Kapitel 8. Keine Fragen

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Als er endlich von sich hören ließ, spuckte sie in seine Richtung. Sie hätte lieber etwas geworfen, einen Stiefel am besten. Aber sie besaß keine.

„Wie konntest du nur!", schrie sie in die Finsternis. Seine Schritte waren verstummt und sie stellte sich genüsslich vor, wie er rundum überrumpelt in der Höhle stand. „Es kam und du warst nicht da! Gerufen habe ich dich!" Turid wandte sich ab und sank auf den Boden. Sie war völlig verausgabt. „Es hätte mein Ende sein können", jammerte sie, „und du warst nicht da."

Beowulf sagte nichts.

„Aber", hob sie an, als begänne sie eine Rede, „dein Haustier hat mich nicht gefressen. Nein, es hat mich gekostet wie eine Süßigkeit. Sieh her" – und sie hob die Fetzen ihres Kleides an, sodass er ihren Bauch sehen konnte – „ich wette, meine Haut ist so rot wie unverdünnter Wein. Ich weiß, dass ich blute. Ich rieche es", sagte sie.

„Turid", kam es aus der Dunkelheit.

„Seine Zunge hat Stacheln", zischte sie. „Kleine, es müssen tausende sein."

„Leg dich hin", sagte er.

Das brachte sie zum Schweigen. Eine Furcht kam wieder in ihr hoch, die sie in den letzten Tagen in eine kleine Ecke ihres Bewusstseins geschoben hatte. Die altbekannte Panik, er könnte ein Mann wie alle anderen sein und sie begehren.

Sie schluckte den harten Kloß in ihrer Kehle wieder hinunter. Wenn es so war, würde sie ohnehin nichts daran ändern können. Trotzdem gestattete sie sich, auf ihre – und seine – Vernunft vertrauen.

„Ich tue es", sagte sie.

„Muss ich dich dieses Mal wieder ins Reich der Träume befördern?", fragte er.

Ihr Ton war scharf, aber bestimmt. „Nein."

„Gut", sagte er und trat auf sie zu. Es widerstrebte ihr in allen Maßen, sich auszustrecken und den Kopf auf den harten Stein zu betten. Aber sie zügelte sich, der Atem immer noch hitzig von ihrer Wut. Sie war nicht verraucht. Nein, so einfach nicht.

Die Arme ruhten neben ihrem Körper, die Muskeln allerdings bis zum Zerreißen gespannt. Ihr Herz klopfte. Sie hörte, wie er sich neben sie kniete und meinte, auch seine Körperwärme spüren zu können. Wie fein alle meine Sinne werden, dachte sie sich.

Beowulf machte einen abfälligen Laut, als sie leicht zurückwich. „Beruhige dich", sagte er und schob ihr Kleid zur Seite.

Es war nicht direkt so, als machte er sie gänzlich frei; ihr Bein war jedoch weit oben gebrochen. Schamesröte stieg ihr ins Gesicht, als er den Stoff über den Verband schob und ihn in der Hüftbeuge ballte. Sie glaubte nicht, dass er wirklich einen Blick darauf erhaschen konnte... aber wer wusste schon, was er überhaupt alles sah.

Schlimmer war eher, seine Hände an ihren Schenkeln zu spüren. Es fühlte sich sündhaft an. Und es weckte Erinnerungen. Ihre Hand ballte sich zur Faust.

„Du kannst auch schlafen", meinte er. Turid glaubte, einen amüsierten Unterton in seiner Stimme zu hören. Sie schüttelte den Kopf, aber innerlich brodelte es in ihr. Für ihn war alles nichts weiter als ein Spiel, für ihn war sie ein albernes Kind. Beowulf verkannte, wie ernst sie es meinte –das Biest hätte ihr ohne weiteres den Kopf abreißen können, wenn es Lust dazu gehabt hätte.

Langsam wickelte er die Leinen von ihrer Haut, Schicht für Schicht. Seine Berührungen ließen sie harsch die Luft einsaugen: Jeder noch so kleine Druck an dieser Stelle war wie ein heißer Peitschenschlag. Aber da hatte sie noch nicht mit der letzten Lage gerechnet. Sie klebte fest. „Stopp", sagte Turid, als sie das Ziehen spürte. Aber er antwortete nicht, sondern zückte stattdessen seinen Dolch und löste das feuchte Tuch vorsichtig von der Wunde. Es schmatzte leise und war widerlich.

Langsam atmen, befahl sie sich. Dann fasste sie sich ein Herz und fragte: „Wie sieht es aus?"

„Es geht zusammen", antwortete Beowulf.

„Was habt Ihr mit dem Knochen gemacht?", wollte Turid wissen. Sie hoffte, dass es danach vorüber war. Dann konnte sie aufspringen und ihn weiter beschimpfen, denn der Frust zehrte an ihr, er musste hinaus, mehr Zeit wollte sie dieser Unterbrechung nicht gewähren.

Beowulf lachte. „Zurückgedrückt", sagte er. Natürlich. Roh, brutal, stümperhaft. Etwas anderes hätte sie nicht erwarten dürfen.

„Ich werde nie wieder gehen können", sagte sie.

„Wozu auch", sagte er.

Ratte, zischte sie, aber nicht laut. „Genau", flüsterte sie stattessen. „Wozu denn? Wozu das Theater?"

Sie spürte ihn wieder missmutig werden. „Keine Fragen", drohte er leise, aber das stachelte sie nur weiter an. „Warum versorgt Ihr den Bruch, wenn er doch nicht heilen muss?", erkundigte sie sich spitz.

Er schlug das letzte Stück Stoff zur Seite, bis die Wunde frei lag. „Keine Heilung heißt Entzündung", sagte er. „Entzündung heißt Tod."

„Ihr hättet das Bein auch abtrennen können. Eine kleine Sauerei, was meint Ihr?"

„Ausgeschlossen", sagte er.

Damit wollte sie sich nicht zufriedengeben. Die Wut kochte wieder in ihr hinauf, mit all den Sinnlosigkeiten, die sie immer wortlos akzeptieren musste. Sie sollte leben, aber nicht laufen. Sie sollte von oben erzählen, aber nicht von unten fragen. Sie sollte atmen, aber bitte nicht zu laut.

Wieder die Klinge an ihrer Haut.

„Mein Oberschenkel ist nicht mehr geschwollen", sagte sie.

„Ganz recht", pflichtete er ihr bei. „Schon lange nicht mehr."

Turid glaubte, sich verhört zu haben. Dann nahm sie ein Tröpfeln wahr – eine Flüssigkeit perlte auf die Klinge. „Was tut Ihr da?", fragte sie.

„Keine Fragen", sagte Beowulf und drückte die Spitze des Dolches in die Wunde. Turid schrie auf und zuckte zurück, worauf sie sich noch tiefer einritzte. Ein Feuer loderte in ihrem Bein und breitete sich in Wellen aus.

Genug. Es reichte ihr. Sie begann wieder zu zappeln, wollte von ihm fort, wollte sich befreien. Sie würde nicht mehr zulassen, dass er diese Dinge mit ihr tat. Sie würde nicht mehr alles anstandslos hinnehmen. Ihr Wille entfachte die Kraft in ihrem Körper... und klang ab.

Turid merkte, wie sie stiller wurde. Langsamer Luft holte. Ihre Muskeln kamen zur Ruhe. Und plötzlich fand sie alles nicht mehr so schlimm.

„Beowulf", sagte sie benommen, etwas anklagend, auch.

„Gut so", meinte er. Er schien mit sich selbst zufrieden.

„Gar nichts ist mit dem Wasser", sagte Turid.

Er stimmte ihr zu. „Es wirkt nur, wenn es ins Blut kommt. Und jetzt lass mich arbeiten."

Er zerrieb etwas zwischen den Fingern und strich es über das Loch in ihrem Bein, sachte, dennoch stöhnte sie vor Schmerz. „Ich war wütend auf Euch. Ich war noch nicht fertig", sagte sie. Sie hatte ihn anklagen wollen. Er hatte ihr dieses Recht geraubt.

Stummgestellt. Auf ein Neues. Es würde sie nicht wundern, wenn ihre Verletzung noch keine Behandlung nötig gehabt hätte. Er tat es, um einen Vorwand zu haben, das Gift in ihren Kreislauf zu bringen.

„Soll ich für den Rest meines Lebens so bleiben?", fragte sie. Ihre Stimme zitterte. Und Beowulf sagte nichts. „Warum sitze ich hier angekettet wie ein Hund? Worauf warte ich?" Lauter diesmal. Ich muss ihm ja direkt ins Gesicht schreien, dachte sie, er kniet kaum eine Armlänge vor mir, aber er antwortet mir nicht.

Eine sanfte Welle bremste sie, aber sie kämpfte dagegen an – nicht jetzt, bat sie, später, nur noch einen kleinen Moment – Müdigkeit wollte sie versinken lassen, sie wehrte sich – und überwand sie.

Eben war er noch dabei gewesen, ihren Schenkel wieder in die Leinen einzuschlagen. Doch jetzt klappte er sie wieder auf und Turid spürte den Dolch. „Es ist vielleicht nicht genug gewesen", sagte er.

Mehr... sie hatte da eine Ahnung. Sie glaubte, dass mehr von dem Zeug sie töten würde, sonst hätte er sie längst so stark betäubt, dass sie kein Wort hervorbrachte in ihrem Nebel. Ja, so wollte er sie doch. Sabbernd, stammelnd und still. „So tut es", forderte sie ihn auf.

Und er wusste genau, was sie meinte.

„Ich tue es", sagte er.

„Wir werden sehen, ob es mich umbringt", überlegte sie im Plauderton.

„So unbedarft?", fragte er, der Klang seiner Stimme bedrohlich.

„Ich habe es satt", erklärte Turid. „Lieber würde ich sterben als noch länger so zu verweilen. Ich kann ja einfach aufhören zu essen. Wie wäre das?"

Zorn schlug ihr entgegen, so deutlich wie stickige Luft. Innerlich jubelte sie, denn ihre kleine Heuchelei glich einem Stich in ein Hornissennest. „Du weißt überhaupt nichts", fauchte er, die Hände waren von ihrer Haut verschwunden, er war zurückgewichen, bildete nicht mehr als eine Kugel schwelenden Fiebers in der Finsternis.

„Ich will wissen", zischte sie und warf seine eigene Feindseligkeit zurück zu ihm. „Ich werde nicht unbekümmert hier sitzen, tagein, tagaus, bis du über mich entschieden hast – oder vielleicht weißt du ja genau, was du willst, dann besitze den Anstand, es mir zu sagen!"

Und er blieb wieder still. Bei Gott, sie hasste es, wie er sich ihre Blindheit zum Vorteil machte und ihr jegliche Antwort verwehrte.

„Kunde von oben willst du nicht von mir!", schrie sie. „Du willst nicht unterhalten werden, du willst mich nicht an einen anderen Ort bringen, du willst nicht, dass ich dir irgendwie helfe! Ja, und – ", sie raffte ihr Unterkleid zurück über die blanke Wunde, „es hätte für mich Sinn ergeben, doch nicht einmal mich willst du!"

Sie hörte ihn schnauben, tief und schwer, voller unterdrückter Wut.

„WAS IN ALLER WELT WILLST DU VON MIR?", kreischte sie.

Beowulf packte sie am Kragen und riss sie auf die Füße.

„Nun hör mir zu", fuhr er sie an und sie konnte sich vorstellen, dass ein Zähnefletschen jetzt gut zu ihm gepasst hätte, „du wirst kein – "

Turid erfuhr nie, was sie nicht würde, denn ehe er den Satz beenden konnte, schoss ihre Hand wie ein geschliffener Blitz nach vorn und packte ihn am Kragen.

Verdutzt und begeistert stellte sie fest, dass sie gewöhnlichen Stoff zwischen den Fingern hatte und kein Horn, kein Fell, keinen Stachel oder aus was Beowulf sonst noch auf Brusthöhe hätte bestehen können. In der Sekunde, die sie benötigte, um das zu verarbeiten, fing sie sich eine schallende Ohrfeige ein.

Ihre Wange brannte, während sie nach Luft schnappte und Sterne sah.

Als sie bemerkte, dass die Wucht des Schlages sie auf den Boden geschleudert hatte, war er bereits weit weg und seine Schritte nur noch ein entfernter Rhythmus in der Dunkelheit.

Turid lachte. 

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