Kapitel 71. Ein blonder Fremder
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Sie drehte sich um. Die Finsternis war fort.
Ein Reiter stand nicht weit von ihr auf einem Hügel und verzog seinen schmalen, roten Mund zu einem Grinsen. Ehe sie sich orientieren konnte, lugte ein Lichtstrahl aus dem blassblauen Himmel hinter ihm hervor und entflammte sein Haar zum schönsten Gelb, das Turid je gesehen hatte.
„Beowulf?!", wollte sie rufen. Die Zunge gehorchte ihr nicht. Fast verblühtes Heidekraut erstreckte sich lila und braun zu ihren Füßen und ihr fiel auf, dass sie es nicht spürte. Sie wusste vage, wie sich die Sonne auf ihrem Schopf hätte anfühlen müssen, doch die Wärme blieb aus.
Gern wäre sie in Tränen ausgebrochen. Nicht einmal das brachten ihre Augen zustande.
Mit einem stummen Schauder auf ihrer nicht vorhandenen Haut erhaschte sie wieder einen Blick auf den Mann und stellte fest, dass er mit ihr sprach. Sie hörte nichts.
„Was ist los hier?", wollte sie wissen. „Beowulf! Sag es! Sofort!"
Niemand antwortete ihr. Der Reiter machte kehrt, und Turid sah ihn schon hinter der Hügelkuppe verschwinden, da hob er Pfeil und Bogen, sah ihr ins Gesicht, grinste wieder, zielte. Ihre Welt drehte sich, sie sah kurz die Wolken oben und dann das Moos unten, direkt vor ihrer Nase. Sie starrte auf den Bauch eines Pferdes. Es scheute; als es sich beruhigt hatte und sich schüttelnd davonlief, glänzte die Schnalle des Sattelriemens in der Sonne.
Sie hatte sich vom Pferd gestürzt, um dem Pfeil zu entgehen. Der Mann wollte sie ermorden? Wollte Beowulf sie ermorden?!
Ein Schatten fiel auf das Gras, seine Gestalt thronte über ihr. Turid wollte sich ducken und ihr Gesicht schützen, doch ihre Hände taten etwas ganz anderes – in einer Bewegung, die sie wie aus dem Augenwinkel wahrnahm, ergriffen sie die ausgestreckten Arme des blondgelockten Reiters und ließen sich hochziehen. Er war ihr jetzt so nah, dass sie die Schweißperlen auf seiner Stirn sehen konnte. Er war kleiner als sie. Und er war nicht Beowulf.
Alles an seinen Zügen schien schwungvoll zu sein, die Augenbrauen unverzagt, das Kinn schräg zulaufend, die Ohren groß und katzenhaft. Einzig die Nase traf fast in einer Linie auf die Stirn, was ihm das Antlitz eines eitlen Raubvogels verlieh. Dies war nicht das Gesicht, das ihre Finger erkundet hatten. Auch dachte sie daran, dass Beowulf dichtes, glattes Haar hatte und wie er gesagt hatte, es sei braun.
Du nicht, sagte sie sich und betrachtete den Fremden. Er lachte, sprach seine stummen Worte, lachte wieder. Er lachte wie jemand, der nicht allein lacht.
Ich tue es auch, begriff sie.
Ich... bin nicht ich.
So weit es ihr Sichtfeld erlaubte, versuchte sie in der Verwirrung Grund und Boden zu finden. Die Welt war nicht vollständig. Sie erinnerte Turid an ein zerfetztes Spinnennetz, in dem Einzelheiten wie Tautropfen glänzten, allen voran die Dinge, die die Sonne berührte, das goldene Haar, ein bisschen Metall hier und da, darunter auch die Spitze des Pfeils, der nun halb unter der Böschung im Boden steckte. Sie glaubte, dass abseits des Hügels ein Fluss plätschern könnte, aber sie sah ihn manchmal und dann wieder nicht. Die Fellfarbe der Pferde und was weiter den Hügel hinunter lag, das war in der Leere verborgen. Es war einfach nicht da.
Sie beobachtete, wie der Fremde dem verschreckten Tier über die Nase strich und dann, wie durch Zauberei, innerhalb eines winzigen Moments auf der anderen Seite der Wiese stand und die Augen mit der Hand vor der Sonne schützte. Eine Sekunde später und Turid spähte neben ihm ins Tal. Da war tatsächlich ein Wasserlauf, auf dem Lichtpunkte tanzten. Da war noch mehr Heidekraut und ein Wald, doch die Szene war durchlöchert – abgeblättert wie ein altes Kirchenbild. Da verstand sie, dass es kein Traum war, den sie erlebte.
Es waren Erinnerungen und sie waren sehr alt.
Jäh spürte sie das Brennen des Blutes in ihren Augen. Beowulfs Blut, Beowulfs Beschwörungen.
Heilige..., dachte sie. Du bist es. Du bist ich.
Der blonde Fremde gestikulierte wild, während er sprach und deutete auf sie. Ihn. Turid hoffte mit aller Kraft, dass Beowulf an sich heruntersehen würde – oder... dass er an sich heruntergesehen hatte, aber das tat er nicht. Das oder er hatte die Erinnerung daran verloren.
Noch einmal Zauberei. Jetzt ritten sie Seite an Seite durch einen stillen Herbstwald. Ein Windstoß fuhr ihrem Begleiter durchs Haar und er hob die Hand, um sich lose Blätter aus den Locken zu zupfen. Gelb auf Gelb vor schwarzgestreifter Birkenrinde und lilabraunem Heidekraut.
Bevor sie richtig begriffen hatte, zerfiel die Szene vor ihren Augen zu Staub.
Im tiefsten Winter fand Turid sich wieder. Das Licht war anders – es schien, sofern das irgend möglich war, dünner zu sein. Die Welt war weiß. Der Himmel, die kahlen Wipfel, der Schnee auf dem Boden und in der Luft und überall war weiß. Am Horizont erstreckte sich der endlose Nadelwald, von dem Beowulf erzählt hatte.
Eine dünne Frau mit großen Augen machte zitternd eine Geste in ihre, in Beowulfs Richtung, die „Komm, komm" heißen sollte. Er reichte ihr kaum bis zum Knie. Die Frau musste jung sein, kaum älter als sie selbst. Aber um ihre Augen gruben sich tiefe Falten, die fast gänzlich verdeckten, wie hübsch sie einmal gewesen war.
Nichts mehr von der Frau. Nun blickte ihm, ihr, ein Männergesicht entgegen, dessen gräuliche Mundwinkel zuckten. Die Lippen öffneten sich, der zahnlose Mund spie ihnen entgegen. Beowulf rannte. Rannte langsam, nämlich mit den Beinen eines Kindes.
Wald. Wald, Wald, Berge, vereiste Seen, so weit das Auge reichte. Wie Schatten strichen die Sommerwiesen vorüber. Die geweitete Pupille eines Rehs. Ein Dolch, der dort hineinstieß und dem Zappeln ein Ende setzte. Beowulf schaute zum Nachthimmel, wo sich die schönsten Farben wie Fische im Wasser tummelten. Turid jauchzte stumm.
Ein verwester Körper trieb von den Trümmern eines Schiffes auf ihn zu. Dotter aus zerschlagenen Vogeleiern glänzte auf der Erde. Eine gewaltige Klippe rauschte ins Meer, einfach so. Der gebleckte Eckzahn eines Mannes und das Gesicht eines anderen, überkopf, traurig murmelnd, der ihn auffing. Eine Heuschrecke saß im Kornfeld, wo ein Huhn sie aufpickte. Eine junge Frau tanzte mit ihm, stolperte über ihren Rock, lachte. Beowulf umklammerte ungelenk einen Holzlöffel und tauchte ihn in die Suppe. Wetterleuchten im Abendrot. Erde klatschte auf das Gesicht der Frau, Beowulf half, ihr Grab auszuheben, während die anderen weinten.
„Zu viel!", schrie sie wortlos. „Bitte mach, dass es aufhört!"
Als hätte jemand eine Kerze ausgeblasen, wurde es stockduster. Ihr Flehen blieb ungehört.
Im Mondlicht konnte Turid gerade so einen knurrenden Wolf erkennen und wie Beowulf unbeeindruckt mit seiner Axt einen Fichtenstamm teilte. Später dann, es war nicht viel heller geworden, den Schädel eines Kindes. Blut sickerte aus der gräulichen Masse auf sein Hemdchen. Es blickte ihn böse an und lief zurück zu seinen Geschwistern, um mit ihnen noch ein Weilchen mit Schaum vor dem Mund im Hof herumzutorkeln, bevor es mit dem Gesicht voran in den Schlamm kippte. Beowulf ergriff die Flucht und fiel auf die Knie, als eine Gestalt im blassen Gewand ein Holzkreuz von der Wand nahm und ihm damit ins Gesicht schlug. Ein Zahn flog durch die Luft.
Im Morgengrauen kehrte Beowulf zurück und die Axt färbte vier weitere Kleider rot. Nein, fünf, dachte Turid. Sie wusste, dass eines Tages das blasse Gewand an der Reihe sein würde.
Der tiefblaue Lauf eines Flusses beruhigte ihren aufgewühlten Geist; friedlich schlängelte er sich zwischen dicht bewaldeten Höhen dahin. Beowulf schaute auf, sein Blick verweilte lange auf der zerklüfteten Spitze. Später begriff sie, dass er das Gebirge voller Angst angestarrt hatte, denn er hatte es überqueren müssen: Ein kurzer Eindruck der Wolken von oben, Schnee und Geröll, herabfallende Steine und ein ausgehendes Lagerfeuer. Die Welt wackelte, als Beowulf sich eines regnerischen Tages die letzten Schritte zu einem Kahn kämpfte, in dem verlotterte Männer auf die Abfahrt warteten. Turid war froh, den eiskalten Matsch nicht auch an den Zehen spüren zu müssen.
Eine andere Tortur wartete auf sie – die Szenen kamen Schlag auf Schlag. Speere flogen übers Wasser. Es waren tiefe, raue Wellen. Das Meer. Beowulf achtete nicht auf das Getümmel. Er kauerte neben einem Loch in der Rehling und spie in die See. Turid, die vergeblich auf ein Spiegelbild hoffte, fühlte einen traurig-schönen Stich im Herzen und hätte sie einen eigenen Mund gehabt, wäre ihr wohl ein Lächeln entglitten. Später, ein Sturm fegte gerade über den Strand hinweg, stand Beowulf hüfthoch in der Brandung und hob selbst die Waffe, Blut und Dreck und Speichel spritzten umher, als seien sie Gischt.
Das gleiche Bild von oben. Die verrenkten Toten sahen von der Spitze des Steilhanges aus wie Spielfiguren. Beowulf, eine Blutspur hinter sich herziehend, wandte sich ab und ging fort. Er ersparte Turid die Wanderung – das Nächste, was sie sah, war ein winziger blaugrauer Streifen im Nebel des Tagesanbruchs. Es musste der letzte Blick gewesen sein, den Beowulf je vom Meer erhascht hatte.
Allerdings war er Anfang und Ende zugleich. Denn als er sich umdrehte, erspähte er in der Ferne endloses Heidekraut, durch das sich ein Pferd auf ihn zubewegte. Die Gestalt im Sattel war kaum erkennbar, nur sein Haar ließ die Morgensonne golden leuchten.
Turid erlebte die Erinnerungen auf dem Hügel noch einmal, haargenau gleich und mit allen Einzelheiten, die Beowulf geblieben waren. Als sie sich dem herabfallenden Laub und den farblosen Ohren seines Pferdes näherten, als der blonde Fremde im Birkenwald sich umdrehte und ihm zulächelte, zitterte sie innerlich vor Erwartung: Sie verstand, dass sie das Leben des Bärenmenschen gesehen hatte, erst allein in der Wildnis, dann als Fremder in den Siedlungen und schließlich im Krieg. Sowie sie die Heide mit dem lichten Wäldchen verließen, würde für Turid das Unbekannte beginnen. Alles, was Beowulf ihr nicht hatte erzählen wollen.
Zunächst herrschte der blonde Fremde über alle Erinnerungen – überall trat sein Gesicht aus dem Dunkel. Doch es blieb beim Lächeln. Wieder und wieder sah sie, wie der Blonde die Mundwinkel hochzog, einmal im strömenden Regen, einmal schlafend im Schein der Glut, einmal mit den Zähnen in einer Birne vergraben vor dem bunten Treiben eines Marktes, es war Frühling.
Dann ging es los.
Der blonde Fremde und Beowulf hingen nachts am Dachgebälk und warteten regungslos darauf, dass der Bauer seine Scheune räumte. Sowie das Tor zugefallen war, sprang der junge Mann ins Heu und begann, Weizenkörner in einen Sack zu schaufeln. Beowulf stand Schmiere, spähte angestrengt in die Dunkelheit.
Der blonde Fremde hob den Kopf, seine gestählten Muskeln schwangen sein Breitschwert mit Leichtigkeit. Sie teilten sich das Zimmer einer Herberge und rangen darum, wer zuerst an der Tür war; Beowulf gewann. Draußen lag ein verwilderter Hinterhof. Der andere sprang in die Mitte und hieb erwartungsvoll seine Waffe in den Sand, bevor er mit den Knöcheln knackste und in Habachtstellung ging.
Der blonde Fremde saß ganz hinten in der Messe und beäugte das Vorgehen kritisch. Bei der ersten Salbung verließ er die Kapelle. Beowulf blieb.
Der blonde Fremde grinste nicht mehr. Die Stimmung war dunkel. Halb im Schatten verborgene Gestalten beugten sich flüsternd über eine löchrige Karte, deren Ecken mit Metbechern auf den Tisch genagelt waren. Ihre Gesichter waren wie weiße Mauern, Beowulf hatte sie vergessen. Nur nicht das des blonden Fremden, der ernster dreinblickte als sie alle.
Der blonde Fremde sang. Helles Licht, warme Funken, um sie herum tiefe Schwärze. Vielleicht war es noch dieselbe Nacht, die Nacht der Verschwörung, und die Männer ohne Gesicht waren aus der Schenke gezogen und saßen am Feuer.
Ein Gebirgspass. Beowulf ritt in der Nachhut. Die Gruppe hatte sich verzehnfacht.
Dichter Wald, mannshohe Wurzeln und Baumkronen, die keinen Sonnenschein durchließen. Männer in schlichten Gewändern und Fellüberwürfen saßen auf kreisförmig angeordneten Steinen und diskutierten erregt. Ein Greis mit Perlen im Haar hielt dem blonden Fremden zwei Anhänger mit nordischen Zeichen vor die Nase; die Freunde entrissen sie ihm gleichzeitig und pressten ihre frisch angeritzten Hände aneinander. Später baumelte einer dem Blonden um den Hals. Turid war sich sicher, dass es bei Beowulf genauso war.
Kein blonder Fremder. Nicht einmal, wo er selbst gewesen war, wusste Beowulf mehr. Turid erkannte nur, dass der Raum dunkel war und auf dem Lehmflechtwerk das Licht einer Fackel tanzte. Im Schatten stand, halb verdeckt durch eine fleckige rote Decke, eine Holzkiste.
Hände, die sie nicht sehen konnte, hoben behutsam den Eisenbeschlag und griffen hinein. Im nächsten Augenblick war Beowulf, war er mit ihr gemeinsam, ein paar Schritte zurückgetreten.
Turid hätte gern den Mund geöffnet vor Staunen: Ein Helm starrte ihr aus dem Feuerschein ins Gesicht, er war alt und er war wunderschön. Schrammen zogen sich wie Narben über winzige, an den Schläfen ausgestanzte Soldaten, auf deren Schilden heidnische Symbole prangten. Ihr war, als hörte sie den unter stampfenden Speeren gebrüllten Schlachtruf, und sehen konnte sie ihn auch: Als schwungvolles Ornament war er in Gold auf die Schädeldecke graviert. Der Nasenkamm teilte das Heer und endete mit dem Schnabel einer Eule. Kurz darüber mimten zwei kunstvoll geriffelte Bögen grimmige Augenbrauen, aus denen die Leere starrte.
Die Schlachtrufe wurden Wirklichkeit. Wilde, bärtige Krieger tobten wie eine Hundemeute und hoben die Schilde mit der Inbrunst, zu der nur die Unterdrückten fähig sind. Turid dankte Beowulfs Ritual dafür, dass sie das Rasseln ihrer Kettenhemden nicht hören musste.
Von da an ging alles ganz schnell. Zum ersten Mal in ihrem Leben erlebte sie den Krieg am, nun, nicht am eigenen Leibe, aber doch, was dem am nächsten kam. Sie sah durch die metallene Brille des Helmes, wie der blonde Fremde mit der ausgebreiteten Hand auf sich wies; vermutlich wollte er Beowulf den Bart zeigen, den er sich hatte wachsen lassen. Der hatte die Farbe von rotem Ton und zerstörte das Spiel der Sonne auf seinem Gesicht. Im nächsten Moment, und das hieß diesmal, es verging wirklich nur eine Sekunde, duckte er sich und schmetterte mit seinem Schild einen Schwerthieb beiseite. Heiliger Gott und alle Götter, die es tatsächlich gibt, dachte sie, der Mann ist lebensmüde.
Ein anderer Morgen, eine andere Schlacht. Beowulf krallte die Finger in die Erde und rieb sich daran. Schatten bewegten sich links und rechts seines an den Boden gepressten Gesichts. Zum ersten Mal waren seine Erinnerungen an den blonden Fremden unzuverlässig. Er lauerte mal zu seinen Füßen, mal neben seiner Schulter darauf, dass auf der anderen Seite die Feinde durchbrechen würden.
Turid ahnte, wer die Feinde waren. Sie hatte die Symbole gesehen, die Schilde, die Zöpfe im Haar und den dunklen Wald, der dem wilden Volk gehörte. Und das wilde Volk hatte gegen den fränkischen König gekämpft – noch ein Eroberer. Sie wusste nicht genau, wann. Aber sie wusste, wie es enden würde.
Der blonde Fremde gehörte zu ihnen. Beowulf nicht, er gehörte zum Norden. Aber Beowulf gehörte auch zu Adalger. Denn der war der blonde Fremde.
König Adalger. Warum König?, fragte sie sich. Es konnte nicht möglich sein.
Es konnte, und wie. Die nächsten Szenen zeigten es ihr. Wie sie vermutet hatte, starrte Beowulf von nun an auf die Rücken aller Soldaten, nicht nur den des Vordermannes. Neben ihm saß Adalger, der die Stirn in tiefe Falten gezogen hatte, im Sattel. Beowulfs Blick wanderte von dessen kühner Nase zu den unruhigen Gestalten im Feld zum Griff seines eigenen Schwertes, bis er sich ruckartig umdrehte, jemand hatte wohl gerufen. Ein bärtiger Mann, so breit, dass er Beowulfs Erinnerungen ausfüllte, nickte in Richtung Schlachtfeld und leckte sich nervös über die Lippen, während Beowulf und Adalger sich leicht verbeugten. Turid erkannte den versilberten Harnisch eines Herzogs, auch wenn er von gestern schien. Und das ist er, sagte sie sich.
Ein Stein fiel ihr vom Herzen, als klar wurde, dass Beowulfs Gedächtnis durch die Erregung verschwamm. Nur Schatten in der Ferne waren von den Kampfhandlungen übrig.
Ganz anders der Anblick nach den Gemetzeln. Nieselregen über zerschmetterten Leichen. Nächtlicher Nebel über zerschmetterten Leichen. Zarter Sonnenschein über zerschmetterten Leichen. Ringe, Schnallen, Broschen, Ketten, kleine geschmiedete Körper von Jesus Christus am Kreuz, sie alle landeten auf schmutzigen Karren, die sie zum Einschmelzen bringen würden. Beowulf selbst stapfte bei jedem Wetter über das Schlachtfeld, wo er den steifen Toten die Glieder brach, um ihnen ihr Eisen zu nehmen. Weil er ein Hochrangiger war, konnte er diese grauenvolle Aufgabe nur freiwillig übernommen haben. Turid wurde übel.
Dann folgte die gute Zeit. Wider Erwarten freute sie sich für Beowulf und Adalger, auch wenn das Wissen, dass sie das Blut von Turids Vorfahren vergossen hatten, bitter war. Dann dachte sie daran, dass es immer noch ausgehen würde, wie es ausging, und wollte am liebsten nicht hinsehen.
Adalger, der nun kein blonder Fremder mehr war, hatte wie seine Haare einen Großteil seines Schwungs verloren. Jahre mussten vergangen sein. Die Locken von einst waren in einen Knoten gesperrt und das elegante Kinn ließ bereits erahnen, wie es mit den Jahren, die noch kommen sollten, davonlaufen würde. Dies alles sah Beowulf durch den Spalt einer schweren Tür, sein Blick fiel herein wie das Licht, Adalger sah von seinem Fürstensitz auf und prostete ihm geistesabwesend zu. Auch wenn im Raum, nein, im Saal, ein Fest zugange war, erschienen die Mauern groß und schlicht. Es sei denn, Beowulf waren die Einzelheiten entfallen.
Alle, bis auf eine. Das graubraune Steinmuster, auf dem Adalger mit dem Fuß den Fidelrhythmus nachklopfte, war einzigartig. So einzigartig, dass Turid es wiedererkannte, immerhin war sie als Kind jeden Tag darübergekrabbelt.
Wieder wurde ihr schlecht. Der bärtige Herzog erschien im Sichtfeld und klopfte Adalger auf die Schulter, bevor er mit zwei angetrunkenen Weibern verschwand. Er hatte seinem Kriegsherren Gremholdshand geschenkt, ein sehr, sehr altes Gremholdshand.
Eine Sekunde später und die Gemäuer waren fort. Turid verfluchte ihn. Eine Erinnerung noch an ihre Heimat! Nur eine einzige!
Stattdessen sah sie Hagel, Wind und Pollenflug im Wechsel. Während des Sommergewitters gelang Beowulf ein besonders guter Schuss, der König applaudierte und ließ den Hasen von einem Knaben aus dem Mohnfeld fischen. Eine laue Brise fuhr ihm durchs geflochtene Haar, als er vor einer Schar Untertanen einen Schaukampf anfeuerte und vor aller Augen lachend auf Beowulf zu deuten begann, als der Sieger nach einem neuen Gegner brüllte. Abgeblühter Löwenzahn landete auf der Heidelbeere, die er eben zum Mund führen wollte, und er bekam darüber einen solchen Wutanfall, dass Beowulf unauffällig die Tafel verließ.
Es war wieder Winter geworden. Der runde Bogen und die roten Flecken auf den Wangen einer genügsam dreinblickenden Marienstatue waren alles, was Beowulf noch wusste. Der Blick schmolz davon, als Flammen an ihrem Gesicht leckten. Die Finger, die die Fackel gehalten hatten, fuhren sich durchs blonde Haar.
Beowulf packte Adalger am Handgelenk. Sofort sah er dessen Faust auf sich zurasen. Turid erkannte nur Rauch, Haare und Holzsplitter im wilden Durcheinander und in der nächsten Sekunde zogen sie sich gegenseitig aus den Fängen des Feuers. Adalgers Atem zeichnete Wolken in die klare Luft, doch auf seiner Haut glänzte der Schweiß in funkenfarbenen Tröpfchen. Beowulf sah der Kirche beim Brennen zu, bis nur noch die Grundmauern qualmten. Adalger blieb bei ihm. Lächelte wieder. Aber er lächelte anders als früher.
Zersplittertes Buntglas in den Scharten von Gremholdshand, hinter den Zacken zeugten unter grauem Himmel verstreute Hütten von großer Trostlosigkeit. Ein Dutzend weitere waren nur rohes Gebälk, an dem vermummte Gestalten eifrig Hämmer schwangen.
Auf der Straße ritt eine Frau der Burg entgegen. Sie war allein. Ihr Haar war blond wie Adalgers und flatterte im Wettlauf mit der Pferdemähne im Wind. Turid erfuhr nicht, warum Beowulf tat, was er tat: Er schlug mit der Faust gegen die Scheibe, bis sein Blut die Ränder beschmierte, und streckte den Kopf weiter heraus, als gut für ihn war. Er erinnerte sich an den Wind, der die Bretterverkleidung zur Seite schlug. Er erinnerte sich noch besser an die schwindelerregende Tiefe des Grabens. Am besten aber erinnerte er sich an Adalgers verzückte Augen, die einige Fenster neben ihm jeden Schritt der Frau verfolgten, bis sie mit schaukelnden Zöpfen die Schwelle überquerte.
Der Tag war zum Abend geworden und Beowulf hielt einen Brief in den Kerzenschein. Wilde Tintentropfen auf dem Pergament zeugten von der Hast, mit der die Zeilen geschrieben waren. Der Moment im Licht war so kurz, dass Beowulf ihn unmöglich hatte lesen können – dann fütterte der Brief die Flammen. Folglich ergab er auch für Turid keinen Sinn. Wie eine Ansammlung fremdartiger Striche hatte sie jedoch mit dem Blick eine einzige, dick umrandete Zeichnung festgehalten, die sich nun vor dem schummrigen Licht im Geiste zu einem Wort verband: Hexe.
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