Kapitel 84. Hättest du es für mich getan
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Die Dunkelheit umfing sie, als der Fluss nach ihm griff und ihn forttrug. Beowulf!, wollte sie rufen, aber sie bekam nur Wasser in den Mund. Ihre Kehle begann zu brennen, das Salz in ihren Augen verursachte ihr Höllenqualen. Sie tauchte auf und schnappte nach Luft. Schwärze. Rauschen. Wo war oben? Wo war unten? Wo war Beowulf?!
Etwas stieß ihr kräftig in den Rücken und ließ sie durch die Wellen sausen – es war Hadubrand, der sich wieder gedreht und sie getreten hatte. Noch ein Wirbel, noch ein Sog, und sie trieb mitsamt ihrer Planke in eine völlig andere Richtung. Nein!, schrie sie stumm. Lass mich da! Sie würde bis zum Grund des Meeres tauchen, wenn es sein musste, um ihn nach oben zu holen, doch die Strömung – sie war rasend schnell: Als Turid Hadubrand knurren hörte, wusste sie in derselben schrecklichen Sekunde, dass sie außer seiner und auch Beowulfs Reichweite war. Mit einem stummen Schrei streckte sie die Hände aus, verlor den Halt und rutschte ins Wasser. Die kalte Nässe schmiegte sich an sie und brachte ihre Haut zum Prickeln. Und sie sank, senkrecht. Wie wenn jemand eine unsichtbare Leiter erklimmt und dabei nach unten rauscht. Nein! Nein!, kreischte eine innere Stimme, denk daran, was er dir beigebracht hat, erinnere dich!
Turid erwischte ein winziges bisschen Luft und begann, mit den Beinen zu strampeln. Wie von selbst bildeten ihre Finger flossen, ihre Brust richtete sich auf, und dann brach sie auf ein Neues durch die Wasseroberfläche und trieb auf dem Strudel. Ihre Hand streifte das Holz, sie strampelte fester – und hatte es.
Blitzschnell packte sie die Planke, drehte sich um und versuchte, sich zu verorten. Es war nicht schwer. Das Ungeheuer bewegte sich heftig und die Schwärze schäumte um es herum; sie hörte, wie schwer Hadubrand vorankam und wie er knurrte und prustete. Er schnaufte wie ein Wildschwein, dem ein Pfeil in der Seite steckt. Etwas setzte ihm zu.
Kälter als alle Wasser lief ihr der Schauder den Rücken hinunter, als sie daran dachte, ob es Beowulf war, der gerade unter ihr ertrank. Kannst du ertrinken?, fragte sie sich inmitten von Gischt und Luftblasen. Die Nässe klebte ihr das Haar vors Gesicht und sie konnte nicht atmen.
Turid schrie und schüttelte sich. Dann erstarrte sie.
Eine seltsame Stille umfing die Szene. Da war nur Hadubrand, der sich abmühte. Der ferner und ferner erklang. Und das schwarze Wasser.
Sie wimmerte und klammerte sich fest an das Holz.
Das Tier jaulte. Zart war das Gurgeln, mit dem es – versteinert, genau wie Beowulf – in den Fluten versank. Ein letztes Japsen, aus dem die bitterböse Überraschung sprach und dann herrschte Schweigen.
„Nein!" Turid strampelte, doch das aufgewühlte Wasser zog sie fort.
Sie schluckte das Salzwasser und unterdrückte ihr Husten, zwang sich, ganz still zu sein. Sie lauschte in die Finsternis hinein. Jeden Moment, dachte sie sich, werden sie wieder auftauchen, weil das Wasser ihnen nichts anhaben kann, gleich – aber... da war nichts.
Nicht einmal mehr das Plätschern erklang laut genug, um sich Hoffnungen zu machen. Nur ihr eigenes Keuchen und dann ihr Schluchzen erfüllte die Finsternis. Turid weinte.
Pflock, machte es. Die Planke stieß gegen den Stein.
Sie wusste bereits, dass die Meerenge zu Ende war. Seit einer Weile schon verschwand der Schall ihres leisen Atems nicht mehr in der Endlosigkeit, sondern kehrte jedes Mal wie ein Kind in ihre Arme zurück. Hh-hh... Hh-hh...
„Arrrh", machte sie, ein Laut tief aus ihrer Kehle und voller Schmerz. Ein Laut des Nicht-wohin-Wissens. Einer, der davon erzählt, dass einem Menschen die Wurzeln entrissen sind.
Ohne recht darauf zu achten, zog sie sich die Brandung hinauf. Das feuchtkalte Moos an ihrer Wange schien sie zu verspotten. Keine Wärme mehr dort. Nirgendwo.
Mit Tränen in den Augen lag sie da und dachte nichts. Sie zitterte am ganzen Körper und bemerkte es nicht. Sie hörte ihr eigenes Magenknurren und erkannte es nicht. Sie war leer. Schwach.
Nach einer Weile legte sich die Dunkelheit wie eine Decke über ihre Augen und es wirkte, als wolle der fremde Ort sie willkommen heißen. Ein kleiner warmer Wind trocknete ihre Haare.
Turid begann aufzutauen. Sie dachte nach.
Dachte an die Hoffnung, dass dies ein Traum sei, dachte an die Natur des Bösen und der Finsternis und dass sie es hätte wissen müssen, dachte daran, dass die Schuld sie traf, weil sie vermessen und undankbar und lichtsüchtig war. Dabei hatte sie alles gehabt, was sie brauchte, ein Leben – und nicht einmal ein schlechtes. Sie hätten im Paradies bleiben sollen, wo es Wärme und Nahrung und Beowulf gab, aber sie, sie musste nach dem Apfel greifen und alles zerstören.
Habe ich dich gezwungen?, fragte sie sich. Habe ich dich benutzt – deinen Geist wie deinen Körper?
Mit der Nase fest an den Boden gepresst lag sie im Moos und schniefte, als ihr einfiel, wie nah sie sich gewesen waren, so nah, wie es Mann und Frau möglich war. Wie Hohn war es, dass sie ihn gerade jetzt zu spüren glaubte, warmer Atem an ihrer Seite, warme Haut auf ihrer Haut und vollkommene Wärme in ihr, und auf einmal wünschte sie sich, sie hätte ihm erlaubt, sie zu berühren. Sie sehnte sich nach seinen kalten Fingerspitzen an ihrem Hals, sehnte den Moment herbei, da er wandern wollte, damit sie es ihm diesmal gestatten durfte. Aber der Moment kam nicht. Das Gefühl verschwand.
Beowulf war gut zu ihr gewesen. Besser als die meisten, die sie in der Oberwelt je getroffen hätte und dabei hätte er schon längst wahnsinnig sein müssen nach so viel Finsternis.
Turid zitterte vor Wut, als sie erkannte, wie das Schicksal ihm mitspielte. Er hatte nichts Böses gewollt, er war nur Opfer weiblicher Geschicke geworden, erst durch Sif und Eifersucht, dann durch Turid und Großmut. Habe ich das Licht nicht verdient, fragte sie sich – und sofort darauf: Hätte er es nicht mehr verdient? Keiner wie er war so heimatlos, so gequält. Keinem hatte die Finsternis so viel entrissen. Turid hatte eine Familie zu beklagen, der sie nicht nahe gewesen war, und etwas von ihrer Gesundheit, aber er... er verlor seine Ehre, die tiefste aller Freundschaften und das Schlimmste, was ein Mensch verlieren kann: seine Sterblichkeit.
Nie hatte sie einen mit einer Natur wie diesen getroffen, einen Mann mit tiefen Narben auf der Seele und der Haut, aber doch geruhsam im Innern, ein Mann wie erloschene Glut. Sie wollte nie wie er sein und hatte doch das Gefühl, dass größere Erhabenheit bei einem Menschen, der Solches erlebt hatte, nicht möglich war.
Und jetzt? Er hatte sich ihr gefügt vom Moment an, da er sich für sie und gegen Hadubrand entschieden hatte. Er war in ein Spiel mit dem Feuer eingestiegen im Wissen, dass er verlieren würde, und dann hatte er verloren. Für wen genau? Für sich selbst? Oder nicht doch für sie, die Frau, in die er sich verliebt hatte? Unschuldig war er von Adalger gerichtet worden, unschuldig sollte er von Hadubrand gerichtet werden.
Turid setzte sich auf und starrte auf die schwarze Wand vor ihren Augen. Es würde nicht einmal ein Ende nehmen. Tot? Alle beide? So einfach konnte es nicht sein.
Beowulf hatte ihr gesagt, wie sie miteinander verbunden waren. Konnte man seinen Worten glauben, war Hadubrand ein mächtiges Geschöpf, das womöglich niemals starb. Somit starb er auch nicht, denn wäre es anders, hätte ihn das Tier niemals am Leben gelassen. Und er hatte von der Zeit gesprochen, an die er sich kaum erinnern konnte, Jahrzehnte in der Höhle in einem halbtoten Dämmerschlaf.
Ertrunken also? Nein. Schlimmer – dem Bewusstsein beraubt und auf dem Grund des Meeresbodens gefangen. Sicher umkreisten ihn schon kleine Tiere in der Hoffnung, ihr eigenes kleines Paradies in ihm zu finden. Bald würden sich Algen in seiner Kleidung sammeln wie jene, die sie gegessen hatte. Hatte er die Wahrheit gesprochen, so würde er davon nichts mitbekommen. Er würde friedlich schlafen.
Genau wie sein Blutsbruder.
Turid krümmte sich zusammen. Sie konnte nicht verhindern, dass eine seltsame Leichtigkeit über sie herfiel wie kalter Regen. Das Gefühl schlang sich um ihr Herz und brachte es zum Rasen.
Der Weg vor ihr war beschwerlich, kein Zweifel. Ohne Augenlicht konnte sie stürzen, ertrinken, verhungern oder wahnsinnig werden, bevor sie auch nur einen Hauch von der Oberwelt durch die Gänge wehen spürte. Aber ihrer beider Angst hatte immer der Übermacht gegolten, dem Schatten, der sie jagte: Hadubrand. Ja, Beowulf war fort und ohne ihn war sie hilflos wie ein Kind. Sie wäre eine einsame, hoffnungslose Reisende. Aber auch nicht mehr als das. Keine Gejagte mehr.
Die Tore standen offen. Wenn sie der Meerenge folgte, die den Kahn hergetrieben hatte... dann war es womöglich gar nicht weit....
Vor ihrem inneren Auge sah sie Hadubrand reglos in der Strömung treiben, wo ihm seine Größe und seine Stärke nichts nützte, solange seine menschliche Bürde nicht atmete.
„Beowulf", flüsterte sie. „Wäre dies dein Wille gewesen, so hättest du es für mich getan." Turid hielt inne und überlegte, wie diese Worte klangen und seufzte.
Sie drehte sich um und lauschte in die fremde Dunkelheit, wo leise Geräusche von schlagenden Herzen zeugte. Es war kein Gewimmel wie ehedem, aber es war gut in seiner zaghaften Art. Sie roch Algen und Moos und Schilf und Süßwasser. Sie war nicht allein. Hier konnte sie finden, was sie zum Leben brauchte, vielleicht sogar für eine lange Zeit.
Und wenn sie sich für Jahre von Schlangen ernähren musste... hätte er es für sie getan, hätte er es umsonst getan. Natürlich würde sie warten.
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