Kapitel 96. Der Kopflose
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Beowulf strich sanft über ihre Wange, beinah scheu, und sie wusste, es war, weil er sie nicht erschrecken wollte. „Keine Sorge, noch lässt Hadubrand uns warten", hauchte er, als sie sich regte.
Die Luft war klar und doch konnte sie nicht atmen. Sie spürte ihn an ihrer Seite, trotzdem fröstelte sie. Sie wusste, dass er bei ihr war, aber die Leere um sie herum fühlte sich greifbarer an als ihre verschlungenen Körper.
Turid blinzelte den Schlaf aus den Augen und rückte näher an ihn heran. „Du bist wie ein erloschenes Feuer am Morgen. Die Kohlen liegen still, aber sie sind noch warm..."
„...und tief unter der schwarzen Hülle verbirgt sich ein Funke", sagte er. „Sprichst du über meinen Körper oder meine Seele?"
Sie antwortete nicht, sondern atmete tief ein und aus. Allmählich riefen ihr verspannte Muskeln die letzte Nacht ins Gedächtnis. Berauschte Laute, trunken vor Lust. So viel Liebe an diesem Ort.
Eine Weile lang atmeten sie im Takt miteinander. „Ich hätte niemals gedacht, dass es so ist", sagte Turid schließlich. Seine Zunge berührte sie flüchtig und als sie sich erinnerte, wo er damit gewesen war, stieg ihr die Röte ins Gesicht.
„Sieh mich an", murmelte er, aber sie schüttelte den Kopf und legte seine Hand auf ihre Augen. Sie überlegte, ob sie Beowulf erzählen sollte, warum ihr trotz der Hitze kalt war, warum sie nicht wagte, seinen Blick zu kreuzen. Sie fürchtete zu verraten, dass sie wieder von ihm geträumt hatte. Doch was hätte sie sagen sollen? Der Eroberer quält mich nicht mehr, dafür tötete er dich schon zum zweiten Mal?
„Was ist?"
„Nichts." Sie dachte: Ich wünschte, wir hätten uns in der Oberwelt zur richtigen Zeit am richtigen Ort als die richtigen Menschen getroffen, damit nichts uns daran hinderte, glücklich zu sein.
„Aber ich hatte Glück", sagte sie laut.
Beowulf brummte verwirrt. „Und was genau soll das heißen?"
„Ach. Mir ist bewusst geworden, dass ich... Wunder erlebt habe. Ich dürfte gar nicht hier sein, ich bin dem Tod davongelaufen. Um zwei, wie viel, drei Jahre? Und dann gab es dich..." Er schmiegte sich an sie, sein Bart kitzelte sie am Hals, kitzelte sie wach. Lieber wäre sie zurück in die Träume gesunken, denn das Monster darin war nicht real.
„Wäre ich gestorben, als der Krieg vorbei war, wäre ich als eine andere Turid gestorben, eine blindere als in jeder Finsternis." Ohne es zu bemerken, folgte sie Beowulfs Brauch: Das Erwachen nach einer gemeinsamen Nacht als Zeit der Worte zu ehren.
„Und ich habe so viele Jahre hier verbracht, dass meine Erinnerungen in der Dunkelheit verblasst sind", sagte Beowulf. „Wenn es bald vorbei ist, so Gott will, ist das nur das Ende eines langen Sterbens, so wie bei alten Menschen, die nicht mehr wissen, wer sie sind."
„Niemand wird hier sterben", sagte Turid, aber sie konnte selbst hören, dass sie es nicht ernst meinte. Hadubrand war stark, und er sah.
„Du verstehst mich falsch. Ich habe keine Angst vor dem Tod. Stell dir vor, wie ich weiterleben müsste, wenn du in seinen Fängen stirbst. Und ich müsste, denn selbst beenden kann ich es nicht."
„Und wenn Hadubrand sich den Hals bricht und dich mit ins Verderben reißt? Dann bin ich allein – in völliger Finsternis."
„Folge dem Meeresrauschen und du findest den Ausgang."
„Unter der Sonne wäre ich immer noch allein."
Beowulf schwieg.
Turid schlüpfte vorsichtig aus seinen Armen und setzte sich auf. Es widerstrebte ihr, sich von seiner Wärme zu trennen, aber wenn sie noch länger blieb, würde sie sich vergessen.
Er nahm sie bei der Hand und führte sie zum Flussbett, die Steine knirschten unter ihren nackten Füßen. „Wir hätten zurückgehen und die Augenlosen zerstören sollen", meinte Turid, während sie sich die Spuren seiner Liebe von den Schenkeln wusch. „Und wenn uns tausend Gruselgeister verfolgt hätten."
„Wir hätten uns trotzdem nicht bis zum Ausgang gewagt. Ja, sein Werk zu vernichten hätte ihm geschadet, aber wer weiß schon, für wie lange?"
„Das ist wahr." Zurück in der Felsspalte sah sie inmitten dieses Tagesanbruchs, der keiner war, ihre Wunder plötzlich vor sich. Die kleinen Leben an der Küste, die in völliger Dunkelheit geblüht hatten. Die Szenen aus lange vergangener Zeit, die ihr Beowulf mit seiner Magie zu sehen gegeben hatte, das Einzige, was sie neben ihren Träumen in der Finsternis hatte erblicken dürfen. Dann dachte sie an Hadubrands weiches, tröstliches Fell. Von allen Momenten schmerzte dieser am meisten.
Widerwillig zog sie ein Stück Schlangenfleisch aus ihren Kleidern hervor. Es schmeckte bitter und sie hatte es hinuntergewürgt, noch bevor sie hineingeschlüpft war. „Seine brutale Ader macht vor nichts Halt, oder? Immerhin hat er den Eroberer kurzerhand in Stücke zerbissen, obwohl er so gerne Schädel sammelt."
„Oh, nicht doch", machte Beowulf, Stoff zwischen den Zähnen. Es raschelte. Einhändig brauchte er ewig, den Gürtel zu schließen, also bat er sie wortlos darum, indem er ihre Hand zu seinen Lenden führte. Wie beiläufig berührte er dabei ihren Bauch, um ihr die die Schriftrolle und den Dolch in den Hosenbund zu stecken.
„Hadubrand würde niemals einen Schädel zerstören", sagte er dann. „Ich kann mich zwar nicht erinnern, einen ohne Kiefer erkannt zu haben, aber er muss im Herzen der Finsternis gelegen haben wie die anderen."
Turid hielt inne. Ihre Augen zuckten, als sie nachdachte – nachrechnete. „Siebenerreihen, hast du gesagt."
„Ich weiß, was du denkst", erklärte er. „Bei hundert Hingerichteten wäre der Schädel des Eroberers einer zu viel in Hadubrands Muster und es stimmt schon, dass ich nicht so genau hingesehen habe. Aber du vergisst, wer für gewöhnlich die Lichtrinne hinuntergestoßen wird: Verbrecher, die vor ihrer Hinrichtung einiges mitmachen. Ob nun die Verletzungen aus der Oberwelt oder doch der Aufprall ihnen den Garaus gemacht haben, war oft schwer zu sagen, aber bei dem Kopflosen war ich schon ziemlich sicher. Deswegen achtundneunzig Schädel."
Trotz der drückenden Dunkelheit musste sie schmunzeln. „Hadubrand muss stinksauer gewesen sein."
„So stinksauer, dass er über seine Zukunft nachzudenken begann und die nächste Hingerichtete am Leben ließ."
„Wa... was?"
„Ja, es war der Mann, der vor dir kam. Nicht lange sogar. Sag mal, möchtest du eigentlich mit mir..."
„Der Gefallene vor mir hatte keinen Kopf?!"
„Müsstest du nicht davon wissen? Einer, den man zwei Mal hinrichtet, muss in große Ungnade gefallen sein." Er räusperte sich. „Armer Teufel. Durch das viele Blut klebte seine Kleidung so fest an ihm, dass ich nur seine Stiefel nehmen konnte." Etwas an Beowulfs Ton sagte ihr, dass er gerade dabei war, sie anzuziehen.
Turids Finger glichen Krallen, als sie ihm das Leder aus der Hand riss. „Tu-", hob er an und verstummte abrupt; vielleicht versetzte ihr Gesichtsausdruck ihn in Angst und Schrecken, denn sie klammerte sich wie eine Ertrinkende an den Stiefel, tastete, tastete, tastete.
„Großer Gott", rief sie und schleuderte den Schuh gegen die Wand, wo er eine mächtige Staubwolke aufwirbelte. „Oh Gott. Nein – nein –"
Beowulf sprang auf die Füße. „Beruhige dich! Gütiger Himmel, was ist los mit dir?"
„War es der, dessen Fleisch ich essen musste? WAR ES DER?"
„Ich – ich..." Er spielte mit dem Gedanken, sie anzulügen. Sie hörte das.
„WAGE ES NICHT! Die Wahrheit!"
„Ja."
Ihr Herz setzte aus. Sie fiel auf die Knie und spürte nur noch, wie ihre Hände sich an ihren Kopf pressten, fast die eigenen Haare herausrissen. Dann waren da eine große Leere und ein paar Tränen, die auf den Felsen tropften. Sonst nichts.
„Ich verstehe nicht", sagte Beowulf zitternd. Er trat ein paar Schritte zurück.
„Während ich im Kerker saß, wurde mein Vater enthauptet."
Sie stürzte durch das Wasser, es schäumte vor ihren Knien und sie fiel, hustete, rappelte sich auf und kämpfte sich weiter. Die Erinnerung an die Schlucht war frisch, sodass sie dem Bachlauf folgte, ohne noch einmal zu stolpern.
„Turid!", erklang es aus der Felsspalte. Jetzt endlich setzte Beowulf ihr nach.
Sie drehte sich herum und hörte einen Schmerzensschrei, als auch er die Strömung unterschätzte und das Gleichgewicht verlor. Vielleicht war seine Narbe wieder aufgerissen. Vielleicht war das Wasser gestiegen, während sie sich vergnügt hatten. Vielleicht war das Leben hässlich und ekelhaft.
„Bleib zurück", sagte sie mit einem gefährlichen Flackern in der Stimme.
„Turid –"
„Bleib und wage es nicht, mir zu folgen. Einmal! Sei einmal so!"
Er japste nach Luft und sie war nicht sicher, ob er ihre Flucht verhindern oder seine eigene vorbereiten wollte. Im nächsten Augenblick kroch ihr das Meeresrauschen in die Ohren wie ein giftiges Insekt und sie schrie auf. „Ich kann nicht", schluchzte sie. „Ich kann nicht, kann nicht", immer wieder, „ich kann nicht!"
„Es tut mir leid", sagte er eindringlich. „Ich wusste es nicht."
„Das ist mir egal!", kreischte sie.
„Es ist schon geschehen!"
„Ich muss damit leben, nicht du, nicht er! ICH!" Sie beugte sich vornüber und schlug sich mit aller Kraft die Faust in den Bauch, aber ihr Magen gab seinen Inhalt nicht her, sie würgte trocken.
„Es ist zu spät", beteuerte Beowulf. „Du hast ihn bereits... er ist fort."
„Das ist er nicht! Seine Gebeine liegen dort und ich... ich bin hinaufgeklettert, habe ihn vielleicht berührt, habe ihn..." Sie schlug sich die Hand vor die zitternden Lippen, ihr Gesicht eine Grimasse aus Trauer und Schmerz. „Er wa- war die ganze Zeit hier..."
„Du warst dem Mann nie wichtig! Er hat dich missachtet, dich kleingehalten, du warst nur eine gebärfähige Ware für ihn!"
„Wie kannst du so etwas sagen? Nur, weil du nie einen Vater hattest, der dich auf den Schoß genommen hat!" Sie schlug nach ihm, er sollte weg bleiben, weg, weg. Die Wassertropfen sprühten in alle Richtungen.
„Ich bin ehrlich, verflucht nochmal!"
„Du bist nicht ehrlich, ein Barbar bist du! Oben treibst du Unzucht mit Hexen und unten zerfledderst du Leichen, schmückst dich mit ihrer Kleidung und gibst mir menschliche Überreste zu essen, anstatt mich einfach sterben zu lassen, wie es für mich am besten gewesen wäre! Bei Gott, ich liebe dich, habe mich mit dir vereint, wie konnte das nur geschehen?" Sie taumelte rückwärts. „Wie ein wildes Tier, ein Totengräber, genauso schmutzig bist du!"
Er blieb, wo er war, regte sich nicht, ließ nichts von sich hören. „Du bist dem Elend gegenüber genauso gleichgültig geworden", zischte er schließlich so leise, dass sie es kaum verstand. „Die Finsternis entstellt dich, innen wie außen, du siechst in ihrer stinkenden Welt dahin, wo alles krumm und falsch und gegen dich ist, und früher oder später erwischt du dich dabei, wie du das Abstoßende umarmst und das Faulige in den Mund nimmst, bis sie ein Teil von dir ist und du ein Teil von ihr..."
Turid schüttelte den Kopf, sie war wie gelähmt.
„Doch", sagte er voller Abscheu. „Du bist noch nicht so weit wie ich, aber was begonnen hat, lässt sich nie mehr aufhalten. Selbst, wenn du das hier überlebst, gibt es Tiefen in uns, die Sonnenstrahlen nicht erhellen können."
Sie wich noch weiter zurück, bis der Strom an ihren Oberschenkeln zerrte und hinter ihr in den Klippen verschwand. Der Schall schickte Beowulfs Worte an den gigantischen Splittern nach oben, er musste sich umgedreht haben, ertrug nicht mehr, ihr ins Gesicht sehen. Gott, mach, dass er aufhört, flehte sie. Aber er hörte nicht auf.
„Allein, um dich das spüren zu lassen, will ich, dass du lebst. Lebe gefälligst! Wehe, ich sage dir, wehe, du stirbst mir unter den Armen weg, ich werde dir –" Seine Silben versiegten. Beowulf drehte sich um, die Lider geschlossen, Reue kribbelte unter seiner Haut.
„Es ist nicht deine Schuld", seufzte er. „Alles wird gut."
Er öffnete die Augen und Turid war fort.
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