Kapitel 86. Geister

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Ihre Schritte verhallten im schwarzen Gang. Sie war allein und hatte Angst.

Mit jedem faulen Hauch, der ihr in die Nase drang, atmete sie schneller. Und tief. Ein – da steckte ein Fleischstück in der Wand, aus – dort trocknete eins auf einem Felsen. Die Angst kribbelte auf ihrem Rücken. Turid bog um die Ecke, quetschte sich an einem Stein vorbei, an noch einem, an noch einem – die Angst kroch ihr in den Nacken hinein – dann blieb sie stehen. Ein Geruch waberte von hinten in ihre Haare, vorn traf einer ihre linke Wange, der andre ihre rechte. Eine Gabelung. Das Echo kam ihr bekannt vor, aber sie war nicht sicher, und plötzlich stellte sie in Frage, aus welchem Gang sie gekommen war.

Sie krümmte sich zusammen und presste die Hände auf die Oberschenkel.

Sie wusste nicht mehr, wo sie war. Sie roch nichts mehr. Sie sah nichts, natürlich nicht. Oh Beowulf – was hast du dir dabei gedacht? Wie viele Zugänge mussten die Tunnel haben, wie viele ihrer Zweige führten wieder zurück zur Küste, weil Beowulf sie von dort aus hatte locken wollen, wie viele falsche Wege gab es, die sie zurücktrieben, im Kreis schickten, in die Irre führten, bis sie sich hoffnungslos an einem trostlosen Fleck Erde verlief und zugrunde ging? Würde Hadubrand dort auf sie warten?

Keuchend richtete sie sich auf. Sie war erregt, wenn sie daran dachte, dass nur ein Mensch die Spur gelegt haben konnte. Ihr wurde schlecht, wenn sie daran dachte, dass Hadubrand Beowulf hieß und Beowulf Hadubrand. Sie hatte die Furcht vor dem Biest abgetan aus Liebe zu dem Mann, aber jetzt, da sie hier stand und das Gefühl hatte, etwas starre ihr auf den Hinterkopf, da hätte sie schreien mögen. Wozu das Warten? Warum nicht auf der Reise den Tod durch Finsternis riskieren, wenn ihr beim Warten der Tod durch Zähne sicher war?

Ihr schmerzendes Bein führte ihr den jüngsten Fall vor Augen. Es wäre hoffnungslos gewesen, sagte sie sich. Es ist alles hoffnungslos.

Sie versuchte, sich zu orientieren. Die Landschaft war fremd. Vertraute Felstrümmer, Schluchten, Höhlenwände, ja, aber sie waren wie einmal geschüttelt und zu einem neuen Rätsel zusammengesetzt, sie verschworen sich in der Dunkelheit zu tödlichen Fallen. Sollte sie dem Hauch folgen, der hinauf in einen Gang führte, in dem das Echo dünn verklang? Oder in den breiten Tunnel mit den rauen Wänden? Da war nichts als die wirre Spur. "Warum hast du nicht nach mir gesucht?", flüsterte sie.

Turid fühlte das Blut aus ihrem Gesicht weichen. Keine anderen Hände als Beowulfs konnten das Fleisch verteilen. Kein anderer als Beowulf konnte sich dazu entschlossen haben... aber, nicht doch... das war nicht die Wahrheit.

„Nein", sagte sie bestimmt. Hadubrand konnte nicht mehr mit ihr spielen, ihm fehlte der Handlanger. Denn Beowulf liebte sie. So sicher, wie oben die Sonne aufging, wusste sie, dass er sie nie mehr verraten würde.

Vielleicht war Beowulf schwach. Verletzt. Vielleicht war er die Küste entlanggewandert und hatte sie nicht gefunden, weil das Salz Tag für Tag ihren Geruch von den Felsen wusch. Vielleicht war diese Spur seine letzte Hoffnung gewesen, ihr den Ort zu zeigen, wo er sich in völliger Erschöpfung zur Ruhe gelegt hatte. Vielleicht war das Tier ebenso schwach wie er und weit, weit weg.

Turid schüttelte den Kopf. Selbst wenn Hadubrand ihr nicht auf den Fersen war – das Wasser stieg unerbittlich. Sie hatte keine Wahl. Sie hatte nie eine Wahl. Nicht hier.

Leise menschliche Schritte hinter ihr. Sie machte einen Satz und drehte sich um.

Nichts. Nur verirrter Schall.

Turid schulterte ihr Bündel und setzte ihre Wanderung fort. Sie erwartete Enttäuschung. Aber die kam nicht. Stattdessen lief Schauder um Schauder ihr Rückgrat hinunter; es wollte gar nicht mehr aufhören. Als könnten solche Geräusche von jemandem anderen sein als Beowulf. Ha!

Ihr fiel ein, was er einmal gesagt hatte. Da ist irgendwas in dieser Höhle. Je weiter wir den Fluss hinabrudern, je stärker beschleicht mich das Gefühl, dass wir noch darauf stoßen werden. Ich kann es riechen. Turid senkte den Kopf. Die Gänsehaut hatte sich auf ihrem ganzen Körper ausgebreitet wie eine schuppige Krankheit. Ihr war, als braute sich in den hohen Trümmern hinter ihr ein Sturm zusammen.

Und wieder – tap, tap, tap.

„Beowulf?"

Keine Antwort. Das könnten auch Kiesel sein oder Wassertropfen, dachte sie. Sehnsüchtig leckte sie sich über die trockenen Lippen.

Tap.

Ihre Lippen standen offen.

Tap. Wenn es ein Tier war, so hatte es zwei Beine. Es hinkte. 

Turid wich zurück. Nie in ihrem Leben war sie so still gewesen.

Tap tap tap tap... kam es näher?

In ihrem Kopf brach etwas – ehe sie wusste, wie ihr geschah, rannte sie um ihr Leben. Ängste und Erinnerungen brannten in ihr durch wie Zündfäden, sie spürte einen Blick in ihrem Nacken, ganz deutlich, sie hörte Bewegungen hinter ihr, auch wenn sie unter ihren Füßen selbst Steine und Staub aufwirbelte und ihre Vorräte gegen ihre Schultern klatschten und das Echo all den Lärm gierig verschlang. Ihre Haut schmerzte vor Angst. Doch ein Teil von ihr wünschte anzuhalten. Wenn er es war? Wenn er stumm war? Wenn er sich danach sehnte, sie zu erreichen?

Ein alter Instinkt regte sich und Turid spürte, was sie zuvor nur auf der Flucht vor dem Eroberer gespürt hatte: Urangst. Finsternis und doch der Blick dem Tod ins Auge. Solche Gefühle – nicht bei Beowulf.

Ohne darüber nachzudenken, stürmte sie in den breiten Gang, dessen Boden glatt und gnädig war. Sie fegte durch die Dunkelheit, während das Verlangen des Eroberers wieder blind hinter ihr brannte und ihm gebot, alles zu tun, um sie zu erreichen. Ihr war, als strecke er als lebendiger Toter die Arme nach ihr aus. Seine Kraft loderte durch Hadubrands dunkle Magie. Sein Atem war wild und krank. Die Verwesung verstopfte die Höhle dick wie Nebel.

Als wäre sie gegen eine unsichtbare Wand gelaufen, blieb Turid stehen. Ein Getöse aus Schall folgte ihr – eine Horde Krieger hätte hinter ihr her sein können, sie hätte sie nicht herausgehört. Sie stand in der Finsternis und atmete kaum. Das war keine Einbildung. Es roch wirklich faulig. Sie wimmerte und trat mehrere Schritte zurück, dabei stolperte sie über ein weiteres Stück Fleisch. Sie wollte es nicht. Sie hatte das Gefühl, dass die Spur sie töten würde.

Tap. Das Blut schwappte ihr in den Adern, als wollte es ohne sie weiterfliehen.

Turid sprang an die Wand und drückte sich so eng gegen den Stein, dass es wehtat. Ein Felsen löste sich hinter ihren Kopf, bröckelte hinunter bis zur Brust, bröckelte weg – und Turid mit ihm. Rücklings fiel sie in die durchgebrochene Wand und landete in Schmerz. Eine Sekunde lang hielt sie sich für tot, bevor sie merkte, dass es eiskaltes Wasser war, was sie umschlang.

Ein kurzer Kampf, ihre Hand brach durch die Oberfläche. Sie zog sich nach oben. Die Strömung spülte sie wieder nach unten. Die Kälte war unbeschreiblich.

Dann war es vorbei.

Turid kauerte am Flussufer und schnappte nach Luft. Sie hatte kein Wasser in den Lungen, sondern Angst. Wie eine Faust zog das Gefühl ihren Atem zusammen und hielt ihn fest. Sie kämpfte, bis ein klein wenig Leben in ihren Brustkorb drang. Sofort schlug die Angst wieder zu. Sterne traten vor ihre Sicht. Sie dachte noch: Ein armseligeres Ende hätte ich nicht haben können.

Hör nur..., hauchte eine Stimme in ihrem Kopf. Turid sah auf. Luftleer, wie sie war, erkannte sie die Stille erst spät. Der Bach floss lautlos dahin. Ihr Herzklopfen meldete sich dumpf hinter ihren Rippen, bis der Krampf sich löste und ihre Lungen waren frei waren.

Zu atmen machte alles schlimmer. Die Verwesung drang ihr in jede Pore, es war keine fleischige Fäulnis, sondern abgestandener, greiser, staubiger Zerfall. Die Luft schnitt ihr ins Fleisch wie ein Messer. Turid zitterte am ganzen Leib. Es war so kalt.

Und dunkel.

Dunkler als alles, was sie jemals gesehen hatte. Wie wenn man auf einen Schatten schaut, bis die Sonne hinter einer Wolke verschwindet und ein noch schwärzerer Schatten ihn verschluckt... und am Ende kommt die Nacht und verwandelt alles, was Licht und Schatten macht, in einen großen nichtssagenden Fleck.

Ein stiller Fleck. Turid horchte. Kein Tap.

Dann also doch nur... nichts. Oder alles andere als das. Obwohl da nur modrige Schwärze war, veränderte sich die Finsternis vor ihr. Wirbel kräuselten sich in der Luft. Die Kälte schwang ihr wie eine Kinderschaukel entgegen und wieder fort, hin und her... der Bach säuselte seinen Singsang, die eine Geisterbeschwörung hätte sein können.

Turid machte sich winzig klein. Leere Hüllen um sie herum? Kalte Küsse und Knochenfinger in ihren Haaren? Lebendige Tote?

„Ich werde verrückt", krächzte sie und hielt sich die Hand vor den Mund. „Verrückt... verrückt...", verrückt... verrückt, antwortete die Höhle. Ihre Beine zog sie langsam aus dem Wasser. Sie waren aus Eis. Hätte es Licht hier unten gegeben, Turid hätte trotzdem nichts gesehen. Die Atemwolke vor ihrem Mund musste dicht genug sein, um sie in die Hand zu nehmen.

Sie drückte ihr Bündel an ihren Bauch wie ein Mädchen seine Puppe und erhob sich. Humpelte ein paar Schritte – brach wieder zusammen. Sie war nicht sie selbst. Die Finsternis kroch ihr ins Gehirn. Ohne es zu wollen, dachte sie an Neumondnächte und Raureif auf Totenschädeln und verwitterte Gebilde, die sich scharf wie Glas schwarz und weiß im Sumpf mit den Bäumen um die Wette spiegelten.

Sie verstand, dass etwas ihr diese Bilder in den Kopf setzte, sei es die Luft oder der Schock oder... etwas. Sie dachte daran, dass dies ein Ort wäre, an dem Hadubrand hätte geboren werden können. Sie sah Frauen mit wächsernen Gesichtern in einem Leichenberg sitzen, Krallen, Schweife, Flügel, Schnäbel, Ohren, Nüstern abhacken und nähen, nähen, nähen. Sie dachte daran, dass dies wahrscheinlich passiert war. 

Es roch nicht nur nach Zersetzung. Es roch nach Hexerei.

Ich kann es riechen, hörte sie Beowulf sagen.

Turid wurde alles klar. Dies – dies war der Ort, der Pol, von dem alles ausging. 

Beowulf hatte ihn gefunden. Er hatte sie hergeführt. „Wozu?!", klagte sie in die Finsternis hinaus. Der Ruf brach sich an der Decke und schoss ins Wasser, wo er verschwand.

„Du hast mich nicht verraten! Das hast du nicht! Das hast du nicht!"

Das hab ich nicht, hörte sie ihn sagen. Turid verstummte. Täuschend echt erklang seine Stimme in ihrem Kopf. Der Wind musste sie ihr geflüstert haben.

In Trance schleppte sie sich die Felsen hinauf. Die Verwesung brachte sie beinah um. Die Geister strichen vor ihr durch die Luft und die bunten Schlieren, die sie so oft auf ihrer Netzhaut sah, wurden hart und grau. Bevor sie die Höhle betrat, die schwarze, verschwiegene, geheimnisvolle Höhle, wusste sie bereits, dass dies das Herz der Finsternis war. 


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