Kapitel 33

Der bereits vierte Wecker dröhnte in meinen Ohren, als ich mich endlich dazu durchringen konnte, aufzustehen. Nachdem sich die vorherigen drei wunderbar in meinen Traum integriert hatten, war es nun aller höchste Eisenbahn, mich fertig zu machen. Meinen üblichen Bus würde ich schon jetzt nicht mehr erwischen, was mir auch meine letzten Krümel Motivation raubte, da ich wenig Lust auf die vielen Menschen in der späteren Linie hatte.

Schnell wühlte ich einigermaßen zusammenpassende Klamotten aus meinem Kleiderschrank, schlüpfte hinein und schlitterte hinüber ins Badezimmer. Am liebsten wäre ich auf der Toilette eingeschlafen, aber ich zwang mich, meine Augen offen zu halten, Zähne zu putzen, mein Gesicht zu waschen und wieder in mein Zimmer zu schlurfen.

Meine Schultasche packte ich mit so wenig Liebe, dass der Inhalt einem Schlachtfeld glich. Träge riss ich die Schreibtischschublade auf, unter der meine geöffnete Tasche stand. Sie war so überfüllt, dass ich Mühe hatte, meinen Zirkel ausfindig zu machen, den ich für die heutige Mathestunde benötigte.

Als ich schon fast verzweifelte, entdeckte ich ihn endlich unter dem ganzen Gerümpel.
Beim Herausziehen nahm ich etwas Glänzendes am oberen Rand der Schublade wahr und erschrak.
Die metallene Klinge schimmerte im gelben Licht meiner Deckenlampe.

Ruckartig schubste ich das Fach zu, wobei sie über Bord ging und im Durcheinander meines Rucksacks versank. Fluchend kniete ich mich nieder, stopfte den Zirkel dazu und begann erfolglos den Inhalt meiner Büchertasche nach der verdammten Klinge zu durchsuchen. Da ich sowieso schon unter Zeitdruck stand und beim besten Willen nicht wegen dieses dummen Dings meinen Buss verpassen wollte, gab ich das Wühlen auf und zog den Reisverschluss zu. Es war mir maximal unangenehm, mit so einem blinden Passagier im Gepäck in die Schule zu gehen, aber nun war es eben so. Ich nahm mir vor, sie heute Nachmittag, wenn ich wieder daheim war, direkt auszupacken.

**

Der Schultag zog sich unglaublich in die Länge, woran vor allem Latein Schuld war. Es war mir noch immer ein Rätsel, wieso ich so dumm gewesen war und dieses Fach für die Oberstufe gewählt hatte. Diese Frage stellte ich mir vor jeder Stunde erneut und sehnte den Tag herbei, an dem ich freudig strahlend das Klassenzimmer verlassen würde, mit dem Hintergedanken, nie wieder in meinem ganzen Leben Latein haben zu müssen.

Robin packte gerade seine Bücher ein und schob dann den Stuhl an den Tisch. Gemeinsam traten wir aus dem Raum heraus und hatten zumindest für diese Woche dieses scheußliche Fach überstanden.

„Da ist Collin", stellte mein Kumpel fest und nickte mit dem Kopf nach links, wo tatsächlich der Blonde an der Wand lehnte.
Bei dem Klang seines Namens schaute er von seinem Handy auf und warf Robin einen seltsam feindseligen Blick zu. Langsam kam er zu uns geschritten und begann zu lächeln.

„Hey", begrüßte er uns und legte mir einen Arm um die Schultern, wobei er mich etwas zu sich zog.
Ich spürte sofort, wie mir warm wurde und meine Gedanken sich zu einem Wörtersalat entwickelten.
Mit einem Grinsen, das ich versuchte zu verdrängen, sodass es nicht ganz so bescheuert aussah, drehte ich mich zu ihm und entgegnete: „Hi, was machst du hier?"

Seine Augen waren noch immer auf Robin gerichtet und leicht zu Schlitzen verengt. „Ich wollte dich zur Nachhilfe abholen. Wir wurden früher raus gelassen, also dachte ich, es wäre eine nette Überraschung."
Freudig nickte ich. Wahrscheinlich war ihm gar nicht bewusst, wie sehr er mein Herz gerade zum Schmelzen brachte.

„Gut, dann gehe ich mal. Einen schönen Nachmittag noch", verabschiedete sich Robin, den ich schon wieder ganz ausgeblendet hatte.
„Danke, dir auch", meinte ich und lächelte ihn an. „Wir können ja heute nochmal wegen Mathe schreiben-"
„Bye, Robin", funkte Collin mir schroff dazwischen, verstärkte den Druck um meine Schultern und zog mich mit sich fort.

Entschuldigend winkte ich dem schwarzhaarigen Jungen nochmal zu und drehte mich dann zu meinem Begleiter. „He, was sollte das?"
Er schwieg.
„Kann es sein, dass du was gegen Robin hast?", fragte ich das Offensichtliche.
„Nicht direkt", antwortete er. „Ich mag nur nicht, wie er dich ansieht."

Als wir durch die Tür nach draußen auf den Schulhof traten, nahm er seinen Arm von meinen Schultern und steckte die Hände in seine Jackentaschen. Verwirrt blinzelte ich, wusste aber nicht so ganz, was ich mit der Aussage anfangen sollte. Ich wollte mir nicht zu viel darauf einbilden und denken, dass Eifersucht im Spiel war.

„Wieso das denn?", wollte ich deshalb wissen und passte mein Lauftempo an Collins an, der mir gerade etwas zu schnell war.
„Weil halt", bekam ich als Antwort und dazu ein Schulterzucken.

„Kannst du ein bisschen langsamer machen?", bat ich angestrengt und zupfte an seinem Jackenärmel.
Belustigt sah er mich von der Seite an und hob einen Mundwinkel. „Ist mein Zwerg zu klein, um mit mir Schritt zu halten?", witzelte er und zog provokativ eine Augenbraue hoch.
Überrascht schaute ich ihn an. „Dein Zwerg?"
„Meines Wissens nach bin ich der Einzige, der dich so nennt", meinte er und zwinkerte mir lächelnd zu.
Meine Wangen fühlten sich an, als würden sie Feuer fangen und ich hatte kurz den Gedanken, ob sie nicht dampften, bei dieser Kälte.

„Lass uns zum Bellas gehen. Ich muss zwar momentan auf meine Ernährung achten, aber ich habe gerade richtig Lust, mir ein fettes Stück Torte reinzuhauen!" Mit einem breiten Grinsen im Gesicht schaute er verträumt in der Luft herum.
„Na dann, kann ich ja schlecht nein sagen", willigte ich ein und lachte.

**

Das kleine Glöckchen, das über der Tür hing, kündigte unsere Anwesenheit an, als Collin und ich in das Bellas eintraten. Der süße Duft von Zimt und eine herbe Kaffeenote lagen in der Luft. Heute war das Café gut besucht, wie auch schon beim letzten Mal.
Wir entdeckten einen leeren Tisch neben den bodentiefen Fenstern des Ladens, die einen wunderschönen Blick auf die winterliche Straße gewährten.
Der Wetterbericht hatte für morgen Schnee angekündigt, worauf ich mich schon tierisch freute.

Synchron zogen wir die gegenüberliegenden Stühle des runden Tischchens zurück und hängten unsere Jacken über die Stuhllehnen, ehe wir uns gemeinsam setzten.

Mit einem schiefen Lächeln schob Collin mir eine der zwei Speisekarten zu und sagte: „Bitte nimm dieses Mal etwas mehr als nur eine heiße Schokolade."
Unsicher legte ich meine Hand auf das bunte Papier, das farblich zur Einrichtung des Cafés passte.
Durch diesen Kommentar fühlte ich mich aus irgendeinem Grund noch unwohler dabei, jetzt etwas zu essen, weshalb ich nachdenklich aus dem Fenster schaute, das sich zu meiner Rechten befand.

Plötzlich legte sich Collins warme, große Hand auf meine. „Tut mir leid, falls das ein unangenehmes Thema für dich ist. Ich will dich zu nichts drängen, aber ich möchte nicht, dass du zu wenig isst und womöglich in was rein rutscht. Meine Schwester hat neulich darüber geredet, dass sogar schon in ihrem Alter jedes Mädchen Diäten und so einen Quatsch macht, um schön zu sein. Dabei ist sie erst zwölf!" Seine Augen fixierten meine, während er liebevoll lächelte. „Du brauchst sowas nicht. Das weißt du hoffentlich."

Ich konnte erkennen, dass er es nur gut meinte und es berührte mich, dass er sich um mich sorgte. Das hatte seit dem Tod meiner Mutter schon lange niemand mehr getan.
Langsam drehte ich meine Hand unter seiner, sodass unsere Finger sich berührten und ich mit meinem Daumen über seine Fingerknöchel streichen konnte. Diese Art von Berührung war für mich zwar völliges Neuland, aber langsam fand ich Gefallen daran.
Zur Antwort lächelte ich ihn zaghaft an, zu überfordert damit, wie ich auf sein Kompliment reagieren sollte, das die unzähligen Schmetterlinge in meinem Bauch wild zum Flattern brachte.
Unser Blickkontakt beruhigte mich und allein durch Collins Präsenz fühlte ich mich besser. 

„Wisst ihr schon, was es sein darf?", drang plötzlich die Stimme einer Kellnerin an mein Ohr und unterbrach somit den besonderen Moment zwischen uns. Schnell nahm ich meine Hand zu mir und klappte die Speisekarte auf, um nach einem ansprechenden Kuchen zu suchen.
„Ähm", machte Collin und warf ebenfalls einen Blick in die aufgeklappte Karte, die vor ihm lag. „Ein Stück von dem Bienenstich", bestellte er und wartete, ob ich auch noch etwas haben wollte.
„Und eins von dem Butterkeks-Himbeer-Kuchen." Im Augenwinkel bemerkte ich sein stolzes Grinsen und war froh, mich vor Aufregung nicht verhaspelt zu haben.
„Alles klar", antwortete die junge Frau motiviert und machte sich auf den Weg, um unsere Bestellung zu holen.

„So", begann ich und verschränkte meine Beine unter dem Tisch. „Und jetzt wird Bio gelernt, hop hop." Zur Verdeutlichung wedelte ich kurz mit meiner Hand in der Luft herum.
Der Blonde verdrehte seine Augen, holte jedoch gehorsam sein Heft und das Buch aus seinem Rucksack.

„Können wir mit diesem Zeug anfangen, das wir uns gestern am Ende der Stunde aufschreiben sollten?", fragte er und schob mir sein Heft zu, wahrscheinlich um dort nachzusehen.
„Diploid wird zu diploid bei der Mitose, diploid zu haploid bei der Meiose und haploid und haploid zu diploid bei der Befruchtung", laß ich seine gekrakelten Notizen vor.
„Ja, genau das. Was soll das bedeuten?" Unschuldig blinzelte er mich an.
Man könnte meinen, er wäre die ganze Biostunde, in der Mr Gibbels alles haargenau erklärt hatte, abwesend gewesen.

Belustigt schüttelte ich den Kopf. „Okay, also", kurz überlegte ich, „die drei Gleichungen sind die Chromosomensätze der Vorgänge."
Sein verwirrter Blick signalisierte mir, dass er keinen blassen Schimmer hatte, was das bedeuten sollte.
„Naja, eine menschliche Körperzelle hat 46 Chromosomen, von denen immer zwei baugleich sind und ein Chromosomenpaar bilden. Diese zwei nennt man homologe Chromosomen, beziehungsweise einen doppelten Chromosomensatz oder anders auch diploid. Das Gegenteil dazu ist haploid, ein einfacher Chromosomensatz, wie es beispielsweise bei Keimzellen der Fall ist, die bei der Meiose entstehen."

„Okay okay", unterbrach Collin mich und runzelte konzentriert die Stirn. „Also bedeutet diploid, dass eine Zelle zwei Chromosomen hat und bei haploid hat sie nur eins?"
Stolz nickte ich. „Ja, richtig!"
„Und was sagtest du vorhin mit Vorgängen?", fragte er nach.

„Die drei Gleichungen sind die Chromosomensätze der Vorgänge. Anders gesagt, eine Rechnung, wie viele Chromosomen sich bei den einzelnen Vorgängen in den Zellen befinden."
Er nickte langsam, während ich einen Bleistift aus meinem Rucksack kramte, den ich nach Mathe in eine Seitentasche gestopft hatte.

„Die Mitose ist die Teilung des Zellkerns. Bei der Meiose, auch Reifeteilung genannt, entstehen neue Keimzellen." Unter die schmierige Notiz, schrieb ich einen neuen, vereinfachten Merksatz, mit dem auch er zurechtkommen würde.
„Mitose ist von zwei zu zwei, Meiose ist von zwei zu eins und Befruchtung ist von eins und eins zu zwei."

Langsam rauchte auch mir der Kopf und ich war froh über eine Verschnaufpause, als unsere Kuchenstücke gebracht wurden.
„Lasst es euch schmecken!", rief die Kellnerin gut gelaunt und düste sofort wieder davon.

„Okay, ja. Langsam macht es Sinn, danke!", meinte Collin und betrachtete den Satz, den ich mit Bleistift dazu geschrieben hatte, während er genüßlich seinen Bienenstich kaute.
Lächelnd probierte ich ebenfalls mein Stück Kuchen und erlebte darauf eine regelrechte Geschmacksexplosion auf meiner Zunge. Der süße Butterkeks und die leicht säuerliche Himbeere passten wunderbar zusammen und wurden von der Creme, die sich zwischen den beiden Schichten befand, miteinander verbunden.

Ich wand meinen Kopf nach rechts, zur Glasfront. Draußen brachte der Wind die kargen Äste der einzelnen Bäumchen zum Wackeln, die verteilt die Straße entlang gepflanzt worden waren und nun vermutlich ihren ersten Winter erlebten.
Um mich herum herrschte eine wohlige Wärme und am liebsten würde ich diesen Moment abspeichern, um ihn immer wieder Revue passieren zu lassen.
Unwillkürlich musste ich vor mich hin lächeln, während ich das Stückchen Kuchen auf meiner Zunge zergehen ließ.

„Würdest du mal mit mir auf ein Date gehen?", durchbrach Collin plötzlich die Stille, die sich zwischen uns ausgebreitet hatte.
Erschrocken drehte ich mich zu ihm. Meine Augen scannten jeden Zentimeter seines Gesichts, auf der Suche nach Hinweisen darauf ab, ob er das gerade ernst meinte.
Sein Mund war zu einem Lächeln verzogen und seine Aufmerksamkeit ruhte auf mir.
Mit jedem Herzschlag wurde ich nervöser und konnte meine Freude nur schwer zurückhalten. Ich atmete zittrig ein und hielt die Luft an.

„Samstag hätte ich Zeit", presste ich atemlos hervor. Langsam steckte Collin mich mit seinem Grinsen an.
„Stimmt, du musst ja morgen arbeiten", meinte er und aß einen weiteren Happen seines Bienenstichs. „Gut, dann Samstag. Ich dachte an Eislaufen, wenn du magst?"
„Gerne." Eifrig nickte ich und spürte die Vorfreude in mir hochkriechen.

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