Kapitel 69. Paradies
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Einen Tag später rüttelte seine Hand sie dann doch aus ihren Träumen.
„Hab ich nicht gesagt, du sollst nicht...?" Sie drehte sich zu Beowulf herum und sah dort, wo sein Kopf hätte sein sollen, den Schatten des Eroberers. Turid erschrak. Sie musste mehrmals blinzeln, bis das Bild ihres Peinigers im Strom der Finsternis verschwand und sie merkte, dass ihre Hände brannten, wo sich die Fingernägel ins Fleisch gegraben hatten.
„Sh sh", machte Beowulf leise, fast ehrfürchtig.
„Was ist?"
„Hör doch."
Akakakakak.
Turid fuhr zusammen. „Beowulf?"
Er legte ihr die Hand auf die Schulter. Da er ihr auf dem Floß so nahe war, war sie sich der in Spannung verzogenen Falte auf seiner Stirn sicher, ohne sehen zu müssen.
Akakakak. Sie schnappte nach Luft.
Es hörte sich an wie eine Holztür, die jemand über unebenen Boden schrappen ließ. Wie um ihrem Gedanken beizupflichten, knarzte die Wand des Tunnels in tiefen Tönen.
„Dir geht es gut?" Turid dachte mit Entsetzen an ihre eigenen Worte – Hadubrand konnte sie nicht überraschen, nein, ganz gewiss nicht.
Beowulf brummte abwesend. Doch wäre dies ein Nein gewesen, hätte er sich längst vor Schmerzen gekrümmt.
„Also nicht Hadubrand? Und was dann?!"
„Da ist nur Stein. Ich habe gute Sicht, aber –", er robbte bis zum Rand der Kante, „es ist fast so, als kämen die Geräusche aus dem Nichts! Ich kann's nicht erklären..."
Akakakakak, machte die Finsternis wieder. Der Laut, es war wohl eher ein Schrei – auf alle Fälle etwas Lebendiges, denn Turid konnte den Resonanzkörper des Kehlkopfes hören – warf sein Echo über den Fluss hinweg und bescherte ihr beim Zusammenprall mit dem Floß eine Gänsehaut.
Turid ergriff die Hand auf ihrer Schulter. Sekundenlang umklammerten sie sich fest, während der Fluss sie unerbittlich ihrem Grusel entgegentrieb. Aus reiner Gewohnheit verspürte sie den Drang, zu beten.
Akak- BUMM.
Das Floß knallte gegen die Felswand, der Fluss hatte eine Biegung gemacht. Die Wucht schleuderte den Grusel von der Wand und er klatschte als warmes kleines Etwas mitten in Turids Umarmung. Sie sprang auf, was das Floß zum Wanken brachte, und zwischen dessen wilder Drehung um die eigene Achse und einem meisterlichen Balanceakt ergriff das Ding die Flucht.
Ein zweites Bumm. Beowulfs Faust landete mit kalter Grausamkeit auf den Planken. Ein Quieken und es war gestorben.
Lautes Gelächter übertönte das Rauschen der Strömung. „Wir haben uns wegen einer Echse in die Hosen gepisst", prustete Beowulf, der die unfeine Wortwahl gar nicht bemerkte.
„Echse?" Turid tastete herum, bis sie das zerschmetterte Tier in den Händen hielt. „Hast du so eine schon mal gesehen?"
„Das ist schon Jahre her. Sie klebten an der Wand, waren aber kleiner. Und solche Stimmen hatten sie auch nicht."
Sie hob sie an ihre Nase, genoss für einen Moment den Duft nach frischem Fleisch und biss dann genüsslich hinein. Das Blut lief ihr die Eckzähne hinunter.
Akakakak, ertönte es aus der Dunkelheit. „Noch eine?", fragte Turid verwundert.
„Es sei denn, sie ist von den Toten auferstanden."
Ein breites Lächeln zeigte sich auf ihrem rotverschmierten Gesicht. Beowulf fragte sich, ob dies die Glückseligkeit eines Tieres war, das man gefüttert hatte, aber er irrte sich.
Dies war das erste Mal, dass ihr in der Höhle ein klopfendes Herz begegnete, das nicht Hadubrands oder Beowulfs oder das des Eroberers war. Es war das erste Mal, dass ihre Welt nicht nur aus Wasser und Stein bestand. Die Finsternis war nicht böse oder starr. Sie... lebte.
Und je weiter es bergabging, desto deutlicher wurde, wie sie lebte. Auch wenn kein Wasserdampf die Luft erfüllte wie in der Algenhöhle, kehrte die Wärme zurück und brachte ein Wunder nach dem nächsten mit sich. Zum Knarzen der Echsen gesellte sich ein chorales Brummen – Beowulf erklärte ihr, dies sei der Flügelschlag handtellergroßer Käfer, die in Windeseile übers Wasser flitzten. Es war unmöglich zu sagen, woher sie kamen, denn der Tunnel war eng und dunkel geblieben; wie Turid konnte Beowulf nicht fassen, dass es im Herzen der Höhle so viel Bewegung gab. Das hier hatte nichts mit leblosen Fledermäusen und Käfern zu tun, die er vom Boden aufsammelte, und es versprach auch kein stundenlanges Warten für einen winzigen Fisch.
„Hätte ich das nur gewusst", stammelte er. Ich hätte nicht hungern müssen, dachte sie und schlürfte der Echse den Schädel leer.
Da endlich verbreiterte sich der Fluss. Unheilvoll begann das Floß mit der Unterseite an den Felsen zu schaben, dann stabilisierte es sich und dümpelte langsam unter einer erhabenen Gewölbedecke dahin. Turid meinte, weitere Tiere im Spiel der Laute zu vernehmen – Klopfen, Summen, Pfeifen und ruckartige Bewegungen in der Strömung, die nur erahnen ließen, was sich unter ihnen tummelte. Wenn sie sich sehr anstrengte, erhaschte sie sogar ab und zu ein krötenartiges Quaken, das aus großen Lungen zu kommen schien – fast wie früher. Die Augen zu schließen und sich an die üppige Fülle der Laubwälder zu erinnern, tat Turid im Herzen weh.
„Ich wünschte, ich könnte es sehen."
„Erinnerst du dich an den Anblick dieser winzigen, schwarzen Mücken auf deiner Haut, im Hochsommer?", wollte Beowulf wissen.
„Ja."
„Ich nicht." Sein Schweigen machte Platz für das Knarzen und Surren und Krabbeln von winzigen Beinchen, die versuchten, an der Höhlendecke Halt zu finden. „Du hast wenigstens die Erinnerungen."
Turid wollte etwas erwidern, doch – Platsch – es setzte dem Missmut ein abruptes Ende. „Ein Fisch hat soeben eine Mücke verschlungen", bemerkte er erstaunt.
Sie lachte und streckte den Arm ins Wasser. „Fische!", rief sie. „Wie gern hätte ich einen zum Abendessen."
„Ich kann es versuchen."
„...gebraten."
Beowulf gluckste. „Das wird schwer."
Eine Weile lang saß sie nur so da, die Finger als Keil in der Strömung, den Bauch an die Planken gepresst. Das Wasser lag ihr frisch und kühl in der Hand, und immer, wenn Tropfen nach oben spritzten und ihr Haar benetzten, lächelte sie. Sie hörte, wie Beowulf sich bewegte, zögerte, dann ließ er sich neben ihr nieder. Das leise Stöhnen – jede Regung tat ihm immer noch weh – ließ sie mitleidig seufzen.
„Wie geht es dir?", fragte sie und brachte eine Fliegenwolke vor ihrer Nase zum Verstummen.
„Ob die Luft mir guttut, wird sich zeigen. Nun... viel schlimmer kann es nicht werden."
„Du bist dir sicher, dass du das so willst, ohne Verband?"
Er stützte sich unbeholfen auf den gesunden Ellenbogen, hörbar nicht wohl dabei, mit ihr über seinen Körper zu sprechen. „Der engt mich nur ein", sagte er leise. „Sieh, das geht schon. Wenn ich eines gelernt habe, dann, dass die Dinge in der Finsternis bleiben, wie sie sind. Und wenn das heißt, dass ich mich an die Schmerzen gewöhnen muss, kann ich nichts dagegen tun."
„Wenn wir draußen sind...?"
„Eher gehe ich ein wie eine Motte." Er lachte. „Ein Fischer hat mir einmal erzählt, dass es tief unten im Meer Kreaturen gibt, die platzen, wenn sie ans Licht kommen. Schätze, sie haben es sich abgewöhnt."
„Kannst du nicht einmal zuversichtlich sein? Sieh doch, wie gut es uns geht." Sie griff nach seiner Hand im Wasser und verschränkte ihre Finger mit den seinen. Das Lächeln, als er sich verspannte, konnte sie nicht zurückhalten.
Überraschte sie sich selbst? Ja. War seine Berührung heilend durch die Wärme und das pulsierende Blut eines Körpers, der lebte? Auch das.
Turid fragte sich, was passieren würde, wenn das wunderbare Leben, seines und das der Tiere um sie herum, tatsächlich nie aufhören würde, wie es der Finsternis scheinbar zu eigen war. Das wäre ein Ort, reich an Wasser und Nahrung für Leib und Geist, an dem es sich bleiben ließe, fand sie. Nur Licht, das gab es nicht. Aber brauchte man wirklich...?
Ärgerlich schüttelte sie den Gedanken ab. Ohne ihren Willen, den Fängen der Dunkelheit zu entkommen, war sie nichts. Dann könnte sie genauso gut gleich sterben. Und außerdem dachte sie an einen Traum, den sie gehabt hatte, bevor die tote Seele des Eroberers sie heimzusuchen begonnen hatte: Wie ihr Vater sie darin gewarnt hatte, was nach zu langer Zeit zwischen Mann und Frau geschah. Turid versuchte sich vor Augen zu führen, dass sie allein deshalb hier nicht rasten durften, doch seltsamerweise nahm sie weniger Anstoß daran, als sie wollte. Ein peinliches Gefühl breitete sich auf ihren Wangen aus.
Sie umklammerte seine Finger nur noch fester, mit einem Mal wieder den Eroberer vor Augen. Da kam ihr ein Gedanke... heilende Berührungen spielten dabei eine Rolle und die kälteste Gänsehaut, die sie je gehabt hatte.
„Alles in Ordnung?", fragte Beowulf. Er hielt still, hatte wohl beschlossen, Turids Bindungsbekundungen wortlos über sich ergehen zu lassen.
Sie machte eine abwinkende Kopfbewegung. „Nichts", sagte sie, „ich habe nur gerade gedacht..." Ihre Worte verloren sich.
„Lass uns anlanden", schlug er vor.
Turid schluckte. Wenn man vom Teufel sprach... doch sie hatte sich entschieden, bevor das Zaudern ihr Einhalt gebieten konnte. „Mal wieder auf festem Boden zu schlafen, wäre kein Fehler", meinte sie. In Wahrheit nahm ihr die Vorstellung, sich nicht mehr hinter seinem Rücken über eine selbstgebaute Reling erleichtern zu müssen, eine beträchtliche Last von den Schultern.
Beowulf packte das Ruder und versetzte der Höhlenwand einen Stoß. Sie rauschten in einer kräftigen Rechtskurve dem Ufer entgegen, und Turid streckte den Arm aus, um zu testen, ob sie nicht schon einen Felsen packen konnte. Zu ihrer Verblüffung tauchten ihre Finger in weichen Schlick.
„Sandbank", sagte Beowulf nur und rammte den Mast mehr schlecht als recht in den Boden, um zu bremsen. Da er sich mit der anderen Hand nicht festhalten konnte, hob es ihn fast vom Floß herunter.
„Du meinst, wie ein Strand?" Turid kannte nur matschige Uferstreifen, Schilf und Flussfelsen. Und Badezuber. Mit großen Augen öffnete sie einen Schuh und tauchte den Fuß knietiefe Wasser. Die schwache Strömung streichelte ihn genauso wie der Untergrund, der keinen Anfang zu haben schien.
„Seereisende haben mir davon erzählt", sagte sie glücklich.
„Du kriegst ihn überall rein", warnte sie Beowulf. Und dann schnappte er nach Luft und sagte: „Bei allen Göttern, das glaubst du nicht!"
Sie fuhr herum und bekam gerade noch das Floß zu fassen, als er mit einem schmerzerfüllten Keuchen absprang und sich ans Ufer kämpfte. „Pflanzen!", rief er. „Keine Algen. Turid, sie... Schilf und Moos und das alles. Gut, es ist kein Urwald – oben wäre es karg zu nennen gewesen – aber für die Finsternis...! Dass ich sowas noch zu sehen bekomme..."
Das Lachen, das er nun ausstieß, hatte sie noch nie von ihm gehört und würde es auch nicht mehr hören. Es klang mehr als erstaunt, es war – überwältigt. Es war der Laut eines Mannes, der das Paradies entdeckt hat.
Labe dich an der Augenweide, dachte sie bitter.
Als er ihrem Blick bemerkte, verstummte Beowulf. Wortlos vertäuten sie das Floß mit einem sicheren Knoten, gebunden mit allen dreizehn Fingern, die ihnen zur Verfügung standen, dann zog er sich zurück. Aber Turid strafte ihn nicht mit ihrem bösen Blick, wie sie es nach seinem obskuren Ritual getan hatte: Die Ehrfurcht vor dem Leben kehrte mächtiger zurück als je zuvor, sowie sie den festen Sand betrat, barfuß und mit einem Leuchten in den blinden Augen. Die Finsternis konnte an diesem Ort nicht anders, als freundlich zu wirken.
Sie bot ihm die Hand an, und er nahm sie dankbar. „Komm", ertönte seine Stimme aus dem Dunkel. „Hier ist eine Biegung. Danach wird es noch besser."
Er führte sie zwischen kurzen Halmen hindurch, langsam, da sie in die Fußsohlen zwickten – die Schuhe hatte auch er auf dem Floß gelassen. Dann sprenkelten weicher Tang und Farn das Ufer.
Turid öffnete den Mund. Das Echo der Wellen fegte über den Fluss hinweg wie inbrünstiger Gesang. Wo die Luft es am anderen Ende des Ufers in die Höhe trug, traf es weit, weit über ihren Köpfen auf die Höhlendecke und verschwand in der Schwärze. Die Kuppel musste wahrhaft gewaltig sein.
„Und hast du so etwas schon mal gesehen?", fragte sie.
„Nie", antwortete er. „Aber wir werden nicht bleiben?"
„Nein", sagte sie. „Niemals."
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