Kapitel 78. Zeitfenster

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Turid sah seit Jahren nichts als Schwarz – Beowulf sah alles außer das. Mit Hadubrand verbunden zu sein war wie das Wissen der Welt im Kopf zu haben: Auch wenn er dafür durch lange dunkle Gänge wandern und eine Tür nach der anderen öffnen musste, bis er gefunden hatte, was er suchte, blieb ihm nie etwas verborgen. Klaffendes Schwarz, Schwarz wie ein aufgesperrtes Maul – Schlund-Schwarz – das hatte ihn nicht mehr heimgesucht seit dem Tag, an dem er das Reich der Lebenden verlassen hatte. Jetzt stand er ihm Angesicht zu Angesicht gegenüber und Beowulf erkannte, dass Tote sehr wohl träumen.

Zu mehr war sein Verstand nicht fähig. Der Schlaf riss ihn in seinen Strudel, sodass er den flüchtigen Kontakt mit der sanften Uferströmung und dem kalten Felsen unter seinem Kopf verlor. Das Klappern nassen Holzes verschwand. Gestrandet?, konnte er noch denken. Geht es Turid gut?

Fort, alles fort. Das schwarze Loch machte sich seiner Sinne Untertan; wie die Hölle unter dem Himmel lauerte es vor dem weichen Schimmer am Horizont. Dann blinzelte die Sonne über die Berge und streichelte die hohen Mauern, als wären sie ein frisch geborenes Kind. Das Loch verschlang ihre Strahlen, keine Handbreit tief konnte das Morgenlicht ihn erhellen.

„Hast du deine magischen Tage, Mädel?", grinste er. Unauffällig hielt er sich so weit wie möglich von der gähnenden Leere fern. „Oder warum scheuchst du mich den ganzen Weg hinauf?"

Sif stand unbeeindruckt in der Mitte des Steinkreises und formte ihren sinnlichen Mund zu einem vernichtenden, wenn auch gelinde amüsierten Lächeln.

Beowulf streckte sein Gesicht der Sonne entgegen. Er hielt sich für hervorragend in Form – anders als gewisse Könige, die zu dieser frühen Stunde verkatert in den Federn lagen – doch die Steilhänge hatten selbst ihm die Hitze auf die Wangen getrieben. Er schielte zu Gremholdshands Türmen hinüber. Es war Spätsommer und die frühe Wärme reichte nicht aus, um den Nebel von den Gemäuern zu vertreiben.

„Das wird eine besondere Stunde", sagte Sif.

„Kennt man dich nicht, bekommt man von solchen Worten eine Gänsehaut." Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Wie gut, dass ich weiß, welch herrliche Dinge für gewöhnlich darauf folgen."

Sie lächelte noch immer und begann, in aller Ruhe ihr Haar zu lösen. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sie drehte den Kopf wie eine Tänzerin und schüttelte dabei ihre blonden Strähnen. Zwei, drei Mal fegte sie sich mit den Fingern über den Scheitel, bis das seidene Gold zu allen Seiten abstand. „Oh", machte er.

Sif fixierte ihn mit ihrem stechenden Blick. „Reiß mir die Kleider vom Leib", befahl sie. „Und dir auch."

„Eine Wilde bist du heute", knurrte er. „Nichts lieber als das."

Sie machte einen Satz und packte ihn am Kragen. Beowulf stolperte zurück und wirbelte mit ihr herum. „Vorsicht", keuchte er, als er an seiner Gürtelschnalle zerrend nicht mehr sah, was hinter ihm lag. Sif spuckte ans andere Ende des Steinkreises und traf direkt in das schwarze Loch. „Hast du etwa Angst?", fragte sie.

„Ich? Ich bin der kühnste Krieger des Landes." Insgeheim wunderte er sich, dass er dazu imstande war, im Angesicht der teuflischen Finsternis hart zu werden.

„Und?"

Er schmatzte genüsslich. „Und deshalb besteige ich dich."

Sif packte ihr Kleid und riss den Stoff brutal auseinander, bis ihre Brust frei lag. Beowulf lachte und beschloss, die unliebsamen Umstände aus seinen Gedanken zu streichen. Bevor die beiden jedoch halbnackt ineinander verschlungen zu Boden flogen, legte sie einen spitzen Fingernagel an seine Lippen und sagte: „Halt."

„So? Hast du dich übernommen?"

„Hm, was glaubst du?" Sif zog eine unschuldige Schmollippe.

„Ich weiß genau, dass es nicht so ist. Verflucht nochmal, auf solche Spielchen habe ich keine Lust."

„Hör nur", flüsterte sie. Beowulf befreite sich aus ihrem Griff und spitzte die Ohren. Erst hielt er es für eine frühe Brise, doch dann wurde ihm gewahr, dass am Steilhang ein Mann fluchte. Das linke Grinsen auf seinem Gesicht verwandelte sich in einen sanften Ausdruck der Überraschung, sowie er die Stimme erkannte.

„Was macht er hier?"

Sif antwortete nicht, sondern krallte die Finger in seinen Bart und küsste ihn hart auf den Mund. Beowulf ließ es geschehen, dann schob er eine Hand zwischen ihre Körper. Er lächelte jetzt. „Ist das die ‚besondere Stunde'?"

„Ja." Sie neigte den Kopf. „Gleich ist er in Hörweite. Zeit zu beginnen."

„Wollen wir nicht auf ihn war-"

Der Schlag riss ihn von den Füßen. Nicht in die Finsternis, war alles, was er denken konnte, nicht da hinein, nicht da runter – Beowulf schüttelte sich, begriff nicht, wo der Himmel begann und die Schmerzen aufhörten. „Sif!", rief er, „Sif?" Ein Schwall Blut erstickte die Worte, Beowulf krümmte sich gurgelnd unter furchtbarem Schmerz. Auch wenn es nicht so gewesen wäre: Er wusste, dass er kein drittes Mal nach ihr rufen, sondern rennen würde.

Doch die Welt war nicht eingestürzt, die Steine schwankten nur für ihn, die Sonne blendete allein seine Augen. Er kniff die Lider zusammen und sah – sie. Der Stein, mit dem sie ihm den Kiefer gebrochen hatte, fiel ihr aus der Hand, kullerte über den Boden und hüpfte lautlos über die schwarze Kante. Es war, als hätte das große Nichts sein Maul aufgesperrt und ihn gefressen.

Beowulf starrte sie an, ohne nach nach seinem Schwert zu greifen, er war wie gelähmt. Sie sah auf ihn herab. Ihre Augen leuchteten noch, als das Echo des Hiebes durch den Spalt drang und den Hang hinabrauschte. Jetzt legte sie ihren Finger an die eigenen Lippen.

Der Mann, der sich den Berg hinaufkämpfte, erstarrte. Als er verstand, was er gehört hatte, stieß er einen Schrei aus. Eine Sekunde später stürzte er los, rief, brüllte, er war so langsam, bezahlte mit jedem Schritt für seine Laster, stolperte und keuchte, bitte komm, flehte Beowulf stumm, mein König, komm schnell.


Ein halbes Jahrtausend später erwachte er mit dem Wissen, dass der König zu spät gekommen war.

Das... tat weh. Zum ersten Mal seit jenem Tag spürte Beowulf, wo der Riss sich durch den Kieferknochen zog wie ein feines Spinnennetz. Ihm fehlten vier Zähne; einen hatte der Priester ausgeschlagen, drei die Hexe.

Beowulf atmete aus und wollte versuchen, diesmal nicht zu träumen. Aber kein Schlaf kam. Er riss die Augen auf – „Turid."

Jetzt drang das Plätschern an sein Ohr. Die Beine im Wasser, den Rumpf auf dem Holz, den Kopf auf den Steinen – so war er festgenagelt. Etwas drückte seine Stirn nach unten, feuchtkalte Fingerspitzen lagen auf seiner Haut. Es fühlte sich an, als streichelte ihn eine Leiche. „Himmel! Argh", stöhnte er, denn das Zucken, dass ihn durchfuhr, hatte ein Geschwader Nadelstiche in seiner Nachhut.

„Sh", hauchte Turid. Er drehte den Kopf zur Seite und sah, dass ihr Gesicht ganz nah war. Ihre Augen schimmerten traurig und ihre Lippen bluteten, sonst schien sie gesund. „Bist du verletzt?"

Beowulf schielte auf sein blutverschmiertes Hemd. „Nicht mehr als sonst", krächzte er nicht weiter überrascht. „Du?"

Sie schüttelte den Kopf. „Sag mir, wo wir sind."

Er blinzelte. Die Höhlendecke hatte sich verengt. Die Felsbank bot ein wenig Platz für sie und ihr Floß, dem Bretter fehlten. Weiter hinten klatschte der Fluss gegen ein paar Tropfsteine, Kalk und Stein drangen in seine Nase. „Hier ist nichts", sagte er tonlos.

Sie schnippte mit den Fingern in die Luft. „Ich spüre einen Windhauch. Warm und..." Ihre Lippen kräuselten sich. „salzig."

Jetzt roch Beowulf es auch. Er zuckte mit den Schultern. „Salzadern im Gestein. Ich frage mich eher – hörst du das Rauschen?", wollte er wissen.

„Ja. Klingt anders. Mächtig. Stromschnellen?"

Weder sie noch er hatten Lust, aufzustehen und nachzusehen. Sie lagen nur nebeneinander, wie sie es gewohnt waren, mehr nicht. Nach einer Weile bemerkte er trotz der Lücke zwischen ihnen, dass sie zitterte. „Ich bin selbst eiskalt", sagte er, „ich kann dir nicht helfen."

„Wie kommst du darauf, dass ich friere?"

Er schluckte und hörte im Geiste ihre Schreie durch die Gänge hallen. „Habe ich versagt?"

„Nein. Schließlich habe ich es überlebt." Hilflos musste er mitansehen, wie sie den Mund zu einem Lächeln verzog, das ehrlich war und doch so traurig. „Es war schrecklich. Aber auch du, Beowulf, hast die Nacht nicht traumlos verbracht."

Schlagartig war er hellwach. „Was?"

„Du hast ‚Sif, Sif' gesagt."

„Nein!"

„Oh doch. Das fand ich schon ein wenig geschmacklos. Mit mir willst du nicht, aber nach der Hexe hungerst du im Schlaf..."

Alles Blut wich aus seinem Gesicht. Eine Sekunde brauchte er, um zu begreifen, dass Turid kicherte. „Hat dich der Schlag getroffen? Das war ein Witz." Als Beowulf nicht antwortete, schaute sie ihm verdutzt ins Gesicht. „Ein Witz, hörst du?"

„Turid, ich – "

Es war zu spät. Ihre Augen wurden groß vor Neugierde. Schweigen machte sich auf ihrer Felsbank breit.

„Es war kein Traum, es war ein Erlebnis. Jedes Wort. Jede Regung. Jeder Lichtpunkt auf den Dingen, die mich umgaben, war da", gestand er schließlich.

„War sie hübsch?", fragte Turid sachlich.

„Sie war eine gottverdammte Hexe!"

„Vielleicht bin ich auch eine Hexe."

Da hatte auch er das Bedürfnis zu lachen. „Nein", sagte er kopfschüttelnd, „auf keinen Fall."

„Die richtigen Haare habe ich. Pechschwarz oder feuerrot..." Dabei zwirbelte sie eine nasse Locke zwischen ihren Fingern. Beowulf betrachtete sie und fragte sich, wie zwei Frauen nur so unterschiedlich sein konnten. Gut, so, wie er Sif gekannt hatte, hätte sie Turids Mutter sein können – wohlwissend, dass ihre Macht allein genügte, um jüngere Männer wie ihn und Adalger zu umgarnen. Aber Turid war nicht nur unerfahren, sie funkelte im Herzen wie ein neuer Edelstein, auch nach allem, was ihr widerfahren war. Ach, Mädchen, Adalger hätte dich gemocht, dachte er. Und dann hätte er dich ruiniert.

Beowulf hustete. Noch immer hundertmal besser als der Eroberer.

„Es geht dir wirklich nicht gut, oder?", seufzte Turid und streckte sich auf dem kalten Stein.

„Nicht im Geringsten. Dir etwa?"

„Nun ja, wir haben die erste von, wer weiß, ein Dutzend Stromschnellen passiert, was gleichzeitig gut und zum Heulen ist, und ich habe kaum Vorräte dabei, was definitiv zum Heulen ist, und du blutest fröhlich ins Wasser – im Ernst, stört dich das nicht?" Mit einem Ruck setzte sie sich auf und ließ die Fäuste ins Wasser sausen. So hatte er sie lange nicht erlebt. „Sagen wir es so: Wenn wir nicht gestorben sind, dann sterben wir noch heute."

Beowulf machte ein verwirrtes Geräusch. „Vergiss es", meinte sie, „das verstehst du nicht. Weißt du, ich bin nicht mehr müde, das ist alles, was zählt."

Er lächelte zufrieden. „Sehr gut."

„Da ist ein Zeitfenster, Beowulf, das schließt bald."

Ein ungutes Gefühl sank ihm in die Magengrube. „Was... meinst du damit?"

Turid holte tief Luft. Als sie sprach, hatte sie jeden heiteren Unterton verloren. „Das weißt du doch."

„Nein", sagte er und wandte den Kopf ab.

„Und wie du es weißt", flüsterte sie.

„Ja, und ob ich es weiß! Ich sagte: Nein, da mache ich nicht mit!"

„Ich würde einen anderen nehmen. Ungern, zugegeben. Aber es gibt nur dich."

„Es wird nicht funktionieren."

„Würdest du etwa nicht alles versuchen, um sowas wie da draußen nie wieder zu erleben?", schrie sie und zeigte auf die Strömung.

„Natürlich, aber – "

„Und jetzt stell dir vor, wie es für MICH ist! Steh endlich deinen Mann, du rücksichtsloser – "

„Sh", machte er. Seine gesunde Hand zog ihren Arm sacht hinunter. Er hielt sie so, bis seine zerschnittenen Bauchmuskeln versagten und er zurück ins Wasser sank, die Berührung verlor sich. Das nutzte er, um Abstand zwischen sie zu bringen. Sie folgte ihm. Mit zusammengebissenen Zähnen zog er sich noch ein Stück nach oben. Sie rückte nach. Beim nächsten Mal kam trockener Felsen und er stieß mit dem Hinterkopf an die Höhlenwand.

Von dort aus betrachtete er sie lange. Sie ließ ihn gewähren.

„Folgendes." Ein für alle Mal, sagte er sich und wusste, es war der warnende Klang von früher, der da seine Stimme färbte. „Du siehst zu, dass du es hinbekommst. Wenn nicht, will ich nie wieder etwas davon hören. Keiner – keiner – soll dem Bärenmenschen nachsagen, er habe eine Frau gegen ihren Willen gehabt. Haben wir uns verstanden?"

Zu seinem Entsetzen verzog sich ihr Mund zu einer Siegeslinie. Beowulf, du Narr, was hast du getan? Als sie näherkam, zögerte, mehrmals die Hand ausstreckte und wieder sinken ließ, fühlte er, wie sehr sie zitterte. Bei allen Göttern, dachte er, gut enden wird das nicht.


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