Kapitel 31
Alleine saß ich an einem der Tische in der Cafeteria und schaute gedankenverloren aus der bodentiefen Glasfront, die sich zu meiner Linken befand. Die Stimmen der anderen Schüler, die fast jeden weiteren freien Platz in diesem Raum in Anspruch nahmen, blendete ich vollständig aus und konzentrierte mich auf ein einsames Blatt, das draußen am Boden entlang wehte.
Zumindest versuchte ich das, denn meine Gedanken landeten wieder und wieder bei Collin. Was hatte er nur mit mir gemacht, dass keine Minute des Tages verging, in der ich nicht an ihn dachte?
Schnaufend gab ich es auf, das verdorrte Blatt zu beobachten und warf stattdessen ungeduldig einen Blick an das andere Ende des Raumes, zur Tür. Eigentlich hätten Francesca und Robin schon vor zwanzig Minuten hier aufkreuzen sollen. Ich hatte keine Lust, meine Mittagspause alleine zu verbringen.
Allerdings müsste ich mir so nicht weiter den Kopf darüber zerbrechen, ob und wie viel ich den beiden von meinem Wochenende und Collin berichten sollte. Denn eigentlich hatte ich mir vorgenommen, dem Ganzen nicht zu viel Wert beizumessen, wozu auch gehörte, nicht jedem davon zu erzählen. "Jeder" waren in meinem Fall zwar nur Robin und Francesca, da sie neben Collin die einzigen Freunde waren, die ich hatte, aber dennoch waren zwei Personen genug, um zu viel zu sein.
Mit gemischten Gefühlen musterte ich die beiden, als sie gemeinsam zur Tür herein spazierten, sich kurz nach mir umsahen und dann auf mich zukamen.
„Hi", begrüßte mich Francesca und marschierte zu einem der beiden Stühle, auf die ich meine Tasche und meine Jacke geworfen hatte, sodass sie nicht von fremden Schülern geklaut wurden. Robin nickte mir zu und setzte sich ebenfalls.
„Hey", erwiderte ich lächelnd und hob die Hand.
„Tut uns leid, dass wir so spät kommen. Chor hat sich heute so lange gezogen, weil der Typ irgendwas von Prüfungen erzählt hat", erklärte die Italienerin und packte ihr Mittagessen aus.
„Wie geht's dir so?", fragte nun Robin und sah mich prüfend an.
„Gut und euch?", stellte ich die Gegenfrage und hoffte inständig, dass er keine Anspielung auf die Sache mit Collin machen wollte.
„Ich bin noch immer voll fertig vom Wochenende. Es war so anstrengend!" Theatralisch legte sich Francesca eine Hand an die Stirn. „Ich musste durchgehend arbeiten, von Freitag bis Sonntag. Wahrscheinlich werde ich mich in Sport nachher einfach nur wie ein Wurm am Boden winden", meinte sie und kaute unmotiviert auf ihrem Brot herum. „Aber andererseits habe ich gestern mit Lola geschrieben und wir haben am Mittwoch unser zweites Date!"
Sofort war das Lächeln in ihr Gesicht zurückgekehrt und sie schaute aufgeregt abwechselnd zu Robin und mir.
„Wow, das ist super!", antwortete ich und freute mich mit ihr.
„Ja, das ist echt cool. Scheint gut zu laufen bei euch", sagte der Schwarzhaarige zuversichtlich und warf mir dabei einen seltsamen Seitenblick zu, den ich gekonnt ignorierte.
„Ja, ich finde sie wirklich sympathisch und will sie auf jeden Fall noch besser kennenlernen." Kurz schien sie in Gedanken zu versinken. „Aber jetzt erzählt mal von eurem Filmabend. Wie war's so? Was habt ihr für einen Film geschaut?" Interessiert lehnte sie sich ein Stück nach vorne.
Robin und ich wechselten einen schnellen Blick miteinander. Ich erkannte in seinen Augen eine leichte Unsicherheit, weshalb ich das Reden übernahm.
„Titanic", war erstmal alles, was ich von mir gab.
„Uhh! Ich liebe diesen Film!", schwärmte sie. „Nur das Ende, als Jack zu einem Eisklotz gefriert, finde ich ziemlich traurig. Ich hätte den beiden eine schöne Romanze wirklich gegönnt!" Schmollend blickte sie uns an und schien darauf zu hoffen, dass wir in das Gespräch mit einstiegen oder ihr zumindest beipflichteten. Sie wartete jedoch vergeblich, da wir beide nie das Ende gesehen hatten.
„Ähm", begann Robin und sah missmutig zu mir. „Wir wurden unterbrochen. Es ist ... etwas dazwischen gekommen."
Er warf mir einen vielsagenden Blick zu und auch Francesca drehte sich zu mir. Dies war wohl mein Stichwort von Collins Anruf zu berichten.
„Ja." Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe herum. „Collin hatte angerufen und sozusagen meine Hilfe gebraucht."
Das Gesicht meiner Freundin sprang von reglos zu ungläubig über. Sie machte große Augen und grinste wissend. „Erzähl!", befahl sie mir und rutschte mit ihrem Stuhl ein Stück näher.
Unbehaglich zog ich die Schultern nach oben. „Naja, er hatte sich auf einer Party betrunken und wollte zu mir kommen, um den Streit zu klären, den wir am Freitag hatten. Deswegen musste ich ihm entgegen laufen. Ich konnte ihn ja wohl kaum in seinem Zustand alleine draußen 'rumirren lassen oder?", rechtfertigte ich mich und legte meine Hände vor mir auf den Tisch.
„Und was hast du gemacht, als du bei ihm warst?", harkte Francesca weiter nach, wobei ich vermutete, dass sie eine Vorahnung hatte, denn sie kniff wissend ihre Augen zusammen und grinste schelmisch.
„Ihn mit zu mir genommen", antwortete ich etwas leiser, obwohl es eher wie eine Frage klang.
„Ahh!", quietschte sie aufgeregt und wedelte mit den Händen in der Luft herum.
Einige Schüler drehten sich genervt zu uns um, weshalb ich sie nur entschuldigend anlächelte. Robin saß einfach still da und hörte zu. Es wirkte auf mich, als interessierte ihn die Sache mit Collin gar nicht.
„Nicht so laut!", zischte ich und unterdrückte mir ein Grinsen. „Es ist ja auch gar nichts passiert. Er war bei mir und ist ziemlich zeitig auf der Couch eingeschlafen. Das war's."
Dass wir uns fast geküsst hätten und er mir irgendwie gestanden hatte, dass er etwas für mich empfand, ließ ich einfach mal außen vor, weil ich mir selbst nicht sicher war, ob er das ernst gemeint oder der Alkohol aus ihm gesprochen hatte. Vielleicht hätte er diese Dinge in so einer Situation ja zu jedem weiblichen Wesen gesagt.
Francesca zog skeptisch eine Augenbraue nach oben und schüttelte leicht den Kopf. „Also ich weiß ja nicht! Ich weiß ehrlich nicht, ob ich dir das abkaufen sollte, dass da rein gar nichts passiert ist."
Achselzuckend senkte ich den Blick und zeichnete mit meinen Fingern unsichtbare Formen auf die Tischplatte. „Denkst du nicht, dass ich dich direkt updaten würde, wenn zwischen uns was gelaufen wäre?", stellte ich die Gegenfrage, sah dabei jedoch nicht auf.
„Doch, das hoffe ich. Also bitte! Wir sind Freunde, da ist sowas ein Muss! Schließlich interessiert es mich, was in deinem Leben so passiert. Egal wie klein oder banal die Dinge sind, ich will sie wissen. Hörst du?" Sie lachte und biss erneut von ihrem Brot ab.
„Was war dann eigentlich bei dir am Wochenende noch so los, Henley?", fragte sie den Jungen, der die letzten paar Minuten ungewöhnlich still gewesen war. Bereits heute Morgen in Englisch und Deutsch war mir aufgefallen, dass er ziemlich in sich gekehrt wirkte und im Vergleich zu letzter Woche wenig zu sagen hatte.
Interessiert hob ich meinen Kopf und beobachtete Robin, während er antwortete: „Nichts besonderes. Ich hab mir ein bisschen die neuen Lehrbücher durchgelesen, weil ihr hier in manchen Fächern schon etwas weiter seid, als wir in meiner alten Schule waren. Meine Mom hat das ganze Wochenende gearbeitet und ich war alleine daheim, also hatte ich die Zeit dafür. Sie ist Krankenschwester."
Ich erinnerte mich, dass er das an seinem ersten Tag bereits erwähnt hatte und nickte.
Trotz, dass seine Beschäftigung sinnvoll klang, fühlte ich mich schlecht, dass er im Prinzip nichts zu tun gehabt hatte. Denn es war zum Teil meine Schuld, da ich ihn am Freitag so plötzlich rausgeschmissen und somit den Filmabend ruiniert hatte.
Der Gong, der das Ende der Pause ankündigte, hallte laut durch die Cafeteria und im nächsten Moment stürmten dutzende Schüler zwischen den Tischen hindurch. Wir packten unsere Mahlzeiten weg, standen auf und schlossen uns der Meute an.
Vor dem Raum fanden wir uns wieder zu unserem Dreiergrüppchen zusammen und wollten uns gerade auf den Weg zur Sporthalle machen, als etwas oder besser gesagt jemand an meiner Schultasche zog.
„Hey, Zwerg", begrüßte mich Collin und schenkte mir eines dieser umwerfenden Lächeln, die meine Beine ganz weich werden ließen.
„Hi", entgegnete ich und grinste zurück.
Plötzlich tauchten hinter ihm auch noch Aron, der mir kurz freundlich zunickte, und Sasha auf und spazierten an uns vorbei, zu Francesca und Robin. Verwirrt beobachtete ich die Situation und war schon kurz davor zu hinterfragen, was die beiden, vor allem Sasha, bei meinen Freunden suchten, da sie doch zu den abgehobenen Beliebten gehörten.
Aber als ich bemerkte, dass sie sich tatsächlich einfach nur normal mit ihnen unterhielten, entspannte ich mich und war froh zu sehen, dass Francesca und Robin auch noch woanders Anschluss finden konnten. Zumal Aron ja sowieso ein viel zu netter Typ war, um mit solchen Leuten wie Vivienne abzuhängen.
„Du musst mal mehr Spinat essen", meinte Collin und warf von oben herab einen belustigten Blick auf mich, während er seine Hände in die Hosentaschen seiner hellblauen Jeans gleiten ließ.
Irritiert legte ich meinen Kopf schief und linste zu ihm hoch. „Wieso das denn?"
„Vielleicht gibt es dann doch noch Hoffnung, dass du groß und stark wirst", antwortete er neckisch und grinste dumm.
„Oh mein Gott", sagte ich nur und lachte kopfschüttelnd, während wir um eine Ecke, in einen Durchgang zwischen Schule und Sporthalle bogen. Diesen Spruch hatte ich schon Ewigkeiten nicht mehr gehört. Ich kannte ihn von meiner Mom und die hatte ihn von meiner Oma.
„So klein bin ich jetzt auch wieder nicht", jammerte ich und schaute ihn schmollend an. Ich hatte den Eindruck, als wäre die Größe so eine typische Sache, die Jungs bei Mädchen immer kritisierten, obwohl sie eigentlich zufrieden damit waren und es nur aus Spaß taten.
„Naja, ich könnte dich ganz leicht unter den Arm klemmen", scherzte er und machte Anstalten, es wirklich in die Tat umsetzen zu wollen.
„Ey", machte ich lachend und hob warnend den Zeigefinger, während ich mit der anderen Hand seinen Arm von mir weg schob.
„Erzähl mir lieber, was deine Eltern dazu gesagt haben, dass du am Freitag nicht nach Hause gekommen bist."
„Ach", er vergrub seine Hand wieder in der Hosentasche, „die haben das gar nicht bemerkt." Sein Blick war starr geradeaus gerichtet und ich merkte erneut, dass seine Eltern ein sehr sensibles Thema für ihn waren.
„Tut mir leid", durchbrach ich die kurzzeitig entstandene Stille und legte ihm zögerlich die Hand auf den Arm, um ihn zu trösten. Zwar hatte ich bei Collin verhältnismäßig weniger Hemmungen, was den Körperkontakt anging, aber trotzdem musste ich mich noch daran gewöhnen, weshalb er meinen Griff vermutlich kaum spürte.
„Schon gut." Mit einem Lächeln versuchte er zu überspielen, wie frustriert er über diese Tatsache war. „Dafür hat sich Cupcake umso mehr gefreut", berichtete er vergnügt und blieb vor den Umkleiden stehen, da es nun Zeit war, sich zu verabschieden.
Der Rest unserer Truppe war bereits hinter den Türen verschwunden und mit Sicherheit fragten sie sich schon, wo wir blieben.
„Bevor du gehst, habe ich noch was für dich."
Neugierig blieb ich stehen und drehte mich zu Collin. Vergeblich versuchte ich einen Blick auf seine Tasche zu erhaschen, als er sie absetzte und darin herumwühlte.
Nach ein paar Sekunden hielt er mir feierlich den dunkelgrünen Hoodie meines Bruders entgegen.
„Frisch gewaschen und so gut wie neu", kommentierte er grinsend.
Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, aber das war es nicht. „D-Danke", stammelte ich und nahm ihn entgegen.
„Also dann, bis morgen", meinte er und winkte mir zum Abschied.
„Bis morgen und viel Spaß beim Training nachher", entgegnete ich lächelnd und schaute ihm noch kurz nach, als er den Gang entlang, zur Umkleide der Jungs lief.
Mein Blick senkte sich auf den Pullover in meiner Hand. Kurz flackerte wieder die Erinnerung an Collin in diesem Hoodie mit seiner Jeans und den verstrubbelten Haaren vor meinem inneren Auge auf. Unwillkürlich hob ich meine Arme und vergrub meine Nase in dem Stoff, der noch immer nach ihm roch. Mit Sicherheit war meinem Bruder noch gar nicht aufgefallen, dass dieses Stück in seiner Sammlung fehlte, also machte es ihm bestimmt auch nichts aus, wenn ich ihn noch ein oder zwei Tage behielt.
Freudig trat ich durch die Tür, wo die anderen Mädchen sich schon umzogen. Francesca warf mir einen vielsagenden Blick zu und wackelte zur Verdeutlichung mit den Augenbrauen. Schnell huschte ich zu ihr und stellte meine Sachen neben ihren ab.
„Ich glaub dir immer weniger, dass das zwischen Collin und dir nur platonisch ist", flüsterte sie mir zu, während sie die Schnürsenkel ihrer Sportschuhe band.
Ich ließ die Unterstellung unkommentiert und ignorierte ebenfalls die bösen Blicke von Vivienne, die ich deutlich auf mir spürte. Alles, woran ich mal wieder denken konnte, war Collin und sein perfekt schiefes Grinsen.
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