Kapitel 11

Als ich durch die Haustür schlich und mich im Wohnzimmer umsah, konnte ich niemanden entdecken, was mich etwas erleichterte. Schnell zog ich meine Schuhe und die Jacke aus und schlurfte in mein Zimmer. Die Tür schloss ich mit einem ganz leisen Klicken hinter mir zu und lief vor mein Fenster. Erschöpft sank ich zu Boden und lehnte meinen Kopf an die kühle Scheibe. Mittlerweile hatte ich aufgehört zu weinen und war nur noch müde. Meine Nasenspitze und meine Wangen waren noch immer eingefroren, was ich feststellte, als ich mir die salzige Nässe mit dem Ärmel wegwischen wollte.

Und? Was willst du jetzt machen? Wieder nur rumheulen?, meinte die Stimme in meinem Kopf und lachte böse.
Es stimmte. Mal wieder war ich nur weggelaufen und hatte geweint. Aber was sollte ich auch anderes tun? Wahrscheinlich war es für die meisten Leute unverständlich, aber für mich war es schlimm, dass sie nun von dem Tod meiner Mutter wussten. Wieso konnte ich nicht sagen. Vielleicht, weil mein Vater versucht hatte, es mit aller Gewalt aus unserem Leben zu verbannen oder weil ich noch nicht darüber hinweg war und sie schrecklich vermisste.

Erneut packte mich eine Woge der Traurigkeit und ich verzog mich auf mein Bett. Die Tränen liefen wieder nur still meine Wangen hinunter und ließen langsam meine Haut auftauen. Mein Innerstes sehnte sich nach Erholung und Ruhe. Ein einsamer Schluchzer schlich sich über meine Lippen und ich presste meine Hände vor meinen Mund, da ich Angst hatte, es könnte jemand hören, obwohl ich alleine im Haus war.

Unruhig richtete ich mich auf und schaute geradewegs in den Spiegel, der neben meinem Kleiderschrank stand. Meine Haare waren unschön zerzaust und meine Augen verheult. Die rote Nasenspitze fiel besonders auf, weshalb ich schnell meinen Kopf zur Seite drehte, um nicht mehr mein Spiegelbild ertragen zu müssen.

Ein Gefühl von Unruhe zwang mich aufzustehen und immer wieder ballte ich meine Hände zu Fäusten, nur um sie dann wieder locker zu lassen. Ich wusste genau, was das für ein Vorbote war und versuchte gegen den Drang anzukämpfen. Mittlerweile hatte ich es schon ein paar Mal geschafft und es war noch ein kleiner Funken in mir, der daran glaubte, dass alles gut werden würde. Solange ich ihn nicht erlöschen ließ, gab es Hoffnung. 

Komm schon, wieso wehrst du dich? Stell dir nur dieses Gefühl von Erlösung vor. Ist das nicht fantastisch?

Hektisch beschleunigte ich meine Schritte und biss meine Zähne zusammen. Der kleine Funken in mir versuchte zu schreien, dass alles besser werden würde. „Es geht vorbei", rief er gegen die Dunkelheit, die mich zu überkommen schien. Anfangs hörte ich ihn noch, wie ein penetrantes Flüstern im Ohr, wie Tinnitus. Doch obwohl er sich immer mehr anstrengte und versuchte so laut es ging zu schreien, verstummte er, bis ich ihn gar nicht mehr vernahm.

Nervös blieb ich stehen und sah auf den Boden. Ich spürte diesen Druck, dieses Kribbeln in meinem Gesicht, den Fußsohlen, Handflächen und in meinen Unterarmen. Angestrengt umfasste ich mein linkes Handgelenk und fuhr dann mit meinen Fingern immer höher. Dabei quetschte ich sie wütend in meine Haut, was helle Abdrücke hinterließ, die allmählich rot wurden.

Dieser Druck nahm stetig zu und langsam trieb es mich in den Wahnsinn.
Tu es einfach! Was ist schon dabei. Es geht ganz schnell und dann ist alles vorbei.
Wieder dieses boshafte Lachen in meinem Kopf und mein Blick, der hilfesuchend durch mein Zimmer glitt und an meinem Schreibtisch hängen blieb. Ein Moment des Zögerns, da ich es eigentlich nicht wollte, ehe ich mit drei Schritten bei der Schublade war, mich auf den Boden fallen ließ und ein glänzendes Metallstück in der Hand hielt.

Mit so viel Abscheu betrachtete ich es und da war plötzlich wieder dieser kleine Funke, der sich sträubte, versuchte mich zur Vernunft zu bringen, doch es war zu spät. Die Traurigkeit hatte sich bereits über mich gelegt und ein schwarzer Schatten drückte mich zu Boden. Ich war wie ausgewechselt, eine völlig andere Person und erkannte mich selbst nicht wieder.

Das Verlangen wuchs so weit an, bis es seinen Willen bekam, ich langsam nach hinten an mein Bett robbte, um mich daran anzulehnen, und meinen Ärmel wie ferngesteuert nach hinten zog. Wieder entkam ein Schluchzen aus meiner Kehle und erfüllte den Raum kurz mit einer tiefen Traurigkeit. Still rannten die Tränen weiter mein Gesicht herunter und sammelten sich an meinem Kinn. Mit einem dumpfen Geräusch tropften sie nach und nach auf meine Kleidung und hinterließen einen nassen Fleck.

Die Klinge in meiner Hand fühlte sich kalt an und ich hatte sie mit meinen Augen fokussiert. Mit zittrigen Fingern legte ich sie auf die dünne Hautschicht, die so hell war, dass man das Blau der Adern durchblitzen sehen konnte.
So ist's gut, kommentierten meine Gedanken und ein leichtes Gefühl der Euphorie pulsierte durch mich. Mein Handeln war zwar keineswegs lobenswert, aber es gab mir ein Gefühl von Kontrolle, Macht und Genugtuung. Es erschuf die Illusion in meinem Kopf, dass ich so meine Probleme lösen könnte und vor der Realität davonlaufen könnte.

Ein stechender Schmerz durchfuhr meinen Arm, als ich das Metall sanft in meine Haut drückte und mit einer schnellen Bewegung zur Seite zog. Wie gebannt sah ich zu, wie sich der Strich nach und nach mit Rot füllte und, wie von einer unsichtbaren Haut gehalten, immer mehr heraustrat, aber nicht davon floss.

Die Anspannung und der Druck nahmen nun wieder langsam ab und mit jedem Mal, bei dem ich erneut in meine Haut schnitt oder in einen bereits blutenden Strich, drängte ich meine negativen Emotionen ein kleines Stück mehr in die hinterste Ecke meines Kopfes und fühlte mich immer befreiter, bis ich schließlich unendlich erschöpft die Klinge fallen ließ und meinen Kopf nach hinten auf mein Bett legte.

Schon viele Male und sehr oft musste ich dagegen ankämpfen, meine Haut aufzuschneiden. Eigentlich konnte ich kein Blut sehen und ekelte mich schon bei der Vorstellung, dass Metall meine Zellen spaltete, aber es war wie eine Sucht. Kaum, dass es mir wieder schlechter ging oder mich etwas stresste, ploppte dieser Wunsch in mir auf, es wieder zu tun.

Augenblicklich hasste ich mich selber dafür, dass ich heute der Versuchung nachgegeben hatte und wünschte, alles rückgängig machen zu können. Natürlich ging das nicht und jetzt musste ich gezwungenermaßen mit meiner Tat und den Konsequenzen leben.

Wie ein Embryo rollte ich mich in meiner Bettdecke ein und starrte mit leerem Blick in meinem Zimmer herum. Meine Augen schafften es nicht irgendwas zu fokussieren, sondern stierten einfach nur in die Dunkelheit. Das ging solange, bis ich in einen traumlosen Schlaf fiel.

**

Am nächsten Morgen wachte ich noch immer müde auf und fühlte mich wie gerädert. Die ganze Nacht hatte ich in so einer unbequemen Position verbracht, dass mein Nacken nun irgendwie klemmte und ein nerviges Ziehen in meinem Kopf zu sein schien. Ich war unglaublich froh, dass heute Samstag war und ich nicht in die Schule musste, wo die Gefahr bestanden hätte, Collin zu begegnen.

Als ich einen Blick auf mein Handy warf, dass mir soeben eine Erinnerung geschickt hatte, dass ich heute arbeiten musste, wurde meine Laune ein wenig besser, da ich mich bei Gabriella immer gerne ablenkte. Mir war zwar bewusst, dass ich dort auf Francesca treffen würde, aber ich schätzte sie nicht als solch eine Person ein, die ständig auf unangenehmen Situationen herumritt und einen mit Fragen in die Enge trieb.

Langsam schlurfte ich hinaus in den Gang und sah, dass Lucas Zimmertür offen stand. Von unten ertönte irgendein Rocklied, zu dem er gut gelaunt mitsang. Überrascht hob ich die Augenbrauen und machte mich auf den Weg zur Treppe. Es war recht untypisch, dass er so fröhlich hier herumtanzte.

„Was ist denn hier los?", fragte ich, als ich unten angekommen war, und konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. Mein Bruder hatte eine Kochschürze an, einen Staubwedel in der Hand und wackelte mit dem Hintern zum Takt der Musik, während er aufräumte.

Heiter drehte er sich zu mir um und meinte: „Dir auch einen guten Morgen Schwesterchen. Ich mach hier sauber, siehst du doch." Zur Demonstration schüttelte er nacheinander die Kissen, die auf der Couch gelegen hatten, aus und platzierte sie wieder ordentlich auf den Polstern.

Als ich ein paar Schritte auf ihn zu gelaufen kam, strömte mir ein leckerer Geruch entgegen, der mich irgendwie an meine Mom erinnerte. Schlagartig verdüsterte sich wieder meine Miene und ich schaute mich in der Küche um. Auf drei Tellern lag jeweils ein Omelette, das exakt genauso aussah, wie die, die meine Mom immer gemacht hatte.

Still stand ich da und starrte die Teller an. „Seit wann kannst du sowas?", wollte ich mit monotoner Stimme von Luca wissen.

Noch immer leise zur Musik singend, kam er zu mir getänzelt. „Mom hat es mir mal irgendwann beigebracht, bevor sie mit ihrer Freundin zu so einem Wellness Urlaub gefahren ist. Sie wollte, dass wir auch ja nicht verhungern. Du weißt ja, wie gut Dads Kochkünste sind", erklärte er mir und holte währenddessen Besteck.

Langsam nickte ich und war kurz wie weggetreten gewesen. Es klang typisch für meine Mutter. Immer, wenn sie ein paar Tage mal nicht da gewesen war, was nicht oft vorgekommen ist, hatte sie sich vorher vergewissert, dass wir nicht verhungern würden und hatte nochmal extra viel eingekauft.

„Willst du nichts essen?", riss mich die Stimme meines Bruders aus meinen Gedanken. Wartend hielt er mir ein Omelette entgegen und zog eine Augenbraue nach oben. Bei seinem Anblick musste ich kurz schmunzeln, da er mich einfach zu sehr an eine Putzfrau erinnerte, was so gar nicht zu seinem normalen Erscheinungsbild passte.

Dankbar nahm ich den Teller entgegen und sog den Geruch tief ein. Es weckte nur schöne Erinnerungen, was ich noch etwas genoss, bevor ich es meinem Bruder gleich tat und anfing zu essen.

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Es ist nicht meine Meisterleistung, aber dieses Kapitel gehört trotzdem zur Geschichte. Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass Depression eine ernst zu nehmende Krankheit ist und ihr euch unbedingt Hilfe suchen solltet, wenn ihr euch in diesem Kapitel oder nur Teilen wiedergefunden habt.

Niemand von euch ist wertlos und jeder verdient es zu leben und geliebt zu werden <3

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