Kapitel 2

Mein Blick war auf den Boden gerichtet, als ich durch die schwere Eingangstür hinaus auf den Hof lief. Eine Haarsträhne rutschte mir vor die Augen, woraufhin ich sie wieder hinter mein Ohr steckte.

„Du kannst deine Haare ruhig ins Gesicht hängen lassen. Dann müssen wir wenigstens nicht mehr deine Visage ertragen", kam es von irgendwo rechts in meine Richtung geschallt.
Ich drehte meinen Kopf und erkannte Vivienne, in ihrem roten, teuer aussehenden Mantel, neben einem Jungen stehen. Er drehte mir nur den Rücken zu, weshalb ich nicht sagen konnte, wer er war. Die zwei schienen sich über etwas zu unterhalten und wirkten ziemlich angestrengt dabei.

„Was glotzt du so? Neidisch?" Bei diesem Kommentar warf sie ihre langen, blonden Haare nach hinten und setzte ein eingebildetes Lächeln auf. Jetzt drehte sich auch der Junge zu mir und ich identifizierte ihn als Collin. Seine Augen flogen über den Hof und anscheinend hatte er keine Ahnung, dass sie mit mir redete. Viviennes Absätze machten sie so groß, dass sie fast mit Collin auf der gleichen Höhe war, obwohl dieser schon alles andere als klein war.

Schnell wandte ich mich wieder von den beiden ab und setzte meinen Weg mit raschen Schritten fort. Umso eher ich aus ihrem Blickfeld entkommen konnte, desto besser. Ich entschied mich dafür, nach Hause zu laufen und nicht den Bus zu nehmen. So könnte ich auch einen kleinen Umweg zu meiner Mutter machen.

Ein paar Häuser weiter, verlangsamte ich meinen Gang und bog in den Park ab. Flink huschte ein Eichhörnchen vor mir über den Weg und verschwand hinter einem Baum. Kurz sah ich sein rötliches Fell nochmal in der Baumkrone aufblitzen, ehe es in eine kleine Höhle im Stamm flitzte. Es waren so gut wie keine Leute hier unterwegs.

Ich lief zu einer Hecke und zwängte mich durch eine schmale Lücke, die ich vor einiger Zeit hier entdeckt hatte. Die Zweige machten ein kratzendes Geräusch, als sie über meine Jacke fuhren und schnippten gegen meine Arme. Auf der anderen Seite der kargen Hecke, war es komplett still und es war weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Die Steine ruhten grau und trist vor mir. Vereinzelt lagen ein paar Blumen davor, die aber auch schon ziemlich erfroren wirkten.

Ich bahnte mir meinen Weg über die kalte Grasfläche und schlängelte mich an ein paar Grabsteinen vorbei. Wahrscheinlich hätte ich die Richtung auch gefunden, ohne meine Augen zu benutzen, sooft war ich schon hier gewesen. Manchmal fühlte es sich an, wie ein zweites Zuhause, auch, wenn das eher untypisch für einen Friedhof war.

Als ich vor einem bläulich schimmernden Stein ankam, blieb ich stehen und schaute nach unten. Hannah Price, stand in geschwungenen Lettern darauf und ein kleines Vögelchen zierte den Platz neben ihrem Namen.
Ein paar Sekunden stand ich einfach nur da und starrte es an. Dann atmete ich eine kalte, weiße Wolke aus und ging vor dem Grab in die Knie.

„Hey, Mom", begann ich. Oft führte ich stundenlange Monologe vor ihr, obwohl ich wusste, dass sie mir niemals wieder antworten würde. „Tut mir leid, dass ich schon eine Weile nicht mehr hier war. Ich werde dich jetzt wieder öfters besuchen kommen. Was hältst du davon?"
Wie ein nasser Sack ließ ich mich nach hinten fallen und spürte direkt, wie sich die Kälte durch meine Hose fraß.
„Die Feiertage und Neujahr waren nicht wirklich besonders. Dad und Luca waren, genauso wenig in Weihnachtsstimmung, wie ich und Mia hat nur mal kurz angerufen. Sie hat erzählt, dass ihr Studium gut läuft."
Eine kleine Pause entstand, in der ich kurz in Gedanken war. „Naja, im Prinzip war es genauso, wie die letzten zwei Jahre auch. Ich war wieder in meinem Zimmer und habe gehofft, dass es schneien würde. Hat es natürlich nicht."
Meine Mutter hatte das kalte Weiß genauso geliebt, wie ich es tat, weswegen ich mich immer gerne an die Zeit zurückerinnerte, als wir gemeinsam darin herumgetollt waren.

„Du hast mir gefehlt, Mom." Ich streckte meine Hand nach dem Stein aus und strich über ihren Namen. Er war rau und kalt.
„In der Schule hat sich auch nichts verändert. Vivienne ist noch immer die Alte und hat Spaß daran, mich zu ärgern. Heute habe ich daran denken müssen, was du wohl dazu gesagt hättest." Ein kurzes, trauriges Lächeln zeichnete sich auf meinem Gesicht ab. „Wie gern ich deine Stimme nochmal hören würde."
Ich spürte, wie eine einzelne Träne mein Auge verließ und heiß meine Wange hinunterlief. Einen Moment saß ich einfach nur wie versteinert da und nahm meine Hände zu meiner Brust. Dann brach es einfach aus mir heraus und die Tränen liefen und liefen. Unaufhaltsam, wie eine Horde Büffel über die Prärie hinweg trampelte.

Nach ein paar Minuten hatte ich mich wieder gefangen und trocknete die restliche Nässe mit meinen Ärmeln. Meine Nase lief noch etwas und gerade merkte ich wieder, wie kalt es eigentlich war.
Eine Weile saß ich noch so da und betrachtete die geschwungene Schrift, bis ich mich aufrichtete und meine Hände in meine Jackentaschen steckte.
„Mach's gut, Mom. Ich werde dich bald wieder besuchen kommen, vielleicht schon morgen", verabschiedete ich mich und machte mich dann auf den Weg nach Hause.

**

Die ganze Gegend sah ziemlich grau aus und nirgendwo konnte man einen Menschen entdecken.
Mit langsamen Schritten stieg ich die paar kleinen Treppenstufen zu unserer Haustür hoch und holte den Schlüssel aus meiner Jackentasche. Es klimperte, als der Metallring gegen die Tür schlug. Mit wenig Elan schloss ich auf, trat über die Schwelle und zog die Haustür hinter mir wieder zu.
Nachdem ich mich aus meiner Jacke geschält und meine Schuhe abgestreift hatte, tapste ich mit Socken in das Wohnzimmer. Noch immer fröstelnd, schmiss ich mich auf die Couch und legte meinen Kopf nach hinten auf der Lehne ab.

„Na, auch mal da?", kam es von hinter mir. Alles, was ich zurückgab, war ein Brummen. „Wo warst du denn bitte so lange? Wenn mich nicht alles täuscht, hattest du doch schon vor über zwei Stunden Schule aus." Mein großer Bruder setzte sich schräg gegenüber von mir auf einen Teil des Sofas und betrachtete mich mit skeptischem Blick. Er löffelte gerade, wie ich annahm, Cornflakes aus einer Schüssel und suchte mit einer Hand nach der Fernbedienung. Bei seinem Anblick erinnerte sich mein Magen daran, dass er auch Hunger hatte und knurrte einmal laut.

„Ich war noch kurz auf dem Friedhof", gab ich nuschelnd zurück.
„Kurz. Aha", machte Luca. „Wenn 2 Stunden für dich kurz sind, okay." Als er über die Zeitspanne sprach, machte er mit einer Hand Gänsefüßchen in die Luft und zuckte mit den Schultern.

Erschöpft stand ich auf und schleppte mich in die offene Küche, die direkt gegenüber vom Wohnzimmer war.
„Wie kommt's eigentlich, dass du schon hier bist", fragte ich ihn, während ich meine Nase in den Kühlschrank steckte. Ich hörte, dass er gerade mit Kauen beschäftigt war, weshalb ich noch keine Antwort bekam. Kurzerhand entschied ich mich dafür, dass ich mir ein Sandwich machen wollte und sortierte alle nötigen Zutaten aus den Regalen.

„Willst du auch ein Sandwich, Luca?" Als ich mich zu ihm herumdrehte, hatte er endlich die Fernbedienung gefunden und schaltete den Fernseher an. Wartend zog ich eine Augenbraue nach oben und stemmte eine Hand in die Seite.
„Ist das ein Nein?", wollte ich wissen und wusste, dass dem nicht so war. Mein Bruder sagte nie nein zu Essen. „Wenn das so ist, muss ich ja nur eins machen und kann mir Arbeit sparen. Eigentlich sehr nett von dir, dass du mir nicht noch mehr Zeit rauben willst", meinte ich, nachdem ich mich zur Arbeitsplatte umgedreht hatte und begann schelmisch zu lächeln.

„Hey hey, warte. Mach eins für mich mit, ja?", kam es schmatzend vom Wohnzimmer.

Als ich unsere beiden Brote fertig hatte, balancierte ich die zwei Teller zur Couch und stellte sie auf dem Tisch davor ab.
„Danke, sieht gut aus", meinte mein Bruder und biss, kaum, dass ich es ihm gereicht hatte, hinein. Sprachlos sah ich ihm dabei zu, wie er es innerhalb von einer Minute verspeist hatte und sich zufrieden nach hinten lehnte. Ein Lachen entwich mir und ich schüttelte nur den Kopf.
„Was?", wollte er wissen und verschränkte grinsend seine Arme hinter seinem Kopf.
„Ach nichts."

Nachdem ich fertig gegessen hatte, verzog ich mich auf mein Zimmer und nahm meine Schultasche mit nach oben. Heute war der erste Tag nach den Winterferien gewesen und ich war jetzt schon so fertig. Müde ließ ich mich auf mein Bett fallen und starrte an die Decke. Draußen war es mittlerweile schon ziemlich dunkel geworden, weshalb nur der Schein einer Straßenlaterne leicht durch mein Fenster hereinschien. Meine Hände hatte ich auf meinen Bauch gelegt. Es entspannte mich immer etwas, wenn ich meinen Atem spüren konnte.

Kurz schloss ich meine Augen und bemerkte, dass meine Gedanken wieder abdrifteten.
Du wirst nie von ihnen akzeptiert werden. Siehst du es nicht? Alle hassen dich!
Eine Träne kullerte seitlich mein Gesicht herunter und tropfte auf meine Bettdecke. Natürlich wusste ich, dass diese Stimme in meinem Kopf recht hatte, aber dennoch konnte ich nicht einfach so aufgeben, oder?

Traurig drehte ich mich auf die Seite und zog meine Beine an meinen Körper. Ich machte mich so klein, wie ich konnte und wollte einfach nur meine Ruhe haben. Nichts hören, nichts denken, nichts fühlen und auch nichts sehen. Mit meinen Händen bedeckte ich meine Augen, sodass es komplett schwarz wurde. In mir spürte ich wieder diese hässlichen Gefühle aufkommen, weshalb ich meine Lider so fest es ging zusammen kniff. Wie konnte ich dieses Kribbeln unter meiner Haut nur verdrängen und abstellen? Ich wollte nicht glauben, dass es nur den Schmerz gab, der das alles übertönte.

Mit einem lauten Seufzer stand ich auf und trat ans Fenster. Die kühle Scheibe strahlte angenehme Frische aus, was ich als sehr schön empfand. Zögernd öffnete ich den Griff und zog die Balkontür auf. Der frostige Wind wehte mir wohltuend durch die Haare und verschwand in meinem Zimmer.

Nachdem ich ein paar Mal tief durchgeatmet hatte, ließ ich die Schultern hängen und schloss die Tür wieder.
Du weißt, was dir helfen kann, flüsterte es in meinem Kopf.
Mein Schädel begann zu dröhnen, während ich meine Zähne fest aufeinander presste. Ich wollte das nicht.

Mit meinen Händen drückte ich gegen meine Schläfen, in der Hoffnung, dass der Schmerz nachlassen würde. Verzweifelt hielt ich meine Stirn gegen die kühle Fensterscheibe und spürte, wie allmählich alles in mir von einer müden Wärme eingenommen wurde. Die Tränen konnte ich nun nicht mehr zurückhalten und ich merkte, wie langsam meine Wangen nass wurden.

Plötzlich entspannte sich mein Körper wieder und ich beobachtete ausgelaugt und mit halb offenen Augen, wie sich ein Tropfen von meinem Kinn löste und hinunter auf den Boden fiel.
Du hast es geschafft, redete ich mir selbst gut zu. Du hast der Stimme nicht nachgegeben.

Meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding und im nächsten Moment saß ich schon am Boden. In meinem Kopf schien es leer zu sein. Ganz so, als würde er von weicher Watte ausgefüllt werden. Mit einem leichten Lächeln senkte ich mein Gesicht und spürte die heißen Tränen noch immer meine Wangen herunterfließen.

Warum heulst du nur immer so viel!

Das Lächeln verschwand und wurde von einem gefühllosen Ausdruck abgelöst.
„Warum ...", flüsterte ich in die Stille hinein und stützte mich mit meinen Händen nach vorne ab. Das schwache Licht von draußen, erhellte eine Stelle auf meinem linken Unterarm, die mir sofort ins Auge stach. Schnell zog ich meinen Ärmel nach unten, um die Narben zu verdecken. Ich hasste mich dafür und wollte nie mehr daran erinnert werden.

Nach ein paar Minuten, in denen ich einfach nur dagesessen hatte, richtete ich mich auf und tauschte meine Jeans durch eine Jogginghose aus, was längst überfällig gewesen war. Dann warf ich die Decke zurück und legte mich auf mein Bett. Zitternd atmete ich aus, schloss kraftlos meine Lider und fiel in einen unruhigen Schlaf.

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