Kapitel 64. Der Gebrochene
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Turid hatte während der folgenden Stunden das Gefühl, eine Treppe hinabzusteigen. Die Finsternis empfing sie wie ein dunkles Loch, und als es tiefer hineinging, schwebte um sie herum bald nur noch muffige Luft, fern jeder Wärme des Sommers.
„Hier gibt es Tropfgestein", sagte Beowulf, aber Turid wusste bereits Bescheid, sie hatte die Hand auf einen der Türme gelegt. Jahrtausendelange Schichten aus feinem Sand waren hier als Wassertropfen herabgeperlt und erstarrt. Von ihren Erkundungsgängen unterhalb des Schlundes ahnte sie, dass der Felsen einen Zwilling haben musste, der außerhalb ihrer Reichweite in der Decke steckte wie ein Zahn.
Ihre tastenden Finger stießen auf einen winzigen See in der stumpfen Spitze des Turmes. Vorsichtig beugte sie sich hinab und saugte ihn aus.
„Turid." Sie antwortete nicht, sondern schmiegte nur stöhnend die Wange an den kalten Stein. Die Sandkörnchen auf ihrer Zunge schluckte sie; einfach, weil sie sich so sehr wünschte, etwas im Magen zu haben.
„Turid?", fragte Beowulf. „Komm schon. Ich glaube, das musst du nicht tun."
„Warum nicht?", murmelte sie.
„Höhlen wie diese habe ich schon gesehen. Das viele Wasser kann heißen, dass ein See in der Nähe ist."
Sie ließ sich zu Boden sinken und besah ihn mit einem matten Blick. „Kann heißen."
Beowulf seufzte und gesellte sich neben sie. Durch den Schleier ihrer eigenen Erschöpfung spürte sie sein Beben; der Hunger ließ in ihr ein Feuer ausgehen, das bei ihm schon lange nur noch eine Kerzenflamme war.
„Beowulf, kannst du an Überanstrengung sterben?"
Er rückte näher heran und schien schnell etwas erwidern zu wollen, dann überlegte er es sich anders. Erst nach einer Weilte sprach er zu ihr: „Ich denke, ich weiß, was du damit sagen willst."
Sie nickte.
„Bis ich mich erholt habe, ist es für dich zu spät, das wissen wir beide", erklärte er leise. Sie machte eine erleichterte Miene. „Ich weiß aber nicht...", Turid tastete nach seiner Hand, aber sie fand sie nicht, „ob ich es schaffe", schloss er. Das hörte sie noch, dann war sie weg.
„Turid?"
Ohne sie zu berühren, beugte er sich über ihren Körper. Sie atmete flach, sah friedlich aus mit ihrem bleichen, abgezehrten Gesicht. Der Anblick entsetzte ihn, war er doch dem einer Leiche scheußlich ähnlich.
„Also soll ich wieder in die Rolle schlüpfen – trotz meiner Qual", flüsterte Beowulf betrübt. Dass sie ihn lieber leiden ließ als endlich klein beizugeben und das verfluchte Fleisch zu essen, verletzte ihn. Aber auch sie hatte gelitten und es war ihr Wunsch.
Natürlich tue ich es, dachte er. Du hättest das Gleiche für mich getan.
Ihr das Fleisch aufzuzwingen, würde er nicht übers Herz bringen. So zog er ihr das Wollbündel unter den Kopf, ihren Schlaf beneidend, mit dem sie sich so einfach aus der Welt katapultierte.
„Stirb nicht", sagte er grimmig, dann wandte er sich ab und quälte sich den Tunnel hinunter in den Wald aus Felsen.
Kurz, bevor er um die Ecke bog, konnte er Turid hinter seinem Rücken leise wimmern hören. Gegen ihre Albträume war Beowulf machtlos, er sah nicht zurück.
Als er eine geeignete Stelle gefunden hatte, ließ seine Muskeln erstarren und spitzte die Ohren. Stille. Er beschmeckte die Luft – Kälte. Er strengte den Geruchssinn an, den Hadubrand ihm geschenkt hatte. Kalk und Nichts.
Schmerz breitete sich in seiner Brust aus, innerlich wie äußerlich. Wenn sie starb, würde seine Seele die Scham über seine Schuld nicht verkraften, und sein Körper ertrug die Mühen nicht, alles zu richten. Allein das wirre Pochen seines Herzens schien jeden Moment zu viel für ihn zu sein.
Hätte er doch bloß alles anders gemacht. Es half nicht, daran zu denken, dass ihm nie die Wahl geblieben war.
Beowulf verschloss diesen Gedanken tief in seinem Inneren und duckte sich unter einem Spalt hindurch zur nächsten Höhle, wo die Steine noch enger standen. Jedes Mal, wenn er sich zwischen ihnen verrenken musste, verzog er das Gesicht. Schnell schlich sich Ärger in die schmerzerfüllte Grimasse und er vermisste die Leichtigkeit, die er einst gehabt hatte.
Dann bemühe dich stärker. Bist du etwa ein alter Mann?
Kann gut sein, mahnte eine Stimme in seinem Inneren. So einfach ist das nicht zu sagen.
Eine Biegung, einige lange Minuten der Wanderung. Er merkte, wie seine Beine dem eigenen Willen kaum noch hinterherkamen. Das Loch in seinem Bauch brannte außerdem wie Feuer, und von seiner linken Hand, sofern sie denn noch existierte, breitete sich ein ekelerregendes Pulsieren über den Arm aus. Als er auf einmal den Geruch von Blut in der Nase hatte, freute er sich für einen Moment wie ein Tier – bis ihm klar wurde, dass es sein eigenes war.
Sowie er dachte, dass trotzdem noch nicht alles verloren sein müsse, klappte er einfach zusammen.
Stöhnend suchte er Schutz zwischen zwei gewaltigen Felsbrocken, von denen kleine Rinnsale wie Haarsträhnen herabfielen und mit leisem Plätschern abwärts verschwanden.
Nein, sterben kannst du nicht, dachte er. Aber in den endlosen Schlaf zu fallen, ist fast dasselbe.
Ein Schauder fuhr ihm über den Rücken, als er sich den Moment des Erwachens vorstellte, wenn viele Jahre vergangen sein würden und er sich das Herz brechen musste, um nach Turids Überresten zu suchen. Vielleicht würde er sie hier finden, wo er sie zurückgelassen hatte. Vielleicht zierten sie aber auch Hadubrands heiligen Ort, vor dem Beowulf Todesängste litt. Er wusste nicht, wo er war oder wie es dort aussah. Er wusste nur, dass Hadubrand einen schrecklichen Geruch von dort herschleppte, verbraucht, verdorben, nervenaufreibend – untot.
Nichts würde ihn dann davon abhalten, dann den Verstand zu verlieren. Gar nichts. Beowulf schob schützend die Hand über seine Augen und dachte dabei daran, wie sie Ich liebe dich zu ihm gesagt hatte.
Nie hatte er diese Worte von einer Frau zu hören bekommen. Vielleicht das ein oder andere heißblütige Liebe mich oder hinterher das spielerische Liebst du mich?, denn er hatte stets und mit jeder Selbstverständlichkeit nur mit Frauen seinen Spaß gesucht, die ihm auch Augen machten und die spielten schon mindestens so lange wie er. Trotzdem wusste er von Adalger, der mit Hingabe rosige Schürzen gejagt hatte, dass die Unerfahrenen es leichtfertig sagten – ohne überhaupt zu ahnen, was Liebe eigentlich ist.
Nicht, dass Beowulf selbst sie je erfahren hätte. Doch wenigstens hielt er sich fern von Dingen, die er nicht kannte.
Tröstend streichelte ihn die wärmende Nässe eines Wassertropfens. Ein Gefühl folgte, das er immer bekam, wenn sein Körper schwitzen wollte und er feststellen musste, dass auch diese Fähigkeit ihm in der Höhle verlorengegangen war.
Er hob den Kopf. Wärme. Nässe. Nebel?
Beowulfs Nasenflügel bebten. Er zwang sich auf die Beine und schlich durch die Tropfsteine wie ein Reh im Mondschein.
Kein Zweifel. Wasserdampf sickerte aus einem Spalt in die Höhle hinein.
In diesem Augenblick war es um ihn geschehen. Er vergaß den Schmerz und schenkte sich ein Jubeln, was er kindisch fand und ebenso gefährlich, denn Hadubrand hörte gut, aber was gab es Schöneres als die Rettung in letzter Sekunde? Sofort war ihm klar, dass er von Anfang an richtig gelegen hatte: Hinter der Wand ruhte ein Wasserlauf, ein Tümpel womöglich, der von saftigen Algen in Hülle und Fülle umsäumt sein würde. Nur das Herz der Höhle selbst mochte wissen, woher die Wärme kam, doch sie brachte alles mit, was Turid brauchte.
Dass die Nebelkammer klein war, enttäuschte Beowulf nicht. Er hatte eine neue Kraft gefunden, die es ihm erlaubte, sich geschickt unter einem Felsenbogen hindurchzuducken und das Paradies zu erblicken – ein kreisrunder, aber unregelmäßiger Raum gekleidet in gelbbraunen Stein und Giftgrün, so weit das Auge reichte. Das trübe Wasser zu seiner Mitte beachtete er gar nicht, bemühte er sich doch, wie ein Irrer die Pflanzen herauszureißen und unter seinen unversehrten Arm zu klemmen.
Die Wassertröpfchen sammelten sich wie Mücken auf seiner Kleidung. Auf dem Rückweg würden sie dann durch seinen Verband dringen und sich mit Blut und Eiter vermischen. Jetzt kümmerte ihn das wenig.
Fast stolperte er über sie, doch den Schmerzenslaut unterdrückte er. „Aufwachen." Beowulf hielt Turid das pelzige Grün unter die Nase. Die Algen umhüllte ein vergorener Hauch.
Das entging ihr nicht. Sie öffnete aber nicht die Augen, um zu essen; bestimmt war sie nicht einmal richtig wach, sondern träumte weiter von ihren Schreckgespenstern, während ihr Instinkt die Arbeit erledigte. Beowulf hielt still, solange sie kaute. Danach dämmerte sie wieder davon. Doch jetzt machte er sich keine Sorgen mehr.
Das hieß – keine Sorgen mehr um sie.
„Verflucht seien die Götter." Beowulf, kurzerhand hinter einen großen Felsen gekrochen, zog behutsam an einer durchfeuchteten Stofflage. Sogar Turid hätte gemerkt, dass sie nicht mehr zu retten war.
Misstrauisch schaute er hinter dem Stein hervor und beäugte die schlafende Gestalt. Ihre Zehen zuckten, sonst nichts. Es würde einige Zeit dauern, bevor sie ihn wieder anstarren und wissen konnte, was er tat und was er dachte, ohne tatsächlich etwas zu sehen. Manchmal überlegte Beowulf, ob sie das zweite Gesicht besaß.
Langsam begann er den Verband abzuwickeln. Dabei kam sein verletzter Arm frei, ohne den Stoff davon fortzureißen; er wollte die Hand bis zuletzt nicht sehen. Er seufzte. Wie gut es tat, die Schulter zu bewegen.
Er atmete tief durch. Seine Augenbrauen zogen sich schmerzlich zusammen und er regte sich nicht, bis sein Blick an ihrer Brust hinunter zu dem Bein wanderte, das er so oft versorgt hatte. Den geschwächten Muskel zu sehen war tröstlich; grausam, aber gut. Sie war mit der Verwundung zurechtgekommen, genau wie mit den drei fehlenden Fingern.
Beowulf rang sich ein Schmunzeln ab bei dem Gedanken, wie sie ihn damit wohl beschwichtigen würde. Immerhin konnte sie nicht wissen, dass er Linkshänder war und somit das Kostbarste verloren hatte – seine Schwerthand.
Vom Zustand seiner Verletzung war er nicht allzu überrascht. Gut, Hadubrand war über ihn hergefallen wie ein Löwe, aber das wusste er. Es ist schwer, sich Schmerzen, die man gehabt hat, erneut vorzustellen, diese jedoch würde er nie vergessen. Der Riss hatte immerhin bereits begonnen, sich zu schließen. Eine klare Substanz benetzte den halb freigelegten Eingeweidesack, was für Beowulf ein denkwürdiger Anblick war – er hatte solche viele Male in den Händen gehalten, aufgeschnitten, zerhackt und über dem Feuer geröstet, von Rehböcken, Wildsauen und Hasen gegessen. Nun das rohe, weißrote Fleisch seines eigenen Körpers zu sehen, verursachte ihm Würgereiz. Oft verletzt hatte er sich auch als Krieger nicht, er war kein Draufgänger.
Beowulf legte sich auf den Rücken, als wolle er sein bleiches Gesicht den Sternen zeigen. Die heilende Wunde bedeckte er wie einen Toten mit dem Wolltuch. Später, sagte er sich. Noch während er dies dachte, machten seine Finger sich selbstständig und schlugen den zweiten Verband auf.
Sie ist gut, obwohl man sieht, dass sie keine Freude am Nähen hat, war sein erster Gedanke. Anders als bei seinem Bauch zogen sich die Stiche deutlich auf einer hässlichen Narbe fast über den ganzen Unterarm hinweg. Sie war rot und geschwollen, die Hand selbst – sah in Ordnung aus.
Mit gerunzelter Stirn drehte den Ellenbogen und erkannte sofort, dass er keine Schmerzen spüren würde. Der Versuch, die Hand zu bewegen, blieb erfolglos. Allerdings war sie nicht ganz tot. Wenn er mit der Rechten über den Handrücken strich, wusste er ungefähr, wo seine Finger sich befanden. Nur, wenn er den Ringfinger seiner Linken antippte, spürte er die Berührung am Mittelfinger und andersherum; Augenlicht und Tastsinn widersprachen sich dabei so skurril, dass es ihm eine Gänsehaut bescherte.
Ein Ring oder Haken würde sich da nützlicher machen, dachte er mit einem missmutigen Brummen. Schade, dass meiner begraben worden ist.
„Beowulf, warst du das?", fragte Turid plötzlich laut.
„Ja", sagte er, „schlaf weiter."
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