Kapitel 88. Magie

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„Lass mich nachdenken." Er war bemüht, besonnen zu klingen, doch seine Stimme verriet ihr, dass in ihm ein Feuer brannte. „Ich... ich trage keine Kleidung", schien ihm bewusst zu werden. Er drehte sich zum Knochenberg. „Gut, da ist sie. Nein. Ich verstehe nicht."

„Hm?", war alles, was Turid herausbrachte. Eine unsichtbare Macht schnürte ihr die Kehle zu. Sie war gelähmt.

Beowulf packte ihre Schultern und schüttelte sie. „Er mag es geschafft haben, deine Spur zu legen, auch wenn ich mir keinen Reim darauf machen kann. Aber das kann Hadubrand nicht. Bevor er lernt, wie man mit ellenlangen Krallen einen Menschen auszieht, geht die Sonne im Westen auf. Ich verstehe einfach nicht."

Ein Hoffnungsschimmer löste den Knoten unter ihrer Zunge. „Du hast es getan. Du erinnerst dich nicht."

„TURID!", schrie Beowulf. „So glaub mir doch! Ich soll das gewesen sein, wo du nun weißt, dass das, was er mit mir macht, einer Totenstarre gleichkommt? Ich war es nicht!"

„Dann haben wir ein Gespenst mit makabrem Humor in der Höhle", sagte sie tonlos. Es dämmerte ihr, dass an seinen Beteuerungen etwas Wahres dran sein musste. Aber...

Er heulte frustriert. Turid nahm deutlich wahr, wie der Wind mit seinen Eisfingern in ihre Haare griff und in der Stille entstand ein Loch, das sie instinktiv mit ihrer Fantasie füllte. Diesmal erschienen ihr langsame, rhythmische Bewegungen vor dem inneren Auge und knotiges Haar, das mit seinen Trägerinnen in der Trance mitwippte.

„Beowulf, wir müssen hier weg." Sie bückte sich nach ihrem Dolch und fand ihn neben dem Knochen, mit dem sie sich freigekämpft hatte. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, hob sie beide auf und umschloss sie fest in ihrem Griff. „Und jetzt reiß dich zusammen. Ich brauche dein Augenlicht. Hörst du?"

„Ja. Ich..."

Er begann, sich umzusehen, und sein Herzschlag verlangsamte sich. Ein gutes Zeichen.

„Was liegt hinter diesem Tor?", fragte er.

„Ein Bach. Hadubrand würde uns direkt aus dem Wasser fischen!"

„Vielleicht hat er das vor. Vielleicht..." Er drehte sich hektisch im Kreis.

„Sag mir, was du siehst!"

„Zu viele Gesichter", krächzte er. „Ich kann nicht denken."

Sie packte ihn an der Schulter und grub die Finger fest ins kalte Fleisch. „Bald ist meins eines davon."

„Ich versuche es ja! Da ist..." Sein Atem stockte. „Da ist ein Loch. Kannst du klettern?"

„Was?"

„Ich hoffe, ich kann", murmelte er. „Komm mit."

Er verschränkte seinen Ellenbogen mit dem ihren und begann, halb rennend und halb trabend aufzusammeln, was er in den Knochentrümmern finden konnte, während Turid blindlings hinter ihm herstolperte. „Halt! Meine Vorräte!"

„Hier. Bei Gott. Wenn ich nur zwei Hände hätte." Turid hatte gerade noch Zeit, Dolch und Knochen in ihren Hosenbund zu stecken, bevor er ihr das Schilfgeflecht in die Arme warf. Dann war da plötzlich die Wand und Beowulf drückte sie dagegen. Sie hörte, wie er sich die Kleidung überwarf und sich prompt darin verhedderte. „Über deinem Kopf beginnt ein Riss", meinte er erstickt, „vielleicht haben wir Glück."

„Du willst da rein?"

„Warte hier auf ihn, wenn es dir lieber ist!"

„Scheiße!", sagte sie nur. Beowulf schlüpfte in seine Stiefel stemmte sich mit Schwung in die Spalte. Er stöhnte dabei auf – er war noch nicht wieder gesund.

Turid schulterte ihr Bündel und zog sich nach oben. „Weiter?", flüsterte sie und rieb sich die brennenden Handflächen, der Felsen war fürchterlich rau.

„Einen Moment."

Er ächzte über ihr und sie kroch ebenso mühevoll hinterher. „Es ist wie damals", sagte Turid und hatte das irrsinnige Bedürfnis, zu lachen. Von allen Seiten spürte sie die Wand gegen ihren Körper drücken. Langsam atmen, dachte sie. „Als wir zum ersten Mal vor Hadubrand geflohen sind. Und wieder treibt er uns durch die Gänge. Wie Vieh."

„Nur, dass wir diesmal wahrscheinlich dabei sterben werden."

„Du nicht."

Beowulf quälte er sich noch eine Armlänge weiter durch den Spalt. „Das wird eng", sagte er dann mit zitternder Stimme. „Schieb!"

Er presste die Luft aus seinen Lungen und Turid stemmte die Hände gegen seine Schuhsohlen. Sie spürte, wie er vor Schmerz erbebte; der Spalt quetschte ja schon ihre eigenen Rippen zusammen, wie musste es da erst ihm ergehen? „Du schaffst das!", rief sie.

Seine Stiefel entglitten ihr und Kiesel schlugen ihr gegen die Wange. Einen Moment lang hörte sie nur ihr eigenes Herzklopfen, ein panisches Bum bum bum bum, bis etwas ihr Gesicht berührte und sie zurückzuckte. „Hände nach vorn!", befahl Beowulf und seine Stimme klang gedämpft. Sie wand sich wie eine Schlange, packte seine Hand, ein Ruck und – sie war frei.

Vorsichtig zog er sie am Nacken in eine lockere Umarmung. Die Geste kam so unvermittelt, dass Turid wie von selbst die Augen schloss und sich ihm entgegenlehnte. Es lag eine unschuldige Liebe darin.

„Nicht aufstehen", sagte er. „Die Decke ist zu niedrig."

„Stickig hier drin", murmelte sie mit dem Kopf an seiner Brust. Er trug wieder sein Hemd.

„Aber es riecht nicht nach Hadubrand."

Nein, im Gegenteil. Die dunkle Magie schien fern, nur ein zarter Eishauch zeugte davon, wie nah sie dem Herz der Finsternis waren. Turid entzog sich seinem Griff, setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und legte die Hände auf ihre Augen. Jäh überrollte sie eine Welle von Gefühlen. Ein Teil davon war Freude, dass er zurück war, und Sehnsucht nach Versöhnung und nach Frieden. Aber da war auch das Grauen in ihren Knochen, wenn sie daran dachte, was unter ihnen lag.

„Die Höhle ist klein, aber für eine Weile sind wir hier sicher." Beowulf ließ sich seufzend neben sie sinken. „Es ist gut, dass es so gekommen ist", sagte er. „Trotz allem. Immerhin bist du wieder da."

Sie lächelte und lauschte, wie er atmete, und sie war sich sicher, dass er dasselbe tat. „Warte mal", sagte er, spuckte auf sein Hemd und fuhr ihr damit übers Gesicht. Sie leckte sich über die Lippen. Das Blut hatte sie ganz vergessen.

Als er zufrieden war, sah sie ihn mit ernster Miene an. Einige Minuten lang sagte sie nichts, dachte nur nach, bis er sich räusperte. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll", meinte sie leise.

Er versteifte sich und die Luft schien kühler zu werden. „Dann habe ich mich eben geirrt", gab er zu, klang aber nicht überzeugt. Auch Turid war es nicht mehr, obwohl sie nichts lieber wollte.

„Vielleicht liegt ja mehr dahinter. Etwas, das unsere Vorstellungskraft übersteigt, und deshalb verstehen wir es nicht." Wie richtig sie damit lag, ahnte sie nicht. „Du hast es doch auch gesehen."

„Du hast... gesehen?"

„Nein, nicht so. Ich meine, hast du es nicht wispern gehört?"

„Das tue ich meistens", sagte er leise.

„Aber das Gefühl von Blicken in deinem Nacken? Der Geruch von – naja – Zauber vor dem Knochenberg? Du sagtest doch, die Welt sei dunkel und magisch. Wir waren mittendrin."

Ob er wohl erbleichte?

„Nein. Weil ich ein Mann bin." Turid blinzelte verständnislos, Beowulf wurde auf einmal sehr ruhig. „Du hattest also Visionen?", wollte er wissen.

„Ich... der Ort setzte mir Bilder in den Kopf, ja. Aber sie waren nicht echt."

„Da wäre ich mir nicht so sicher." Noch während er dies sagte, erhellte sich seine Stimme. Er lehnte sich nach vorn und schien zu grübeln.

„Beowulf?"

„Hadubrand ist ein gemachtes Wesen. Ich wusste, dass er einer Kraft entstammt, die älter und mächtiger ist als alles, was wir kennen. Wie soll ich es sagen... ich hätte nicht gedacht, dass er so einfach ist."

Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Einfach?"

„Nach einem Muster gestrickt. Vielleicht...", überlegte er, „vielleicht ist das eine Vorteil, den wir nutzen können."

„Sprich nicht in Rätseln mit mir!"

Er holte tief Luft. „Diese Menschen in der Wand sind nicht wirklich tot. Sie altern nur nicht, sie sind... leer. Keine Augen, keine Seele. Nur die Hülle bleibt." Er schluckte hörbar. „Ich bin ein bisschen wie sie."

Eine Gänsehaut breitete sich über ihren ganzen Körper aus, als sie sich vorstellte, für immer im eigenen Leib gefangen zu sein, blind, regungslos, gefühllos, aber lebendig. „Aber Hadubrand kann keine Seelen mehr fressen", flüsterte sie, „er hat es bei uns beiden erfolglos versucht."

„Deshalb müssen sie vor mir dagewesen sein."

„Und die, die nach dir kamen? Hundert Hingerichtete?"

„Der Knochenberg. Dort roch es nach Verwesung, echter Verwesung. Und ich weiß, dass er sie weiterhin fraß, immerhin brachte ich sie manchmal selbst in seine... seine Schlachtungskammer." Er lachte auf. „Wie frustrierend es für ihn gewesen sein muss, dass dabei ihre Seelen flöten gingen."

„Ich... ich..." Turid legte sich die Arme um die Schultern und versuchte, ihre Gedanken in Ordnung zu bringen. „Warum nicht mich?"

Beowulf verstummte abrupt.

„Warum endete ich nicht schon am Tag meiner Hinrichtung in diesem Haufen?", fragte sie mit Nachdruck.

„Du hast doch gemerkt, wie viele Spalten leer sind. Turid, die Reihen reichen die ganze Wand hinauf – alle leer. Ihm... sind die Vorräte zur Neige gegangen, denn ihnen die Seele zu entziehen, war seine Art, sie haltbar zu machen."

Ihr Magen zog sich zusammen. „Dann war seine Art, mich haltbar zu machen, mich am Leben zu lassen."

„Sein Versuch", korrigierte er leise.

Sie sprang auf. „Und? Hat es funktioniert?"

„Ja", antwortete er zögerlich. „Und nein."

„Nein, weil ich zu mager wurde, und zu schwach, und zu störrisch... Beowulf?"

Er schwieg und ihre Augen wurden schmal. „Was noch? WAS NOCH?!"

„Das willst du nicht wissen."

Sie packte ihn am Kragen und nagelte ihn am Boden fest. Er wehrte sich nicht. „Du schuldest es mir!"

„Es ist nur eine Vermutung! Du kamst mitten in seiner Not und du warst eine Frau."

Sie ließ ihn los und wich zurück. „Ich war eine Frau, sagst du?"

„Vielleicht wollte er auf anderem Wege an Menschen kommen. Aber es war unübersehbar, was die Höhle mit dir gemacht hat." Beowulf hatte den Kopf abgewandt und sprach leise. Er schämte sich.

„Du nimmst mich auf den Arm."

„Es. Ist. Eine. Vermutung."

„Nein, ich glaube, es ist wahr", sagte sie. „Er hätte jeden Hingerichteten haben können, sie waren alle Männer und stärker als ich. Robuster. Aber die hättest du nicht schwängern können." Sie strich sich über den Bauch, rief sich in Erinnerung, dass sie nicht blutete und es ausgeschlossen war, dass da ein Kind in ihr heranwuchs.

„Selbst wenn, ich wäre seinem Befehl niemals nachgekommen."

„Du bist sogar seinem Befehl nachgekommen, mich in den Tod zu führen. Dagegen wäre das ja wohl ein Leichtes gewesen."

„Schickst du mich jetzt fort?"

„Was? Nein!" Sie raufte sich die Haare. „Nichts hat sich geändert."

Beowulf ließ einen Laut ertönen, der halb überrascht, halb erleichtert war.

„Wo ist nun der Vorteil, den wir nutzen können?", fragte sie scharf.

Er räusperte sich, sagte aber nichts. Mit bitterem Gesichtsausdruck saß sie die Stille aus.

„Erklär mich nicht für verrückt, ja?", begann er. „Du hast selbst gesagt, du hast diese... Aura gespürt."

Sie nickte.

„Überleg mal – das Herz der Finsternis ist ringförmig aufgefächert. Der äußerste Ring: Die armen Teufel, wie sie mit auf der Brust verschränkten Armen in ihren Nischen stehen wie Skulpturen in einer Krypta. Der zweite: Ein Wall aus Schädeln derer, die mehr Glück hatten. Es müssen achtundneunzig sein." Turid nickte. Ihrer saß noch auf den Schultern, und den Eroberer hatte Hadubrand geradezu zermalmt. „Ist dir aufgefallen, dass er sie in Siebenerreihen ausgerichtet hat? Das macht neunundvierzig auf jeder Seite, das Siebenfache der Sieben."

„Was willst du mit all diesen Zahlen?"

„Im Zauberkult verehren sie die Sieben und Hadubrand entstammt diesem Kult, es ist seine Natur, sein Zwang. Er ist ein Kind der Magie."

Turid runzelte die Stirn und dachte an die Hexen, die sie gesehen hatte. Ja, es war kaum zu bezweifeln. Einen beträchtlichen Teil seiner Magie hatte er hier abgelegt.

„Die Schädel schauen zur Mitte...", fuhr Beowulf fort, „wo Hadubrand den dritten Ring errichtet hat, seinen ganz eigenen Scheiterhaufen. Wie auch immer er mich dorthin gebracht hat, ich lag dort oben, wie Gott mich schuf – wie es im Opferkult üblich ist. Wenn das keine Botschaft ist." Seine Stimme zitterte. „Ich glaube, die Magie an diesem Ort hat dir echte Bilder in den Kopf gesetzt. Szenen, die wirklich passiert sind, vor tausenden Jahren vielleicht. Und Hadubrand... er folgt den spirituellen Regeln seiner Schöpferinnen, obwohl die lange tot sind. Durch die Menschlichkeit, die es durch mich erhalten hat, hat ihr Instrument ein Eigenleben entwickelt. Zwei Dinge treiben es an: Es liebt seine Magie. Und es jagt."

„Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst."

„Er spielt mit uns, Turid, und er weiß, dass wir keine Wahl haben, als mitzuspielen. Wäre es anders, hätte er uns niemals hierhergebracht."

„Was bringt es uns? Wir können nicht weg. Er wird mich einfach verdursten lassen!", schrie sie, voller Unverständnis, wie Beowulf in ihrem kleinen, dunklen Gefängnis so eifrig, ja beflügelt, mit seinen Gedanken taktieren konnte.

„Ich denke, ich ändere die Spielregeln", sagte er und riss den Dolch aus ihrem Hosenbund.


„Dabei werden wir sterben", sagte sie, als er fertig war. Sie konnte kaum noch die Augen offenhalten.

„Mehr können wir nicht tun."

„Ich will nicht, dass du das machst."

„Es ist schon in Ordnung."

„Ständig willst du für Dinge büßen, die längst vergeben sind. Wie ein Christ!"

„Auch du wirst noch Opfer machen, glaub mir." Sie hörte es rascheln. „Darf ich..."

Stumm lag sie auf dem Boden, den Schilfkorb unter ihrem Kopf, und wartete, dass er zu Ende sprach. Aber da kam nichts mehr.

„So habe ich das nicht gemeint." Er hatte ihr schläfriges Schweigen falsch gedeutet. „Ich will nur neben dir liegen. Das ist alles."

Sie drehte sich auf den Rücken und öffnete die Arme. Beowulf drückte sie an sich. „Hm?" Er tastete an ihr herunter. „Was schleppst du mit dir herum?"

„Nur einen Knochen", murmelte sie und zog ihn aus ihrem Hosenbund.

„Das ist kein Knochen, sondern eine Holzkapsel. Weißt du, für Schriftrollen. Ist halb verdaut."

„Lass uns schlafen, ja?"

„Hmh". Beowulf regte sich ein letztes Mal. „Seltsames Zeug haben sie mit in den Tod genommen. Hast du eigentlich noch Albträume?"

Sie antwortete ihm nicht mehr. 

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