mich verliebt. Dabei wusste ich doch von Anfang an, dass Gefühle nur Schmerz bedeuteten und ich nun mal nur das kleine graue Entlein war, das sich eingebildet hatte, aus ihm könnte ein wunderschöner weißer Schwan werden. Das war ein Fehler.
Im Hintergrund vernahm ich immer näher kommende Schritte. Plötzlich tauchte Collin neben mir auf, seine Augen vor Schreck weit aufgerissen. Ich starrte ihn an, konnte nicht weg sehen. Versank in dem Blau seiner Iris, das mir mittlerweile viel zu vertraut war. Seine Lippen formten Worte, doch ich verstand nicht, welche weiteren Lügen er mir auftischen wollte.
Der kleine Zettel, der sich noch immer zwischen meinen verkrampften Fingern befand, segelte jetzt lautlos zu Boden und landete zwischen unseren Füßen. Mein Kopf senkte sich, während meine Arme untätig an mir herab hingen, wie zwei deplatzierte Gummischläuche.
Ich sollte Collin mit seinem perfekten Gesicht eine fette Backpfeife verpassen, ihn anbrüllen, dass er ein verlogener Arsch war. Doch ich war wie gelähmt und konnte mich nicht rühren.
Eine heiße Träne kullerte lautlos meine Wange hinunter und hinterließ einen dunklen Punkt auf meinem grauen Pullover, als sie auf meinem Ärmel auftraf. Ich spürte, wie Collins weiche Finger die nasse Spur auf meiner Wange wegwischten, sich seine warmen Hände um mein Gesicht legten und er mich zwang, zu ihm nach oben zu sehen.
Genau wie ich schwieg er jetzt und starrte mich einfach nur an. In seinem Blick lag so viel Reue, dass ich beinahe geglaubt hätte, es würde ihm wirklich leid tun. Doch dann besann ich mich eines Besseren. Ich fühlte mich, als würde es mich von innen heraus zerreißen, als wäre ich dem Ertrinken nahe.
Sanft streichelte Collin mit seinen beiden Daumen an meinen Wangen entlang, während ich kraftlos den Kopf schüttelte.
„Lass mich", flüsterte ich und schloss die Lider. Tränen begannen aus meinen Augen zu flüchten, als wäre ein Staudamm gebrochen, von dem sie bis eben zurückgehalten worden waren.
Langsam legte ich meine Hände auf seine.
„Es tut mir so leid, das musst du mir glauben." Collin betonte eindringlich jedes einzelne Wort, aber ich wollte es nicht hören.
Ein schmerzerfülltes Schluchzen brach aus mir heraus. Ich konnte das nicht mehr.
Mit einem Ruck riss ich mich von ihm los und stürmte an ihm vorbei. Vivienne grinste mir schadenfroh entgegen, als wäre genau das ihre Absicht gewesen.
„Alenia! Warte!" Ich ignorierte ihn. „Lass es mich erklären!"
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