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,,Das ist der Heilige See." Manion riss Lelaenia so abrupt aus ihren Gedanken, dass sie für einen Moment stehen bleiben musste. Erst jetzt nahm sie ihre Umgebung wahr und betrachtete die hoch gewachsenen Bäume, die einzelnen Grashalme, die im warmen Licht der drei Monde funkelten und zu guter Letzt den Heiligen See, der so groß war, dass sie das gegenüberliegende Land nicht erkennen konnte. Das Wasser schien zu kochen, denn es bildeten sich immer wieder kleine Bläschen an der Oberfläche.
,,Unsere erste Königin, Nyrea, ist laut der Legende hier als Stern gefallen. Ich weiß nicht, ob man dem unbedingt Glauben schenken sollte, aber es ist tatsächlich am einfachsten, hier Magie zu verwenden.", erklärte Manion beiläufig und strich sich einmal durch die langen, saphirblauen Haare, die er ausnahmsweise mal nicht zu einem Zopf gebunden hatte. Und Lelaenia konnte nicht anders in diesem Moment, als zu denken, dass er ein unglaublich ästhetisches Gesicht besaß, das sie gerne zeichnen würde.

Lelaenia verwarf den Gedanken. ,,Also glaubst du nicht an die Geschichte, dass Nyrea als Stern gefallen ist?", fragte sie interessiert nach. Manion schüttelte seinen Kopf. ,,Doch, doch. Ich denke nur, dass niemand die komplette Geschichte kennt.", erwiderte er bloß, doch ehe Lelaenia antworten konnte, fuhr er hastig und unnachgiebig fort. ,,Wir werden erst versuchen, deine Magie zum Vorschein zu bringen. Wenn wir das geschafft haben, kann ich dir erst zeigen, wie sie zu kontrollieren ist." Er räusperte sich kurz. ,,Wir werden es erst mit der einfachen Methode versuchen, auch wenn ich nicht glaube, dass wir es dabei belassen werden, Menschentochter." Diese Worte beunruhigten sie, aber sie versuchte sich nichts davon anmerken zu lassen und nickte stattdessen. 

,,Es gibt mehrere Erscheinungsformen der Magie. Die üblichen für Nyreanen sind Wasser" Er öffnete seine Handfläche und ein großer Tropfen schwebte über ihr. ,,und Eis." Mit einer ruckartigen Bewegung deutete er auf sie und der Tropfen, der nun komplett fest war und vor Kälte rauchte, wurde mit hoher Geschwindigkeit auf sie geschleudert. Lelaenia riss die Augen auf, doch der Zapfen Eis durchbohrte bloß den Baumstamm hinter ihr. Erstaunt sah sie das Eis an. Sie wollte unbedingt lernen, wie Manion das gemacht hatte. Sie war fest davon überzeugt, dass dies eine lebensrettende Fähigkeit war.

,,Nun, lass uns sehen, was deine Zwillingssterne zu bieten haben.", murmelte Manion und seine Stimme klang zwar ruhig und gefasst, aber seine Augen starrten ihre leuchtenden Augen so intensiv und aufgeregt an, dass er es kaum zu erwarten schien. Das konnte Lelaenia ihm nicht übel nehmen. Sie war schließlich auch gespannt auf das Ausmaß ihrer Magie - ihrer Macht.
,,Schließe deine Augen. Ich erwarte höchste Konzentration, verstanden? Du darfst nicht nachdenken, denn du wirst vielleicht merken, dass etwas im Inneren deines Instinkts zu leuchten beginnt. Deine Aufgabe ist es, dich daran festzuklammern und dich leiten zu lassen, verstanden?" Lelaenia atmete aus und nickte fest entschlossen. Sie war bereit. ,,In Ordnung. Das wird jetzt sehr unangenehm werden.", nuschelte er beinahe schuldbewusst.

Sie schloss ihre Augen und konzentrierte sich darauf, ja keine Gedanken zuzulassen. Dadurch spürte sie ganz deutlich, wie Manion sie umkreiste. ,,Prinzessin, hm? Da hoffe ich sehr, dass meine Königin niemals ihren Körper aufgeben wird und dich zur neuen Königin ernennen wird. Wie soll ein Menschenmädchen dieses Land regieren?", sagte er in einem provokanten Ton. Verwirrt von seinen Worten öffnete Lelaenia den Mund, doch schnell erinnerte sie sich daran, dass sie sich konzentrieren musste. Sie atmete tief durch.

,,Das Mädchen aus der Prophezeiung? Ich habe alles mit gehört. Du bist kein auserwähltes Mädchen, das überzeugt davon ist, diesen Krieg zu führen und uns alle vor einer totalen Vernichtung zu retten. Du, Lelaenia, drückst dich vor dieser Verantwortung. Alles, was du möchtest, ist die Zeit zurückzudrehen und in die schöne, perfekte Welt der Menschen zu fliehen. Nein, du bist bloß ein Kind, das verzweifelt darauf wartet, dass der ganze Spuk endlich ein Ende hat.", spuckte er spöttisch.

Lelaenia erstarrte. Sie hatte das Gefühl, gegen eine Betonwand gerannt zu sein - mehrmals. Ihr Herz raste vor Wut und ihre Hände kribbelten so sehr, dass sie sie zu Fäusten ballen musste.  Doch sie riss sich zusammen und versuchte ihre Atmung unter Kontrolle zu bringen.
,,Während deines Aufenthalts hier in Tría hast du dich verzweifelt an deinen nichtsnützigen Bruder und an Prinz Randon geklammert. Aber jetzt, jetzt bist du völlig alleine. Und du drückst dich immer noch vor der Verantwortung, die du als Thronfolgerin Noxēns zugeschrieben bekommst."

Lelaenias Körper spannte sich an und ihr Herz schlug kräftig gegen ihre Brust. Etwas flammte tief in ihrem Inneren auf. Erst dachte sie, dass es das Leuchten war, das Manion zuvor erwähnt hatte. Jedoch stellte sich schnell heraus, dass es bloß ihre heiße Wut war, die jeden Moment explodieren würde.

,,Gib es doch zu, Menschentochter. Du weißt selbst, dass dieses Land mit dir an seiner Seite untergehen wird. Nicht einmal als Verräterin wärst du tauglich. Alles, was du retten willst, ist deine eigene, menschliche Haut. Selbst die deiner Gefährten würdest du schlicht und einfach in Asche zerfallen lassen, wenn es darauf ankäme.", verhöhnte er sie und legte sogar aus gespieltem Mitleid eine Hand auf ihre Schulter.

Die Wut, die ihren Körper beinahe in Flammen aufgehen ließ, verbrannte leider seine Hand auf ihrer Schulter nicht. Doch das war auch nicht nötig. Lelaenia hatte genug gehört und ihr Kiefer schmerzte schon, da sie ihre Zähne fest aufeinander gebissen hatte. Schlagartig riss sie ihre Augen auf, ließ ihre ganze Wut in ihrem rechten Arm fließen und schlug mit aller Kraft zu, doch Manion hielt sie mühelos ab. Vor Zorn knurrte Lelaenia und stürzte sich erneut auf ihn mit seinem Gesicht als Ziel, doch er wehrte sie jedes Mal mühelos ab. ,,Wie kannst du es wagen-", fauchte sie und versuchte es nun mit Tritten. Plötzlich wurde der Griff um ihre Handgelenke fester und sie knallte gegen den Baumstamm hinter ihr. Mit seinem Knie hielt er ihre Beine ruhig und erst jetzt sah Lelaenia, dass er nun auch wütend wurde. ,,Du verteidigst dich wie ein Mensch, Lelaenia. Du zeigst deine Emotionen, besonders deine Wut, in Form von körperlicher, physischer Gewalt, anstatt in Form von Magie, die direkt hier entsteht." Er tippte ihr mit der freien Hand den Kopf an. ,,Selbstverständlich wirst du nicht immer deine Magie nutzen können, aber sie ist deine wichtigste Waffe, besonders weil du wahrscheinlich über doppelt so viel Magie beherrschst wie ein gewöhnlicher Nyrean."

Er trat einen Schritt zurück und ließ sie somit los. Genervt seufzte er. ,,Wie bereits vermutet funktioniert die einfache Methode nicht."
Lelaenia konnte wieder klarer denken, war nicht länger blind vor Wut und auch ihr Puls beruhigte sich allmählich. Doch obwohl sie verstanden hatte, dass Manion all diese Dinge bloß gesagt hatte, um sie wütend zu machen, konnte sie ihm nicht in die Augen sehen. Sie würde lügen, wenn sie behaupten würde, dass zumindest ein Teil seiner Worte nicht der Wahrheit entsprach. Wahrscheinlich war auch das der Grund dafür, dass sie sie mehr getroffen hatten als sie eigentlich sollten.

,,Dann werden wir morgen mit der ... weniger einfachen Methode fortfahren. Aber jetzt will die Königin dich erst einmal dem Volk vorstellen."

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Lelaenias Hände zitterten und ihre Knie wurden ganz weich. Nervös betrachtete sie die ganzen Nyreanen, die sich vor dem Palast versammelt hatten. ,,Das sind alle Nyreanen der Hauptstadt. Einige kommen auch aus in der Nähe liegenden Städten. Die Nachricht wird sich also schnell verbreiten.", sagte Manion leise hinter ihr und ließ sie aufzucken. Lelaenia nickte bloß und straffte ihre Schultern. Ganz egal wie ernst Manion das vorhin auch meinte, Lelaenia wusste, dass es zutraf und dass die meisten Personen hier sie wahrscheinlich auch so betrachteten. Sie musste sich jetzt zusammenreißen und ihr selbst beweisen, dass sie nicht länger vor ihren Pflichten weglaufen würde.

,,Lelaenia-", fing Manion in einem merkwürdigen Ton an, doch er wurde von der Königin unterbrochen, die jetzt vor ihr stand und sie warm anlächelte. ,,Ich werde dir nicht vorschreiben, was du gleich sagen sollst, denn ich möchte, dass mein Volk das wahre Gesicht des Mädchens aus der Prophezeiung kennenlernt." Sie legte eine kurze Pause ein und strich ihr sanft über das Haar. ,,Ich werde mein Volk nicht ein weiteres Mal belügen."

Nyxia hob anmutig ihren Kopf an und stieg auf das relativ hohe Podium. Lelaenia bemerkte, dass das Gewand der Königin heute nicht schwarz, sondern nachtblau war. Einer der drei Monde, nein, ihr Mond leuchtete genau über ihrem Kopf und ihre bodenlangen Haare tanzten durch den leichten Windzug.

,,Mein geliebtes Volk, Brüder und Schwestern, Kinder der Nacht und der Sterne. Wie ihr sicher wisst werden Königin Driana, König Kydraen und ich in nur wenigen Wochen zusammenkommen. Und dieses Jahr wird das königliche Treffen hier stattfinden, in Noxēn. Selbstverständlich hoffe ich stets, dass Kydraen Blackfire bei diesem Treffen endlich zu Sinnen kommt. Aber leider ist es wahrscheinlicher, dass er seine Meinung nicht ändert und den Krieg sofort danach beginnt."

Die Nyreanen schüttelten wütend den Kopf und murmelten leise zu ihren Nachbarn. Als Lelaenia zu Nyxia schaute, erkannte sie bewundernd, dass nicht ihr Aussehen oder ihr Erbe sie zur Königin machte, sondern die Art und Weise, wie sie zu ihrem Volk sprach und es liebte.

,,Ja, der Krieg muss geplant werden und alle Nyreanen müssen aufgerüstet werden. Ich werde jedoch eine handvoll Nyreanen auswählen, die sich während des Krieges um die Kinder unter uns kümmern werden." Die Königin räusperte sich und machte somit deutlich, dass ihre nächsten Worte von höchster Bedeutung sein würden. ,,Und ich kann euch mit Freuden versichern, dass meine Tochter Lelaenia, das Mädchen aus der Prophezeiung, Seite an Seite mit uns kämpfen wird und uns zum Sieg führen wird." Mit diesen Worten trat sie einige Schritte zurück und nickte Lelaenia zu.

Die Stille und die fassungslosen Gesichter der Nyreanen daraufhin waren unerträglich. Ihre Halsschlagader pulsierte so dermaßen während sie auf das Podium stieg, dass sie sich sicher war, dass die Nyreanen in den vorderen Reihen es ganz deutlich erkennen konnten. Mit zitternden Händen strich sie ihre Haare zurück und zupfte etwas am dunklen Gewand, welches sie trug. So viele Nyreanen hatte sie noch nie gesehen und sie alle starrten sie erwartungsvoll an. Verzweifelt versuchte Lelaenia ihre Atmung unter Kontrolle zu bringen. Sie hatte sich die ganze Zeit Gedanken darüber gemacht, was sie wohl sagen könnte, doch jetzt konnte sie gefühlt an gar nichts mehr denken.

Plötzlich fingen ganz viele Nyreanen an zu jubeln und zu applaudieren. Einige legten ihre Hände verschränkt auf ihren Schultern und senkten den Kopf und obwohl Lelaenia diese Geste zum ersten Mal sah, verstand sie sofort, was sie bedeutete: Sie war ein Zeichen des Respekts und der Ehre. Lelaenia lächelte. Tatsächlich war das Volk der Stille laut. Sie spürte plötzlich eine so enge Bindung zu jedem Nyreanen vor ihr und sie war ihnen unglaublich dankbar, denn sie hatte nun kurz Zeit, sich wieder zu sammeln.

Als Zeichen der Dankbarkeit senkte sie ebenfalls den Kopf leicht, woraufhin die Menge erneut verstummte. ,,Ich habe den König gesehen.", begann sie und schluckte. ,,und ich kann euch versichern, dass seine eigentlichen Ziele nicht die Interessen der Dasmanten oder der Zraonen und Nyreanen wiederspiegeln. Nein, er möchte bloß die vollkommene Macht über jedes bisschen Magie auf dieser Welt besitzen und ... Schlimmeres. Wir müssen kämpfen, denn selbst wenn wir uns ergeben, um den Krieg zu verhindern, wird er die sofortige Auslöschung der Nyreanen fordern. Wir müssen kämpfen, um diese Welt und andere Welten zu retten."  Die Nyreanen jubelten erneut und hoben ihre Fäuste zustimmend in die Luft.
,,Und wir werden nicht alleine kämpfen. Mehrere hunderte dasmantische Krieger und überzeugte Zraonen, unter der Führung von Prinz Randon und meinem Bruder Noryn, warten auf die Antwort der Königin der Nacht, ob sie sich als Verbündete betrachten können."

Während die Nyreanen sich erstaunt ansahen und einander ehrfürchtig zu nickten, sah Lelaenia erwartungsvoll zu der Königin, die wissend und zufrieden lächelte. Und ihr mit einem Nicken ihre Zustimmung gab. ,,Die Nachricht wird umgehend an Prinz Randon weitergeleitet."

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Was denkt ihr, welche Erscheinungsform Lelaenias Magie haben könnte?
Das nächste Kapitel wird wieder aus Randons Sicht sein und kommt heute noch :)

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