Kapitel 28

Leise vor mich hin fluchend stapfte ich fröstelnd den Gehsteig entlang. Mittlerweile war ich eine geschlagene halbe Stunde unterwegs und hatte angefangen, mir in Gedanken eine Liste mit Möglichkeiten zu machen, wie ich Collin umbringen könnte, falls er nicht sowieso schon tot war.

Eine eisige Windböe erfasste mich und ich vergrub mein Kinn noch tiefer im Kragen meiner Daunenjacke. Auf meiner Liste fügte ich den Punkt "Collin mit warmem Wasser abduschen und dann nackt auf den Balkon sperren, bis er keinen Mucks mehr von sich gibt" hinzu. Er stand gleich unter "Collin an einem Stuhl festbinden und jede seiner Ex-Freundinnen einmal in seine Eier treten lassen".

„Wow. Du bist aber 'ne süße Katze. So viel Fell und so katzenhaft. Eigentlich mag ich ja Hunde lieber."

Als ich um die Ecke bog, traute ich meinen Augen kaum. In einigen Metern Entfernung saß Collin in der Hocke vor einem geschlossenen Gartentor und unterhielt sich mit einem fauchenden Igel.

Geschockt blieb ich stehen. In der linken Hand hielt er eine Flasche Vodka, die schon fast leer war und bei der der Deckel fehlte. Seine Jacke war geöffnet und ich konnte erkennen, dass er darunter nur ein T-Shirt trug, da das Oberteil die selbe Musterung hatte, wie das T-Shirt, dass ich neulich bei ihm Zuhause gesehen hatte. Das schwache Licht, dass von einer ein paar Meter entfernten Straßenlaterne auf ihn fiel, ließ seine Haare blonder wirken als sonst. Sie waren außerdem mehr verstrubbelt, was wahrscheinlich an seinem alkoholisierten Zustand lag und der daraus resultierenden Gelassenheit. Nur leider wirkte er mit dieser Frisur noch attraktiver, weshalb ich ihn plötzlich nicht mehr umbringen wollte.

„Collin?", rief ich ihn, bekam jedoch keine Antwort. Stattdessen beschäftigte er sich weiter mit dem armen Igel, der sich ängstlich an die steinerne Mauer drückte, die neben dem Gartentor begann.
Kopfschüttelnd begutachtete ich die Situation und machte mich langsam auf den Weg zu den beiden.

„Ich bin auf der Suche nach 'nem Mädchen namens Alenia. Hast du sie vielleicht gesehen? Sie ist ungefähr so klein", dabei hielt er seine Hand an den oberen Teil seiner Brust, „hat so kürzere, braune Haare und die schönsten Augen."

Er machte eine kurze Pause und schaute den Igel gespannt an, der ihn noch immer anfauchte. Ein Schmunzeln konnte ich mir bei seinem dämlichen Gelaber nicht verkneifen, auch, wenn es irgendwie süß war und mein Gesicht erhitzte.

Collin nickte, als würde er verstehen, was das kleine Tierchen von ihm wollte und sagte: „Du meinst also, ich find' sie, wenn ich dich berühr'? Aber ich hab' eine Katzenhaarallergie!"
Er war so entsetzt über diese Tatsache, dass ich kurz lachend stehen blieb und das Schauspiel noch ein wenig betrachtete.

„Na gut, dann komm her und halt still."
Collin bewegte sich widerwillig ein paar Zentimeter auf den Igel zu, der nun so laut wurde, dass ich mir sicher war, er würde gleich an einem Herzinfarkt sterben, und streckte langsam seine Hand nach ihm aus.
Als ich begriff, was er da gerade versuchte, sprintete ich auf ihn zu und schlug seine Hand von dem Vieh weg.

„Sag mal spinnst du?!", schrie ich Collin an, der nur verwirrt zu mir hoch blinzelte. „Du kannst doch nicht einfach einen Igel streicheln! Der hat Stacheln und außerdem übertragen die Krankheiten!"
Ich öffnete das grün lackierte Gartentor und befreite das arme Tierchen aus dieser Situation, bevor es noch zu kollabieren drohte.

„Alenia!" Collin sprang auf und umarmte mich hastig, wobei ich fast das Gleichgewicht verlor, da er sich ziemlich an mich hängte, und mich gerade noch so vor dem Umfallen bewahren konnte.
Sein Parfüm, gemischt mit Alkohol, drang mir in die Nase und ließ kleine Schmetterlinge in meinem Bauch entstehen. Erst jetzt realisierte ich, wie sehr ich seinen Geruch und seine Präsenz vermisst hatte.

„Die Katze wollte mir gerade verraten, wo du bist", erklärte er mir enttäuscht und ließ mich wieder los. Ich beschloss, ihn einfach in dem Glauben zu lassen, dass er gerade mit einer Katze gesprochen hatte. Alles andere würde er momentan wahrscheinlich eh nicht verstehen.
Die Flasche Vodka, die er noch immer in der Hand hatte, hielt er jetzt gefährlich schief, weshalb die durchsichtige Flüssigkeit drohte, sich jeden Augenblick auf dem Boden zu verteilen.

„Darf ich?", fragte ich ihn und nahm ihm den Alkohol aus der Hand. Kurz schaute ich mich um, ob es Zeugen geben würde und stellte die Flasche dann einfach auf die steinerne Mauer. „Die brauchst du nicht mehr. Ich glaube, du hast schon genug getrunken."

„Aber", fing Collin an, verstummte dann jedoch und nickte. „Du hast recht. Die war eh nicht für mich. Ich habe noch nicht einmal daran genippt. Lass uns lieber zu dir nach Hause gehen", trällerte er fröhlich und marschierte dann guter Dinge auf die Straße.

Es war zwar im Moment kein Verkehr unterwegs, aber trotzdem eilte ich zu ihm und zog ihn zurück auf den Gehsteig. Ich wollte nichts riskieren und lieber auf Nummer sicher gehen.
„Ja, aber nicht da lang", erklärte ich ihm und deutete in die Richtung, aus der ich gekommen war. „Hier."

„Ja, macht Sinn", stimmte Collin mir zu und torkelte um die Ecke. Ich hielt mich dicht an seiner Seite, da ich keine Lust darauf hatte, ihn am Ende noch von der Straße kratzen zu müssen.
Außerdem würde mir der Autofahrer mehr als leid tun, wenn er so einen Koloss anfahren würde.

„Weißt du", begann Collin und lächelte mir zu, „ich hab' zwar versucht, dich die ganze Woche über in der Schule zu ignorieren, aber eigentlich hab' ich das nicht hinbekommen."
Verwirrt runzelte ich die Augenbrauen. Wie sollte ich das jetzt verstehen? Hatte er mich etwa beobachtet? Dabei dachte ich, ich wäre der Stalker von uns beiden.
„Hab' auch überlegt, ob ich dir einfach von dieser Schnapsidee erzählen soll, aber ich hatte Angst, dass du mich dann hasst, wenn du die Wahrheit kennst, deswegen..." Mitten im Satz verstummte er und blieb unter einer Straßenlaterne stehen, die ihm ins Gesicht strahlte, als er seinen Kopf in den Nacken legte und hinauf blickte.

Geduldig wartete ich. „Deswegen?" Mich interessierte es ein bisschen zu sehr, was er zu sagen hatte, als dass ich sein Schweigen einfach akzeptieren würde. Ich war überrascht, wie offen er durch den Alkohol plötzlich war und wollte es ausnutzen, auch, wenn es unmoralisch sein mochte.

Nur leider machte Collin da nicht mit. Er schien sich auf einmal in einem ganz anderen Universum zu befinden. Die Motten, die in wilden Kreisen um die Laterne flatterten und sich darum stritten, wer am meisten Licht bekommt, waren die Einzigen, denen er Aufmerksamkeit schenkte. Es wirkte fast, als hätte er diese Art von Tieren noch nie vorher gesehen, so fasziniert war er von ihnen.

Ich erwischte mich dabei, wie sich ein Lächeln auf meine Lippen schlich. Es war ein groteskes Bild, das sich mir bot. Ein zumindest körperlich erwachsener Riese, der von kleinen Flattertierchen in deren Bann gezogen wurde und wie ein Kleinkind, das mit großen Augen vor einem Süßigkeitenladen stand, zu ihnen glotzte.

„Komm", meinte ich schließlich, um seine Trance zu durchbrechen und nahm sein Handgelenk. „Wenn du zu lange ins Licht schaust, ist das schlecht für deine Augen." Langsam kam ich mir vor, wie seine Mutter und war mir sicher, dass ich mich auch so anhörte.

Sanft zog ich Collin weiter, was dieser einfach geschehen ließ. Wahrscheinlich war er zu dicht, um sich wehren zu können, wobei ich das Gefühl hatte, als wäre es eigentlich ganz okay, was seinen Alkoholpegel anging.
„Du wolltest mir gerade eben was erzählen. Dass du mir die Wahrheit sagen wolltest?", fragte ich und versuchte damit, ihm wieder auf die Sprünge zu helfen.

Als er seine Augen endlich von der Straßenlaterne abwandte, blinzelte er wie ein Kaputter. „Boah! Ich seh überall Punkte! Bin ich im Himmel? Bin ich etwa tot?!"
Verwirrt tastete er durch die kalte Nachtluft. Was seine Mission war, blieb mir ein Rätsel, aber ich vermutete, dass er versuchte, die Lichtpunkte, die er gesichtete hatte, zu fangen.
Das Ganze sah so bescheuert aus, dass ich anfing zu kichern.

„Nein, Collin. Du lebst noch. Aber wenn du nicht langsam mal einen Schritt schneller läufst, könnte es passieren, dass du an Unterkühlung stirbst", scherzte ich und amüsierte mich an seinem entsetzten Gesichtsausdruck. 

„Worauf wartest du dann noch? Lauf doch mal zu!", brabbelte er und wurde auf einmal so schnell, dass ich durch mein Kichern kaum noch mit ihm mithalten konnte. Spätestens jetzt war ich mir sicher, dass er seinen Monolog von vorhin nicht mehr weiterführen würde, was ich ein bisschen schade fand. Ich hätte gerne gewusst, was er sagen wollte. Teilweise hatte es wie ein Geständnis gewirkt und womöglich hätte ich ja sogar herausgefunden, was diese ominöse Wahrheit war, von der Aron und er ständig sprachen.

„Collin!", rief ich, da er mittlerweile schon ein ganzes Stück weiter war, als ich. „Warte mal!" Womöglich sollte ich wirklich damit beginnen, Sport zu treiben. Wenn man bedachte, dass ich von ein paar Metern hinter einem betrunkenen Collin her sputen, schon so aus der Puste war und das, obwohl er nicht einmal rannte, war das schon ziemlich traurig und man konnte mit gutem Gewissen behaupten, dass ich unsportlich war.
Zu meine Verteidigung musste man aber auch dazu sagen, dass es bergauf ging.

Als ich den Jungen endlich eingeholt hatte, lenkte ich ihn über die Straße, da er schon wieder in die falsche Richtung abbiegen wollte. Ohne weiter darüber nachzudenken, griff ich nach seiner Hand und nahm sie in meine. Die Schmetterlinge in meinem Bauch tanzten wilden Tango, während ich mir einredete, dass es keine große Sache wäre. Immerhin wollte ich ihn ja bloß besser unter Kontrolle haben und ihm nicht die ganze Zeit nachrennen müssen, wenn er mal wieder einen falschen Weg einschlagen wollte.

Meinen schnellen Herzschlag ignorierend, der mittlerweile nicht mehr bloß durch den Hügelaufstieg in die Höhe getrieben wurde, zog ich Collin hinter mir her und war mehr als erleichtert, als ich endlich unser Haus entdeckte.

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