Kapitel 82. Hadubrand, der Seelenfresser
~
„Fallen. Wir wissen beide, wie es ist.
Im einen Moment drückt dich dein eigenes Gewicht in die Erde und du glaubst, dass sie dich immer halten wird, sie ist deine Wurzel, du berührst sie dein ganzes Leben lang. Im nächsten spürst du das Nichts. Deine Füße brauchen eine winzige Sekunde, um zu begreifen, dass da Leere ist, dann springen dir die Eingeweide nach oben, die Welt friert ein, du wirst schwer und fällst und fällst und die Schwärze leckt an dir wie kalte Flammen.
Jeder, der einmal fiel, hat das gespürt. Aber nur in der Lichtrinne, dem Schlund, fällt man so lange, dass noch Zeit für eine Erkenntnis ist: Von deiner Erde losgerissen zu sein macht dich frei. In gewisser Weise ist das Fallen schön, es ist... Fliegen ohne Flügel. Fallen tötet dich nicht. Aufprallen tut es.
Ob gestählte Muskeln, stramme Haut, Knochen wie ein Ochse – am Ende werden die zähsten Krieger zu Matsch. Dein Gewicht, das dich früher sicher gemacht hat, wird dir zum Verhängnis, dein Körper zerschmettert sich selbst. Hast du dich je gefragt, warum du deinen Aufprall überlebt hast? Leicht wie eine Feder bist du. Alle Zierlichkeit, die dich da oben schwach gemacht hat, ist dein Panzer, wenn der Boden näher kommt.
Ich bin nie aufgeprallt, Turid. Ich starb nicht allein und verwirrt in der Finsternis, musste nicht warten, bis er mich holte. Ich fiel direkt in sein Maul.
Ich stelle mir manchmal vor, wie das Tier lebte, bevor ich kam. Ein König in seinem Reich aus Knochen, Stein und Finsternis. Sicher war ich nicht der Erste, den das Loch sich holte, und ich sollte auch nicht der Letzte sein; ich war nur der Letzte, bei dem es unter die Felsplatte kroch, sich krümmte, den Kopf reckte und den Kiefer weit aufsperrte wie eine hungrige Schlange, während seine Zunge sich kräuselte und sein Speichel zu schäumen begann. Ich weiß, dass es so war, auch wenn ich es nicht sehen konnte – noch nicht. Ich fiel durch die Finsternis, fiel, fiel, dann war es zu Ende, mein ganz eigener Aufprall war da. Es war kein Schlag, sondern ein Gleiten – sanft, wenn man so sagen mag, sanft, finster und feucht von seinem Sabber, während es mich mit seinen Zähnen durchbohrte.
Nur hatte das Tier nicht damit gerechnet, dass ich bewaffnet war. Mein Schwert war schwer, es fiel mir voraus und kam vom Licht in die Finsternis direkt in seinen Rachen.
Blut. Geifer. Finsternis. Als die Klinge in ihm stecken blieb – tief trieb der Fall sie hinein – da hatten tausend Zähne mich bereits erstochen und ich lag im Sterben, aber ich hörte noch, wie das das Tier einen Schrei ausstieß, den ich niemals vergessen werde. Es taumelte und fiel zu Boden, ich nahm die Erschütterung durch seinen Schädel wahr. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es spätestens da mit mir vorbei war. Weißt du, beim Sterben schmilzt deine Zeit wie Schnee in der Sonne, mündet in den Fluss der Unterwelt und trägt dich davon. Es ist wie Einschlafen für immer.
Nur, dass ich doch erwachte. Gerade rechtzeitig, um bei etwas dabei zu sein, das sich anfühlte wie die Geburt eines Gottes. Ich steckte noch immer kopfüber in seinem Maul und konnte nur die Verwesung einatmen, während es sich wand und schrie. Ich spürte, wie es vor Schmerzen die Zähne zusammenbiss und mich weiter erdolchte, spürte, wie sein Blut aus seinem Inneren hervorquoll und in meine Adern eindrang, so wie meines seine Kehle hinunterfloss und sich mit ihm vereinte. Es lag so viel Kraft in seinem Blut, dass das Biest mich ins Leben zurückschmetterte, ohne es gewollt zu haben. Dann durchfuhr es ein Ruck. Wie die Welt am Tag des Jüngsten Gerichts erzittern muss, fegte durch die Unterwelt ein gewaltiger Schauder.
Etwas löste sich von dort, wo mein Schwert versunken war. Die Klinge war an seinem Gaumen vorbei mitten in den Kern des Ungeheuers gedrungen, nicht in sein Herz, es war etwas Tieferes, ein mächtiges Ding jenseits der Fühlbarkeit aller Dinge. Da war etwas Urzeitliches in ihm, wie eine Kugel aus Kraft, die dort schwebte. Und ich hatte sie gespalten. Als ich erwachte, lösten sich gerade die Hälften voneinander.
Die Finsternis war immer noch da, aber ich konnte trotzdem sehen, wie es passierte. Mein Schwert war in einen Scherbenhaufen zerbrochen, nur eine kleine Zacke ragte noch aus dem Griff hervor. Oh, aber wie scharf sie war! Ich überlegte nicht lang, langte seine Kehle hinunter und packte eine Hälfte der Kugel, die da und gleichzeitig nicht da war – ich konnte meine Finger durch sie hindurchschimmern sehen – meine Haut schmolz, denn die Kugel war glühend heiß, und dann rammte ich die Waffe hinein. Was mir wie eine gewaltige Masse aus geballter Energie vorgekommen war, verpuffte ins Nichts. Und Hadubrand... schrie.
Es war seine Seele, Turid. Ich hatte seine Seele gespalten und eine Hälfte zerstört. Das Tier spie mich aus, ehe ich nach der zweiten Hälfte hacken konnte. Ich hätte mir sämtliche Knochen brechen oder an meinem Blut ersticken, ja schon ein Dutzend Mal tot sein müssen, aber ich hustete nur, als ich an die Wand donnerte, und stand auf. Ich kam mir... stark vor. Tot, aber stark, wenn man das so sagen kann. Ich konnte alles sehen, hören, begreifen. Alles fühlte sich seltsam klar und falsch an, manche Teile meines Körpers schienen mein zu sein, andere fühlten sich so fremd an, dass ich würgen musste. Ich litt Höllenqualen weit über die Stichwunden hinaus. Heute weiß ich, dass es sein Schmerz war, den ich spürte.
Als er mich aufspießte und ich ihn, hatte sich unser Blut vermischt. Du kennst doch die Blutschwüre? Und die Flüche? Wenn man sich unter einem magischen Stern in die Handflächen ritzt und sie aneinanderpresst? Wir haben uns ausgetauscht, Turid, er von mir und ich von ihm und das alles in der Finsternis, dem Ort, der der Unterwelt am nächsten ist. Ich hatte also seine Stärke bekommen und mir war sofort klar, was ich ihm im Gegenzug mit meinem Blut geschenkt hatte: Meinen Verstand. Es klingt unfassbar, aber er veränderte sich, bekam etwas Menschliches, so wie ich etwas von dem Tier in ihm erhalten hatte. Ich hob den Kopf und er legte seinen schief, als sei er ein Jemand. In der verschwommenen Schwärze um ihn herum war ein Funke entzündet, der ihn viel gefährlicher machte, als ich es mir je hätte erträumen können.
Menschen sind furchtbare Geschöpfe. Sie bringen so viel mit sich, was die Liebe und ihre Raffinesse und alles Gute in ihnen wieder zerstört – Rache zum Beispiel. Ich wusste sofort, dass er mich wollte. Und er kam.
Ich weiß nicht, was mich dazu trieb, es zu tun. Aber ich kann mir vorstellen, dass ich mir aus purer Furcht die Zacke ins Herz rammte, als ich auch nur den ersten seiner Schritte hörte. Ich denke, ich wollte nicht, dass er mich lebend bekam. Vielleicht ahnte ich auch, dass der Tod das gnädigere Ende für mich gewesen wäre.
Das war der größte Fehler, den ich jemals begangen habe. Wie konnte ich nur glauben, ich sei fähig, mich selbst zu töten, wenn nicht einmal Hadubrand es geschafft hatte? Als die Klinge in meine Brust drang, explodierte eine Welt aus Schmerz, es riss mich von den Füßen und ich musste mitansehen, wie auch aus meiner Brust eine Kugel aus geballter Kraft entschlüpfte. Sie war beschädigt, die zwei Teile verband nur noch ein dünner Faden. Ich hatte es wieder getan! Meine eigene Seele gespalten! In der Finsternis funktionieren die Gesetze des Lebens anders, und dass ausgerechnet der Kern unseres Seins in ihr am verletzlichsten ist, konnte ich nicht wissen. Schätze, die Dinger brauchen den Schutz des Lichts, oder Gottes, oder beides – ich bin das Licht der Welt, wer mir nachfolgt, wird Seelenheil erlangen und so weiter, das haben sie sich ja nicht einfach ausgedacht. Kein Licht hier unten. Gott hat Angst vor diesem Ort.
Tja... keine Seele zu haben ist schrecklich. Eine große Leere überkam mich. Ich fühlte – nichts mehr. Ich war nichts. Gleichzeitig war ich noch da und wäre es auch für immer gewesen, denn gestorben war ich ja nicht. Kannst du dir vorstellen, auf ewig in einer leeren Hülle zu wohnen? Ich konnte es nicht. Ich ergriff all meine Willenskraft und hielt die Kugel fest, riss sie zurück, dabei brach der Faden, die zweite Hälfte entglitt meiner Hand und schwebte davon.
Hadubrand grinste. Er zog die Lefzen zu einem Lächeln, ich schwöre es. Er trat vor. Und stürzte sich auf das schwebende Ding. Hinter seinen Zähnen blitzte seine eigene Seelenhälfte davor und mir war, als streckte sie die Finger nach meiner aus – sie sahen exakt gleich aus, und ich glaube, hätten sie sich berührt, wäre Hadubrand wieder vollständig gewesen. Ich erwartete also, ihn meine Seelenhälfte schlucken zu sehen, aber das tat er nicht.
Die Menschlichkeit hatte ihm auch all unsere Makel gebracht, der Zorn war zu groß. Mit dem größten, spitzesten seiner Zähne spießte er sie auf und sie verschwand. Der Schmerz war unbeschreiblich. Wiederum verlor ich das Bewusstsein.
Ich erwachte, als Hadubrand über mir stand. Meine Sicht war noch nicht scharf genug, um ihn wirklich zu sehen, er war mehr wie ein Schatten in meinen Augenwinkeln. Manches von ihm war da, so wie seine Zähne, anderes nicht, seine Farbe zum Beispiel. Oberhalb seiner Lefzen lag alles im Schatten und ich danke den Göttern, dass mir der Anblick seines Gesichts bis heute erspart blieb.
Ich ahnte, was jetzt kommen würde. Immerhin lechzte er nach etwas, das ich hatte – eine gesunde Seelenhälfte. Ich hatte in so manchen dunklen Geschichten von Geschöpfen gehört, die einem auf diese Weise das Leben aus dem Leib holen, und wusste jetzt, dass ich einer solchen Gestalt gegenüberstand, aber was half es mir? Nichts anderes konnte ich tun, als mein Stückchen Leben festzuhalten. Ich drückte meine Hände fest an meine Brust. So ein Unsinn... natürlich sind es die Augen, durch die man in die Seele blicken kann, und wie sich herausstellte, kann man sie darüber auch aus dem Körper holen. Nun, Hadubrand versuchte es zumindest.
Ich spürte den Zug. Ein grauenhaftes Spannen in meiner Brust, unfassbare Schmerzen in meinen Augen, in mir rumorte die verkrüppelte Kugel, sie wollte nach oben treiben und sich mit der Hadubrands vereinen.
Dann geschah etwas Eigenartiges: Hadubrand zuckte zusammen. Dieses Tier, das den schwarzen Tagen der alten Magie entstammt, wohl so alt ist wie die ersten Menschen ist oder noch älter, krümmte sich, ihm war übel. Meine Brust entspannte sich. Noch einmal bäumte Hadubrand sich auf, zog, ich schrie wieder vor Schmerzen, doch die Kugel brachte er nicht aus mir heraus.
Stattdessen konnte ich seine Seelenhälfte schweben sehen. Sie stieß von innen gegen seine Zähne. Hadubrand schluckte und wimmerte. Er setzte sich hin wie ein geschlagener Hund. Durch unsere Verbindung konnte ich spüren, wie verwirrt er war.
Verstehst du, was geschah? Verstehst du, was Hadubrand ist? Er ist ein Seelenfresser. Verspeist nicht nur das Fleisch, sondern auch die Lebenskraft seiner Opfer. Aber jetzt war seine eigene verstümmelte Seele nicht mehr in ihm verankert: Mein Schwerthieb hatte ihm die Fähigkeit genommen, andere aus ihren Körpern zu holen. Was passiert wohl, wenn zwei Hälften sich außerhalb eines Körpers vervollständigen? Ich habe keine Ahnung. Wir haben es nie ausprobiert.
Das war der Anfang vom Ende. Hadubrands Wimmern erfüllte die Höhle wie ein tausendstimmiges Trauerlied, er klagte wochenlang. Er reute wohl, dass er meine arme schwebende Kugelhälfte gemeuchelt hatte. Ha! Hätte er sie sich mal lieber geholt. Er rannte in der Finsternis herum, als wüsste er nicht, wo seine Heimat war. Er verlor seine Brut und glich sich mir an, das habe ich dir schon erzählt. Und ich?
Ich wurde geduldet und ich heilte, das waren die einzigen Dinge, die von da an zählten. Erst saß ich tagelang regungslos in meiner Starre, bis ich mich zum ersten Mal bewegen konnte und begann, zu entdecken, dass in dieser Höhle nichts ist. Da ich wusste, dass auch mein Blut in Hadubrands Adern floss, war mir von Anfang an klar, dass er nicht versuchen würde, mich zu töten. Sind zwei Lebewesen über einen Blutfluch miteinander verbunden, leben und sterben sie gemeinsam. Er ließ mich einfach sein. Manchmal, wenn der Winter besonders kalt durch die Gänge fegte, spürte ich, wie sehr er mich hasste. Sonst nichts.
Ich lernte, was es heißt, sonderbar zu sein. Ich musste nicht essen und nicht trinken, ich war schnell und stark, mein Geruchsinn fabelhaft, mein Gehör fein und meine Sicht ein Genuss, und dazu brauchte ich nicht einmal Augen: Ich hatte von Hadubrand erhalten, was man den sechsten Sinn nennt. Auf der anderen Seite funktionierte ich nicht mehr richtig, als Mensch, meine ich. Mir war alles egal. Ich geisterte durch die Höhle, tagein, tagaus, und fühlte mich manchmal den Steinen mehr verbunden als dem wenigen Leben, das ich hier fand. Das Schlimmste daran war, dass es mich nicht einmal scherte.
Auch unsere Seelenhälften waren sehr einsam. Anfangs tat es noch nicht so weh, in Hadubrands Nähe zu sein. Mit der Zeit begehrten sie immer mehr, sich zu vervollständigen, aber natürlich wollten weder ich noch Hadubrand hergeben, was uns geblieben war. Jetzt kommt also, was du schon so lange wissen möchtest: Hadubrand ist stärker als ich und, nun ja, zupft hin und wieder an mir, um mich zu quälen. Solange er es nicht übertreibt, kann er mich damit zwingen, zu tun, was immer er will. Ich bin die Fliege, die er in seinem Holzkästchen herumschüttelt, wie es ihm gefällt.
Siehst du, wie einfach es ist? Ich bin ihm nie aus einem tieferen Sinn heraus hörig gewesen. Es geht allein um rohe Gewalt. Natürlich verbot er mir, auch nur zu daran zu denken, aus der Höhle zu entfliehen. Wozu sollte ich auch? Adalger hat eine tiefe Wunde in mein Herz gerissen... ich hatte Angst davor, was mich oben erwarten würde. Dass er mich noch einmal hinunterstoßen würde oder ihn tot zu sehen gleichermaßen. Außerdem war es so anstrengend, zu denken.
Seinen Fehler beging Hadubrand nie wieder. Seit ich kam, wartet er geduldig in seiner Finsternis, wenn ein Mensch die Lichtrinne hinunterkommt. Als einige Zeit vergangen war, für mich waren es Jahre, oben wahrscheinlich ein ganzes Jahrhundert, traute ich mich, vor ihm nach den Hingerichteten zu sehen. Ich verabreichte ihnen sein Gift, um ihnen die Schmerzen zu nehmen. Im Gegenzug bekam ich ihre Kleidung, um mich wenigstens ein bisschen zu fühlen wie ein Mensch. Meine eigene war lange verrottet.
Irgendwann wurde mir klar, dass ich nicht alterte. Liegt es an seinem Blut? Seiner Macht? An der Finsternis selbst? Das ist nur ein kleiner Teil eines größeren Rätsels, das ich all die Zeit über nicht lösen konnte. Wo sind diejenigen, die vor mir kamen und warum hat er die letzte, die nach mir kam – dich – so lange am Leben gelassen? Wo kommt Hadubrand her, wohin wird er gehen? Was tut er, wenn ich nicht weiß, wo er ist? Er hat stets diesen Duft an sich, wenn er auf Wanderschaft war, nach... Unsterblichkeit, Turid, da ist irgendwas in dieser Höhle. Je weiter wir den Fluss hinabrudern, je stärker beschleicht mich das Gefühl, dass wir noch darauf stoßen werden. Ich kann es riechen.
Jetzt weißt du es. All diese vergeudeten Jahrhunderte in der Finsternis und ich war mir so sicher, dass es nie ein Ende nehmen würde... und dann kamst du. Den Rest hast du miterlebt. Mögen uns die Götter davor beschützen, was noch kommen mag."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top