Kapitel 10
Als es gegongt hatte, verließen Francesca und ich hinter den Jungs den Klassenraum. Auf dem Flur war heute mal nicht das reinste Chaos, was aber auch daran liegen konnte, dass wir uns im 2.Stock befanden und hier oben nicht so viel Unterricht stattfand.
„Habt ihr jetzt schon was vor?", kam es von Aron. „Wir könnten bereden, wen wir für unser Referat nehmen wollen." Nacheinander sah er uns an und blieb stehen.
In meinem Kopf tauchte plötzlich das Bild eines großen Grabsteins auf, den eine Statue zierte. Kurz haderte ich, ob es eine gute Idee wäre, ihn vorzuschlagen, entschied mich dann aber dafür.
„Ähm... Wie wär's mit William Stonebridge? Der Gründer der Stadt", meinte ich leise, woraufhin mir alle drei einen überraschten Blick zuwarfen. „Er ist wichtig und hat was mit der Stadt zu tun. Immerhin gäbe es unser Zuhause ohne ihn wahrscheinlich nicht."
Collin war der Erste, der sich dazu äußerte. „Find ich gut." Zufrieden zwinkerte er mir zu, was mich innerlich kurz aufwühlte, ehe ich mich wieder unter Kontrolle hatte. Ich musste unbedingt etwas dagegen unternehmen, dass er mich immer so durcheinander brachte und ich anfing zu schwitzen. Langsam stresste mich das ganz schön.
Auch Aron hatte nichts dagegen und Francesca war es sowieso egal, da sie keine Ahnung von allem hatte.
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Zusammen liefen wir aus der Schule und da niemand widersprochen hatte, gingen einfach alle davon aus, dass niemand etwas vorhatte. Auf dem Weg nach draußen, erzählte ich ihnen von Williams Grab und wir beschlossen, mal dorthin zu schauen.
Während uns vor allem Mädchen eifersüchtige Blick zuwarfen, welche ich zu ignorieren versuchte, entfernten wir uns immer weiter vom Schulgelände und überquerten die Straße. Mich hatten sie vorlaufen lassen, da ich den Weg kannte, weshalb die Jungs hinter Francesca und mir gingen, was mich leicht nervös machte. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich mich nicht mehr normal fortbewegen, ohne, dass meine Füße die ganze Zeit irgendwo hängen blieben und ich ein paar Mal fast stolperte.
„Wieso kennst du dich so gut auf dem Friedhof aus?", fragte mich Francesca, während sie ihre Haare hochband.
Sofort spürte ich, wie ich mich versteifte und nun wirklich fast hinfiel. Gerade noch so, konnte ich mich fangen, sodass es einfach nur peinlich war.
„Alles gut, Alenia?", erkundigte sich Aron und hatte das Gespräch mit Collin unterbrochen.
Stumm nickte ich nur und sah trüb auf den Boden, um niemanden anschauen zu müssen und nicht wieder an einem Stein hängenzubleiben.
Als die Jungs sich wieder unterhielten, meinte ich zu Francesca: „Ich wohne einfach schon sehr lange hier." Es war ja nicht gelogen, nur nicht der wahre Grund. Auch, wenn meine Mutter jetzt schon 2 Jahre weg war, konnte ich noch immer nicht darüber reden und es fühlte sich jeden Tag an, als hätte ich sie erst gestern verloren. Noch immer schmerzte es höllisch.
Ich vergrub mein Kinn tiefer in meiner Jacke und schüttelte leicht meinen Kopf, sodass mir meine Haare vor das Gesicht fielen. Meine Augen waren feucht geworden und ich wollte nicht, dass es jemand mitbekam.
„Hm, okay. Wie lange wohnst du denn schon hier?" Die Italienerin blickte mich von der Seite an und ich musste mich kurz räuspern, weil ich Angst hatte, meine Stimme würde nicht mitmachen.
„Eigentlich schon mein ganzes Leben." Ich ließ unerwähnt, dass ich eine Zeit lang fast nur bei meinen Großeltern war und somit quasi bei ihnen eingezogen war. Das spielte jetzt sowieso keine Rolle mehr.
„Oh, das ist eine ganz schön lange Zeit. Ich könnte mir niemals vorstellen, nicht öfters mal rumzukommen." Ungläubig schüttelte sie den Kopf und lachte etwas. „Bevor ich hierher gezogen bin, habe ich bei meinem Vater in Italien gewohnt, aber das weißt du ja schon. Er ist oft umgezogen. Erst Schweiz, dann Deutschland, Österreich und schließlich ist er wieder in Italien gelandet", erzählte sie und sah dabei etwas traurig aus. „Weißt du, es ist nicht gerade toll, wenn man öfters umzieht. Man muss ständig Schule wechseln und seine neuen Freunde zurücklassen. Aber jetzt bin ich ja zum Glück hier und werde auch so schnell nicht wieder gehen." Sie strahlte mich an und ich konnte nicht anders, als mich zwingen zurück zulächeln.
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Als wir den Park erreicht hatten, führte ich die Drei nicht zu dem kleinen Schlitz in der Hecke, da es sich irgendwie falsch anfühlte, ihnen meinen geheimen Durchgang zu zeigen. Stattdessen liefen wir einmal komplett über die weitläufige Grasfläche und marschierten zu dem niedrigen Eisentor, durch das man auf den Friedhof gelangte. Das eingefrorene Gras knirschte unter unseren Füßen und es brauchte etwas Druck, um das Türchen zu öffnen. Im Gänsemarsch führte ich sie an den Grabsteinen vorbei und zu der großen Statue, unter der das Grab von William Stonebridge lag.
„Hier ist es", sagte ich und zeigte auf die kleine Platte, auf der sein Name stand. Die Schrift war schon etwas verwittert, aber dennoch erkennbar.
„Hier ruht der ehrenwerte Gründer unserer schönen Stadt und ein geliebter Mensch, William Stonebridge. Von 1731 bis 1785", las Collin laut vor und stellte sich genau vor den imposanten Steinmann, der triumphierend seine Hände in die Seiten gestützt hatte und sein Kinn weit nach oben streckte. Dann drehte er sich um und schlenderte davon.
Ich beachtete ihn nicht weiter und stellte mich zu den anderen beiden, um mir die komplette Tafel durchzulesen, die, zu meinem Erstaunen, recht voll beschrieben war.
Francesca holte unterdessen ihren Block und einen Kugelschreiber heraus und notierte jede Kleinigkeit, die wir für wichtig erachteten. In dem kompakten Text, standen ein paar Namen von anderen Dörfern und Städten, in denen er war und irgendetwas besonders gemacht hatte, sowie, dass man ihm dafür dankte. Es schien, als wäre er ein beliebter Mensch gewesen, der viel Gutes getan hatte.
„Okay, gut. Mrs Wister hat vorhin noch irgendwas von Rathaus und dem städtischen Archiv geredet. Wir könnten mal schauen, ob wir da noch irgendwie reinkommen", schlug Aron vor und bekam unsere Zustimmung.
„Ich glaube, auf dem Marktplatz steht auch noch eine Statue von ihm." Soweit ich mich erinnern konnte, bin ich schon ein paar Mal daran vorbeigelaufen, hatte sie mir jedoch nie wirklich angesehen.
„Dieser Typ ist ja überall", meinte Francesca und lachte etwas. Nachdem sie ihren Block wieder eingepackt hatte, begutachtete sie die Statue. „Sieht ziemlich grimmig aus", stellte sie fest. Tatsächlich wirkte sein Gesicht nicht gerade freundlich.
„Ach, das ist normal. Früher wurden alle Leute mit so einem Gesichtsausdruck abgebildet. Da müsst ihr mal drauf achten. Kaum eine Figur lächelt. Alle schauen sie so ernst", klärte uns Aron auf und machte eine abfällige Geste.
„Hey, Alenia", rief Collin plötzlich, den ich tatsächlich ausgeblendet hatte. „Schau mal! Hier liegt auch jemand, der Price heißt. Ist das nicht auch dein Nachname?"
Sofort war ich wie versteinert und drehte mich erschrocken zu ihm um. Auf meinen Armen bildete sich eine Gänsehaut und ich spürte die Blicke von allen Dreien auf mir. Unfähig mich zu bewegen, starrte ich Collin nur mit weit aufgerissenen Augen an und merkte, dass ich sogar das Atmen eingestellt hatte.
„Eine Hannah Price, sagt dir das was? Ist noch gar nicht so lange her, dass sie gestorben ist und alt geworden ist sie auch nicht gerade, nur 41."
Tränen schossen mir in die Augen, die ich mit aller Kraft versuchte zurückzuhalten, und nach und nach verschwamm meine Sicht. Meine Arme ließ ich schlaff aus meinen Jackentaschen gleiten, sodass sie kraftlos herunterhingen. In meinem Kopf spielte sich ihre Beerdigung ab und plötzlich kamen alle Gefühle wieder hoch. Trauer, Wut, Schmerz. Es vereinte sich und wie ein schwarzes Tuch überdeckte es mich, begrub mich unter sich und prasselte auf mich ein.
„Alles in Ordnung?", fragte Francesca mit sanfter Stimme und kam etwas näher zu mir gelaufen. Beruhigend legte sie mir eine Hand auf die Schulter, die ich jedoch kaum wahrnahm. Es war mir unendlich peinlich und ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte.
„In Liebe, Stefan, Mia, Luca und...", gegen Ende wurde er immer leiser, bis er schließlich abbrach und nur noch flüsterte, „Alenia." Entsetzt schaute er mich an.
Ich spürte, wie mir die erste Träne warm die Wange hinunterlief und eine kalte Spur hinterließ. Wie paralysiert, starrte ich einfach nur ins Leere und sagte gar nichts. Mein Mund wollte sich nicht öffnen und generell war ich gerade zu nichts in der Lage, außer dumm dazustehen.
„War das deine Mutter? Es... Es tut mir leid. Ich hatte ja keine Ahnung..."
Sofort wurde er von Francesca unterbrochen, die ihm böse Blicke zuwarf. „Ich würde behaupten, du hast schon genug gesagt!"
Als sie sich zu mir wand, war ihr Blick sofort voller Mitleid und sie wischte mir zärtlich die Tränenspur weg. „Hey, Alenia", meinte sie sanft und mitfühlend. „Wieso hast du denn nichts gesagt?"
Was? Sollte ich ihnen unter die Nase reiben, dass meine Mutter bei einem Autounfall gestorben war und das, obwohl wir uns nichtmal wirklich kannten?
Endlich bewegte ich meine Augen und sah zu ihr, wobei die nächste Träne sich selbstständig machte. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken, so peinlich und unangenehm war mir das gerade. Ich hasste es, vor anderen zu weinen und wollte nicht, dass sie mich so sahen. Schnell drehte ich mich weg und wischte mit meinen Ärmeln über meine Augen, was allerdings nicht so viel half.
Die letzten Jahre hatte ich den Tod meiner Mutter so gut für mich behalten und niemandem etwas davon erzählt und jetzt sollten sie es so erfahren? Ich kannte die Reaktionen. Wusste, was sie tun würden, sagen würden. Ich wollte kein Mitleid, keine verständnisvollen Blicke, niemanden, der mir sagte, er wüsste, was ich durchmachte und wie ich mich fühlte. Denn so war es nicht. Niemand wusste, was in mir vorging. Niemand könnte es jemals nachvollziehen, weil ich es niemals preisgeben würde.
Als ich meinen Kopf nach hinten drehte, bemerkte ich es schon. Alle sahen sie mich so mitleidig an. Aron stand einfach nur da und wusste scheinbar als einziger, dass ich gerade nicht reden wollte. Vor Scham hätte ich mich am liebsten in Luft aufgelöst.
Langsam kam Collin zu den anderen gelaufen, wurde jedoch von Francesca daran gehindert, sich mir zu nähern. „Wehe!", fauchte sie ihm so böse zu, dass dieser sich direkt ein paar Schritte von ihr entfernte und sogar ich mich etwas erschrak.
„Ich...", setzte ich mit brüchiger Stimme an und musste für einen Moment meine Tränen hinunterschlucken, da ich sonst nicht hätte reden können. „Ich werde jetzt gehen." Die Worte kamen lediglich als Flüstern aus meinem Mund, sodass ich sie selbst kaum hörte. Es tat mir alles so leid. Dass ich nichts gesagt hatte, dass jetzt alle, dank mir, schlechte Laune hatten und sogar, dass Collin von Francesca so angefaucht wurde, obwohl er ja nicht wissen konnte, dass es mein wunder Punkt war.
Träge wand ich mich um und schleppte mich zu dem kleinen Metalltor, welches quietschte, als ich die Klinke hinunterdrückte. Das kalte Eisen fraß sich unbarmherzig in meine nackte Handfläche, was mich jedoch gerade nicht interessierte. Mein einziger Gedanke schrie, dass ich unbedingt weg hier musste. Weg von ihnen. Aus ihrem Sichtfeld verschwinden. Alleine sein.
„Alenia, warte!", rief Collin nochmal, was ich gekonnt ignorierte.
„Lass es, Kumpel. Sie braucht jetzt Ruhe." Aron's tiefe Stimme halte in meinem Kopf nach und ich war ihm unendlich dankbar für diesen Satz, denn genau das war es, was ich wollte. Ruhe.
Als ich das Tor hinter mir geschlossen hatte, lief ich langsam über die eingefrorene Wiese und horchte dem knirschenden Geräusch, das es machte, wenn ich auf die Halme trat. Diese ganze Situation war mir unfassbar unangenehm und mein Gehen machte es eigentlich nur noch erbärmlicher. Mittlerweile hatte ich es aufgegeben, meine Tränen zurückzuhalten, weswegen sie mir jetzt hemmungslos die Wangen hinunterflossen. In meinem Kopf hatte sich ein dumpfes Rauschen eingenistet, das jegliche Gedanken verbannte, die bis gerade noch durch meinen Verstand gerast waren, und meine Wahrnehmung betäubte.
Sobald ich weit genug von den anderen weg war und wusste, dass sie mich nicht mehr sahen, beschleunigte ich meinen Schritt, bis ich rannte. Die kalte Luft schnitt mir in die Augen und ließ meine nasse Haut gefrieren. Unter Umständen hätte ich es für unangenehm befunden, aber jetzt war es mir einfach egal.
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Findet ihr die Reaktion von Alenia übertrieben oder ist sie in euren Augen gerechtfertigt?
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