Kapitel 94. Vermächtnisse von oben
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Als Stunden später von den Ranken nur noch blankes, tödliches Holz übrig war, spürte er Hadubrand noch immer nicht. Teils zog es ihm dabei den Magen zusammen, teils war er froh, dass es nicht die Hiobsbotschaft war, mit der er Turid wecken musste.
Sie war mit einem grünlichen Stich auf den Wangen von ihrer Wanderung zurückgekehrt und schlief entgegen ihrer Überzeugung fest, als er den letzten Span von der Speerspitze schälte. Beowulf seufzte, steckte aber dennoch den Kopf durch die Felsspalte und rüttelte sanft an ihrer Kleidung.
„Nur noch das musst du dir einprägen", flüsterte er. „Es dauert nicht lange."
Sie nickte und schob seine Hand beiseite, als er ihren Oberarm ergreifen wollte. Obwohl sie gerade einmal einen Tag hier waren, vielleicht zwei, fand Turid sicheren Schrittes den Weg zu seinem Werk. „Es duftet nach zerhacktem Holz", erklärte sie auf sein verblüfftes Schweigen hin.
Die Speere lehnten auf eine Weise an der Felswand, die den Eindruck erweckte, ein bewaffneter Trupp hätte sie dort vergessen. Beowulf dachte an die Schlachten, denen er seinerzeit zugesehen hatte – teilgenommen nur selten – und konnte nicht an der Feststellung vorbei, dass ihre brüchig und krumm und wahrlich erbärmlich waren. Sein Schwert fehlte ihm entsetzlich.
„Bevor ich es vergesse", sagte er und gab Turid den Dolch zurück. Sie, angestrengt mit den Fingern über die Stäbe fahrend, wollte ihn einstecken, traf aber die Stelle, an der sie den Knochen verwahrte, der keiner war. Die Holzkapsel fiel scheppernd zu Boden.
„Verdammt." Turid bückte sich und verstaute sie wieder unter ihrem Hemd. „Daran habe ich gar nicht mehr gedacht. Wir sollten einen Abschiedsbrief hineintun", scherzte sie.
„Kein Pergament", murmelte er.
„Oder etwas anderes, das an uns erinnert..." Sie verstummte. Offensichtlich war ihr eingefallen, dass sie nichts mehr besaßen, den Schmuck nicht, den sie bei den Kleidern gefunden hatten, die Flöte nicht, die vor langer Zeit zerbrochen war, nicht einmal Steine, die ihnen in irgendeiner Weise etwas bedeuteten. Wer sollte ihr Vermächtnis auch jemals finden?
Stirnrunzelnd vollendete sie, was er angefangen hatte, verteilte ihre Waffen an der Felswand und im Flussbett, nicht zu nah der Schlucht, die ihn immer noch anstarrte.
„Und jetzt?", fragte er.
„Warten", sagte sie.
„Du solltest versuchen, wieder zu schlafen", sagte er.
„Nein."
Sie saßen sich in ihrer Felsspalte gegenüber und das Meeresrauschen begleitete ihr Schweigen. Während Beowulf glaubte, dass Turid sich zu Tode sorgte, fühlte sie sich in Wahrheit einfach allein. Ja, er war da, aber bald würde er sie im Stich lassen müssen. Die Angst vor dem Tod pochte dumpf im Hintergrund, zu altbekannt, um sie aufzuwühlen, aber stark genug, um die Sehnsucht nach der Sonne zu ersticken. Das war gut, denn der Ausgang war so nah, dass es andernfalls wehgetan hätte.
Turid seufzte und schlang die Arme um ihren Körper, sie fröstelte. Ein Teil von ihr flüsterte ihr zu, sich an den Körper zu schmiegen, der in angenehmer Reichweite neben ihr saß. Der andere fürchtete sich davor, bei Beowulf nur die kühle Haut der Augenlosen vorzufinden. Wahrscheinlich wusste er das nicht, doch wie er sich anfühlte, hing davon ab, wie er sich selbst fühlte: Je menschlicher, je wärmer - und die Furcht würde ihn zu Eis verwandelt haben.
„Wie hieß deine Schwester?", fragte er plötzlich.
„Adelheid." Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, wiederholte die Silben tonlos. Es tat weh. „Was auch immer mit ihr geschah, es war lange vor meiner Hinrichtung vorbei", fügte sie hinzu und spürte, wie sich ein Kloß in ihrer Kehle zu bilden begann.
„Das tut mir leid. War sie... ähm... wie alt war sie?"
„Zwölf. Sah aber nie älter aus als acht. Unser Nesthäkchen..."
„Hm", machte er. „Sie starb jung und das ist schrecklich, aber wenigstens... war sie zu jung für... naja, du weißt schon. Da, wo sie jetzt ist, geht es ihr gut."
Turid zuckte mit den Schultern, sie glaubte nicht mehr an den Himmel. „Im Kerker habe ich um sie geweint, um sie alle. Danach nicht mehr. Dann hatte ich andere Probleme."
„Ich habe nie um meine Mutter geweint", gestand er.
„Warum nicht?"
„Ich wusste nicht, wie es geht."
Nähe kannte ich nie, hörte sie ihn sagen. Heute wusste sie, dass er damit nicht die körperliche Nähe gemeint hatte, aber würde er etwas dagegen haben? Sicherlich nicht. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, regte sich etwas in ihr. Als sie kurz davor war, die Hand nach ihm auszustrecken, sagte er: „Ich weiß etwas."
Müde blinzelte sie ihn an.
„Habe ich dir schon einmal gesagt, dass ich nie solche Locken wie deine gesehen habe? Sie sind so schwarz, dass sie in der Finsternis verschwinden." Er räusperte sich. „Und ich trage meinen Namen nicht von ungefähr... ich meine damit, wir können etwas von uns hinterlassen, das vielleicht tausend Jahre halten wird, wenn die Bedingungen gut sind."
Turid lächelte und zwirbelte ihr Haar zwischen den Fingern. „Das gefällt mir", sagte sie und reichte ihm den Dolch, „du zuerst."
„Mach du es." Beowulf rückte näher an sie heran.
Innerlich seufzte sie - jetzt hatte er also für sie entschieden. Einem solchen Wink des Schicksals fügte man sich besser. Sie griff nach seiner Schulter und von dort aus an seinen Hinterkopf, er hielt still, als sie vorsichtig ein Büschel abschnitt.
Einhändig angelte sie die Holzkapsel aus ihrem Hosenbund. Beowulf zog am Deckel – ächzend gab er nach – es knisterte. „Turid", sagte er nach einem Moment der Stille. „Hast du sie nicht geöffnet?"
„Nein?"
Mit spitzen Fingern nahm sie ein Pergament entgegen und drehte es hin und her. Es war steif von den Jahren, die es eingerollt in der Dunkelheit verbracht hatte, und mit einem schmierigen Film bedeckt, als wäre Fett durch den Deckel gedrungen. Vielleicht war das der Grund, warum es in ihren Händen nicht sofort zu Staub zerfiel.
„Was steht drauf?", fragte sie, mit einem Schlag hellwach.
„Ich..."
„Was ist? Sag doch!"
„Ich kann das nicht lesen."
„Verfluchtes Pech! Und du kannst so viele Sprachen..."
„Das sind lateinische Buchstaben", sagte er leise. „Du hast mich falsch verstanden. Ich, äh... kann nicht lesen."
Turid ließ Pergament und Kinnlade sinken. „Das ist nicht dein Ernst. Du warst adelig wie ich."
„In den Adelsstand erhoben", verteidigte er sich. „Noch dazu von einem Heiden. Ich konnte mich immer ohne das Geschreibsel herumschlagen, denn das alles hat Adalger geregelt... er hat nicht einmal gefragt, ob ich es kann, glaube ich."
„Scheiße! Wenn schon jemand eine Schriftrolle in die Höhle trägt, ist das bestimmt kein Liebesbrief. Der Schlüssel zum Sieg über Hadubrand könnte hier draufstehen – und wir sind machtlos!" Sie raufte sich die Haare, das Pergament noch immer in den Händen; Beowulf protestierte laut, zog es ihr mitsamt seinem Haarbüschel aus den Fingern und stopfte es zurück in die Kapsel.
„Vorsichtig damit, immerhin wurde es schon einmal verdaut." Ihr Magen zog sich zusammen. „Behalte es bei dir und wenn du draußen bist, wirst du erfahren, was dort steht."
Draußen, ha, dachte sie. Als ob wir eine Chance hätten.
Mit bitterer Miene wandte sie sich von ihm ab und rollte sich ein wie eine Katze. Sie hatte es so satt, ständig nur Schwärze zu sehen, tagein, tagaus, ob sie nun die Augen schloss oder öffnete, immer war da nur diese Wand. Nicht einmal die bunten Flecke, die sie sich früher selbst vorgegaukelt hatte, standen ihr noch zur Seite – Moment, dachte sie. Jäh wurde ihr heiß und kalt. Wer wusste schon, ob –
Der Damm in ihrem Innersten, der sich Selbstbeherrschung schimpfte, riss so plötzlich, als sei er von einer Flutwelle getroffen worden. „Ich glaube, dass ich blind bin!" Turid brach in Tränen aus.
Beowulf machte einen entsetzen Laut. „Turid, nein –"
„Wie lange bin ich hier unten? Drei Jahre bestimmt, vielleicht mehr?" Sie drehte sich auf den Rücken und presste sich die Hände aufs Gesicht. „Oh Gott, was, wenn Augen absterben?"
„Das glaube ich nicht."
„Das kannst du nicht wissen. Stell dir vor, nie wieder die Sonne zu sehen, selbst wenn wir hinauskommen! Lohnt es sich, dafür alles zu riskieren? Wir sollten – wir sollten zurückrudern und uns einen Platz zum Leben suchen, du und ich, in einer kleinen Höhle sicher vor Hadubrand..." Ein uralter Fluchtinstinkt regte sich, sie musste hier raus, endlich raus aus der Finsternis –
„Nein!", rief er und drückte ihren Kopf zu Boden. Seine Hand lag mit brutaler Kraft auf ihrer Stirn, sie spürte, wie er ihr in die weit aufgerissenen Augen starrte, sie wehrte sich nicht. Das Herz schlug ihr zu heftig in der Brust, schmerzhaft verkrampft im Angesicht dessen, was sie hinter sich hatte und was ihr bevorstand. Warum nur hatte das Schicksal den Eroberer in die Welt gesetzt! Sie hätte ein gutes Leben führen können, ein langweiliges zwar, aber eines, das sich für die schönen Dinge lohnte, anders als hier unten, wo es nichts gab, gar nichts und das sagte sie ihm auch.
„An diesem Leben wärst du zerbrochen", erwiderte er mit Abscheu in der Stimme und presste sie fester nach unten. „Du bist kein Hausweib, das Hauben bestickt und die Bibel studiert. Du wärst niemals da oben zurechtgekommen, nicht mit der Ehe jedenfalls, und früher oder später hätte dein Mann dich geschlagen und dann Schlimmeres. Am Ende hätte man dich unter dem höchsten Turmfenster gefunden, entweder durch seine oder deine eigene Hand! Eine Kriegerin bist du! Verhalte dich wie eine!"
Turid sah sich selbst, wie er gesagt hatte, fallend aus dem höchsten Stockwerk, und erkannte, dass er Recht hatte. Doch vergaß er, was sie im Begriff waren, zu tun. „Ich kämpfe mich doch gerade zurück in dieses Leben. Oder glaubst du, dass die Welt sich inzwischen verändert hat?"
„Deine Heimat musst du aufgeben", sagte Beowulf ruhig. „Aber meine ist immer für dich da – im Wald kannst du tun und lassen, was du willst, unter der Verantwortung, dass du sterben kannst. Das passt zu dir."
„Ich weiß, wie es im Wald ist." Ihr Schluchzen verstummte und der Schmerz in ihrer Brust verschwand, denn seine Nähe war auf unerklärliche Weise tröstlich. „Hast du gewusst, dass mein Vater mich als kleines Kind mit meinen Brüdern herumrennen ließ? Wir stahlen Brot und Käse und kletterten über Gremholdshands Tore, um die Jäger zu ärgern... manchmal liefen wir weit raus." Da war sie dem Wald nahgewesen und sie wusste noch, wie sich der Geruch von Moos mit dem Gefühl der Freiheit unzertrennlich verbunden hatte. „Eines Tages packte mich mein Vater mitten im Lauf und trug mich auf der Schulter zurück hinter die Mauern. Er erklärte mir, jetzt sei Schluss damit, Junge zu spielen. Ich sei ein Fräulein und kein wildes Tier. Die Jahre, die danach kamen, waren hart... gerade weil ich die Luft da draußen geschnuppert hatte. Wenn ich ausritt, dann im Damensattel und mit dem Gackern der anderen Mädchen im Ohr statt dem Rauschen der Wipfel, das war nicht das Gleiche."
Während sie sprach, löste sich der Druck auf ihrem Körper, Beowulf gab sie frei. Sie hörte und spürte seinen leisen Atem gleichermaßen. Wie still er hielt, um ihr zu lauschen!
„Und wovor hattest du Angst?", fragte er zögerlich.
„Dass das alles sei, einerseits", sagte sie, ohne darüber nachzudenken. „Ich fürchtete mich vor dem Tag, an dem ich alt wäre und feststellte, dass ich nicht mehr nachholen könnte, was ich verpasst hatte. Und so ist es auch jetzt: So viel von der Oberwelt habe ich versäumt, woran mich diese Schriftrolle böse erinnert, denn es gibt sie, aber mir ist sie verwehrt, verstehst du?" Sie schloss die Augen, blieb aber liegen, wie sie war, reglos.
„Der andere Teil war wesentlich... praktischer. Wenn ein Mann im Kampf verwundet wird, ist das seine eigene Kraft, sein Wille und sein Zorn, der an der Welt zurückprallt. Als Frau allerdings muss man einstecken, ohne etwas hinauszulassen. Ich hatte Angst vor der Ehe, vor dem Beischlaf, vor den Geburten und davor, den Kopf unten halten zu müssen, im Haus bleiben zu müssen, leise sein zu müssen. Als Mädchen habe ich mir vorgestellt, all das zu schlucken würde ein Geschwür in meinem Inneren wuchern lassen, das mich eines Tages –"
„...vergiften würde", beendete er ihren Satz mit brüchiger Stimme. „Sif hat von diesem Gift gesprochen. Sie sagte, wenn eine Frau lernt, es nach außen zu geben, anstatt selbst davon verzehrt zu werden, und das viele Jahre lang, entstünde Hexerei. Evas Erbsünde sei eine Erblüge und dies die Entschädigung." Beowulf seufzte, der Schleier der Erinnerung hatte sich über seine Worte gelegt.
Da spürte sie eine sachte Berührung an ihrem Haar. Erst hielt sie es für Einbildung, bis er über ihren Hals strich, zärtlich. Das halbtote Blut in seinen Adern, wärmer als erwartet, holte sie aus ihrer eigenen Vergangenheit zurück, indem es Schauder über ihren Rücken sandte und ihren Geist wieder mit der Finsternis und all ihren Verheißungen von Tod und Verderben füllte. Doch es war nicht nur Hadubrand, der bedrohlich darin schwebte: Beowulfs Gegenwart war wie ein weiterer Felssplitter in ihrer Höhle, schwer, voller Kerben, aber immer noch wehrhaft. Turid wurde bewusst, dass er nicht wieder derselbe wie früher, aber doch kein blutendes Wrack mehr war. Er war ein ausgewachsener, gut genährter Mann und sie ein magerer, weiblicher Schatten, der sich mit einem Mal überhaupt nicht mehr getröstet fühlte. Langsam setzte sie sich auf.
„Warum siehst du mich so an?", fragte er. „Ähm. Deine Augen sind so wie immer, nicht trüb, sie sehen in Ordnung aus, das wollte ich dir sagen", stammelte er und drehte sich weg.
„Ob wir wohl Geister in dieser Höhle zurücklassen?", fragte sie nüchtern, jeder Muskel in ihrem Körper gespannt. „Wenn wir gestorben sind. Präsenzen, die das tun, was wir damals getan haben, wenn Mitternacht ist."
„Es wäre ermüdend, uns zuzusehen."
„Aber nicht immer."
Seine Stimme glühte. „Kann sein, dass wir den Morgen nicht erleben werden."
„Ja", sagte sie und legte den Kopf auf die Knie.
„Dann... denkst du, was ich denke?
Sie ahnte es.
Beowulf legte die Hand in ihr Haar und drückte seinen Mund auf ihren.
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