Kapitel 6. Launen und andere Übel
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Die Sterne waren ihr schon früher aufgefallen. Allerdings nicht so deutlich, nicht so farbenfroh wie jetzt, als sie wieder erwachte. Früher hatten graue, blaue und rote Sprenkel ihr Sichtfeld durchzogen, jetzt tanzten feurige Schlieren, bunte Eruptionen und lustige Streifen in der Höhle herum. Turid hielt sie nicht für Halluzinationen. Jedenfalls nicht im Sinne einer Verrückten. Ihre Augen hatten einfach nichts zu tun – also dachten sie sich etwas zum Sehen aus.
Eine Weile lag sie in der Dunkelheit und überlegte, wie es sich anfühlte, geschändet zu sein. Die Tatsache, dass sie nun, wie ihr Vater es gesagt hätte, beschmutzt war. Ja, es stimmte, sie fühlte sich unsauber und gedemütigt, sie empfand den Verlust als seelischen Schmerz. Vorherrschend war aber immer noch die abgebrühte Annahme der Dinge, wie sie waren. Wenn man seinen Verstand einschaltete, erschloss sich nämlich von selbst, dass es hier unten völlig egal war, ob sie einen Mann gehabt hatte oder nicht. Die Oberwelt wusste ja nicht einmal mehr, dass sie überhaupt existierte. Ihr einziger Beobachter war der Herr und der konnte sie nun wirklich nicht verurteilen – immerhin war sie nicht freiwillig hier.
Turid war nur froh, dass sie dieses erste Mal nicht hatte miterleben müssen. Sie war ohnmächtig geblieben. Übrig blieb nur leise Abscheu davor, was er wohl mit ihrem Körper angestellt haben mochte, während sie geschlafen hatte. Besonders, weil sie nicht wusste, ob... seine untere Hälfte Mensch war oder nicht. Das kannst du ruhig zu Ende denken, sagte sie sich im Stillen, er kann zwar sehen, was du tust, aber in deinen Kopf schauen kann er nicht.
Hätte sie gewusst, ob er sie in diesem Moment beobachtete, es wäre ihr eine Erleichterung gewesen. Dann hätte sie nämlich tasten können, ob etwas an ihr anders war, ob es wehtat, wenn sie sich berührte. Nicht, dass sie sich oft angefasst hätte – die christlichen Lehren waren so tief in ihr verankert, dass es ihr sogar unangenehm war, sich dort zu waschen. Aber wissen wollte sie es.
Bis auf das vertraute Pochen in ihrem Oberschenkel hatte sie keine Schmerzen.
Sie regte sich. Wenn sie es ihm nicht gönnen wollte, ihre Hand an dieser Stelle zu sehen, so würde sie ihren Zustand auf anderem Wege in Erfahrung bringen müssen. Als sie sich aufsetzte und ihr linkes Knie anwinkelte, als sei nichts passiert, fühlte es sich wirklich so an, als wäre nichts.
Sie robbte in ihre Ecke und hockte sich hin, das rechte Bein wie immer abgespreizt. Sie hörte das Rauschen und der Druck in ihrer Blase nahm ab. Aber es tat nicht weh.
Mehr denn je fühlte sie eine seltsame Ruhe und Klarheit. War es das, was die Dunkelheit mit den Menschen machte? Schlug einem das Herz dann immer so langsam? Bis auf die panischen Anfälle, die sie gelegentlich zu bekommen schien – sie hasste sich für den letzten, obwohl er ihr bis auf die Beule am Kopf nur Gutes gebracht hatte – war sie ausgeglichener und toleranter, als sie es von sich kannte. Turid vermutete, dass es die Schwäche war, die Verletzungen, die Kälte und der Mangel an Nahrung und Sonnenlicht, die an ihr zehrten und sie so werden ließen.
Turid wusste nicht, was sie von ihrer Gefühlslosigkeit halten sollte, aber nichtsdestotrotz tat es gut, betäubt zu sein. Sowohl seelisch als auch körperlich. Sie fragte sich, ob er gewisse Neigungen hatte und sie deswegen keine Schmerzen spürte. Sie würde ihn fragen, wenn er wieder bei ihr war. Dafür fühlte sie sich mutig genug. Und vielleicht... vielleicht war er ja tatsächlich der Schlag Mann, der Spaß daran hatte, provoziert zu werden – solange sich die Frau ihrer Unterwerfung bewusst war. Turid glaubte, dass der Eroberer genauso gewesen wäre.
Auch die bittere Entwicklung, statt bei ihm nun bei Beowulf zu sein, nahm sie hin.
Als sie sich mit der Zunge über die rissigen Lippen fuhr, fiel ihr ein, dass sie lange keinen Gedanken mehr an das Ungeheuer verschwendet hatte. Kurz kam ihr in den Sinn, dass es vielleicht nicht real gewesen war. Immerhin war sie bereits im Delirium gewesen, als es sie aufgelesen hatte.
Sie rief sich ins Gedächtnis, wie eindrücklich die schweren Schritte, der Verwesungsgeruch und die scharfen Zähne gewesen waren und verwarf den Gedanken.
Ob es wohl möglich war, dass dies alles zu einem Organismus gehörte, der sich Beowulf nannte? Turid hatte sich bereits früher gefragt, ob er ein Gesicht besaß.
Nein. Ihre Ohren täuschten sich nicht, jetzt, da sie ihren zuverlässigsten Sinn bildeten. Kam er, vernahm sie einen leichten Gang, zwei Füße, manchmal meinte sie sogar, sich Schuhsohlen einzubilden. Kam es, bebte die Erde unter mindestens vier, vielleicht sechs Beinen.
Ob er das Tier unter Kontrolle hatte? Sie arbeiteten nicht gegeneinander. Sonst wäre er längst tot und sie auch. Was würde sie dafür geben, zu erfahren, was für ein Biest in dieser Höhle lebte.
Turid seufzte. Der Drang nach Wasser war unerträglich.
„Beowulf", hob sie zaghaft an, „ich habe Durst."
Stille. Nicht einmal die Leere warf ihr Echo zurück, dafür hatte der Fels um sie herum nicht die richtige Formation.
„Bitte", sagte sie. Nichts.
Sie traute ihm zu, dass er direkt vor ihr saß, ihm aber nicht danach war, ihr zu helfen.
Es dauerte seine Zeit, bis sie es wieder versuchte. „Ihr seid mir nichts schuldig, so töricht bin ich nicht." In Wirklichkeit dachte sie genau dies – er hatte ihren wertvollsten Besitz genommen, dafür konnte er ihr doch wohl einen Schluck Wasser geben – aber das würde er nie erfahren. „Ich bitte Euch", wiederholte sie. „Beowulf!"
„Hör auf, herumzubrüllen", knurrte er, seine Stimme ein weit entfernter Widerhall von den Wänden. Er war also doch fort gewesen. Die ganze Zeit?
Fernab platschte etwas. Sie brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass er durch Wasser auf sie zulief. Vielleicht war es der See, von dem sie in den ersten Stunden nach dem Fall getrunken hatte.
Dann war er da und überließ ihr das triefende Stück Leinen, von dem sie zu trinken pflegte und das einmal ihr Rock gewesen war.
„Erwarte nicht, dass ich zukünftig auf der Stelle angesprungen komme, wenn du schreist", sagte er. „Ich weiß, dass ihr auch zwei Tage ohne Wasser auskommen könnt."
Sie erwiderte nichts, da sie damit beschäftigt war, den Fetzen auszusaugen. Er schmeckte scheußlich bitter, aber das tat er immer.
Sobald ihr Durst gestillt war, senkte sie die Hände. Das feuchte Tuch knüllte sich in ihrer Faust, als sie nach den richtigen Worten suchte. Er schien ihr zuzuhören. Sie holte Luft.
„Gibt es das Ungeheuer?", fragte sie.
Er schien nicht verärgert zu sein, dass sie so unvermittelt mit einer Frage herausrückte – wenn auch etwas überrascht: „Hadubrand?", entgegnete er, „ja."
Sie musste sich bemühen, nicht laut aufzulachen. Er hatte ihm einen Namen gegeben. Diesem Wesen, das mit seinen gewaltigen Zähnen die Verurteilten fraß. Die vier Löcher in ihrem Körper zeugten davon.
„Muss ich es fürchten?", fragte sie, als erkundigte sie sich nach dem Wetter.
Und da – da spürte sie, dass er zögerte.
Das Herz sank ihr hinunter.
Er hatte nicht augenblicklich verneint.
„Das wäre eine Verschwendung", sagte er ruhig, aber es war bereits zu spät. Turid mochte blind sein. Aber sie konnte hören, dass etwas nicht stimmte, dafür log er zu schlecht.
„Wo ist es", fragte sie ihn, aber er antwortete nicht. „Beowulf", sagte sie.
Auf der Stelle spürte sie seine Stimmung kippen und sie wusste, dass er wieder gefährlich wurde. Es war immer dieselbe Spannung, die plötzlich die Luft erfüllte und sie finster schwelen ließ.
„Ich bitte um Verzeihung, Euch gebissen zu haben", flüsterte sie schnell und starrte in die Dunkelheit.
Der unheimliche Rauch aus Erregung verflog ebenso schnell, wie er gekommen war. Turid seufzte innerlich vor Erleichterung. Sie hatte sich noch einmal aus der Schlinge ziehen können.
„Ich hoffe es. Ich hatte Regeln aufgestellt", tadelte er sie.
Sie nickte. „Die Klinge hat mich in Panik versetzt. Das ist alles."
Eine Pause entstand.
„Das war dir nicht neu", sagte er. „Ich habe es schon früher getan."
Und damit war Turid verwirrt. Er hatte sie doch nicht...? War sie die ganze Zeit schon – „Ich erinnere mich nicht daran", stammelte sie. „Ich verstehe nicht – "
Er packte ihre Hand und führte sie nach unten. Das wollte sie nicht, alles sträubte sich dagegen, aber sie sammelte ihren Willen und gebot den Drang Einhalt, seine Finger wegzuschlagen.
Er führte sie an ihrer Mitte vorbei zu ihrem Oberschenkel. „Diese Schwellung", erklärte er und drückte ihre Finger auf den feuchten Verband, „wird durch das Blut verursacht, das durch den offenen Bruch in das umliegende Fleisch gelangt." Es war ein Vorwurf in seine Stimme, sie hörte es. „Erzähl mir nicht, dass du nicht weißt, was ein Aderlass ist."
„Natürlich weiß ich es", sagte sie, aber ihre Gedanken waren an einem anderen Ort, wo sie versuchten, Schlüsse aus seinen Worten zu ziehen.
Er hatte ihr Bein versorgt. Wenn sie nur nicht so töricht gewesen wäre, sich dagegen zu sträuben. Dann wüsste sie jetzt, ob das alles war, was er mit ihr getan hatte. Sicher war sie sich nun nicht mehr, denn kein Gefühl und kein Schmerz hatte je davon gezeugt außer jenen, die sie sich selbst ausgedacht hatte. Er hatte mit ihr darüber gesprochen, ja. Urteile, hatte er gesagt und dann den anschaulichen Teil des Gesprächs ihr überlassen.
Vielleicht hatte er überhaupt keinen Trieb, wenn er kein Mensch war. Oder er hob sie sich auf.
„Turid", sagte er. Sie schrak zusammen. Hatte er etwas gesagt?
Ihre Hand hatte er losgelassen. Sie spürte seinen Blick auf ihr ruhen, er war scharf, das wusste sie, ohne zu sehen.
„Deine ungenierte Art hast du abgelegt", stellte er fest.
„Es ist nicht mein Verdienst", entgegnete sie, „diese Schwärze lässt mir keine Kraft für Herausforderungen."
Beowulf schnaubte. „Du tust besser daran", sagte er. „Es bleibt dein Wohl."
„Mein Wohl", schluckte sie. „Und Eures."
„Ganz genau." Er packte sie am Kragen oder was davon übrig war. „Vielleicht sollte ich ehrlich mit dir sein", sagte er, „die meisten, die hier unten landen, werden schnell verrückt. Schreien, schlagen, sehen Dinge, die nicht da sind. Manchmal singen sie auch, wie ich nun weiß", und bei diesen Worten presste sie die Lippen fest zusammen. „Wäre da nicht Hadubrand, sie töteten sich selbst."
„Sagt mir, warum ich noch lebe", verlangte sie.
Sein Griff verstärkte sich. Hatte sie ihn verärgert?
„Nein", sagte er dann. Einfach: Nein.
„Ist es, weil ich eine Frau bin?", fragte sie.
„Ich will nichts mehr von dir hören", fauchte er, worauf Turid sich verschreckt an die Wand presste. Ohrfeigen hätte sie sich können. Eben hatte er normal mit ihr gesprochen – im nächsten Moment musste sie um ihr Leben fürchten. Seine Launen würden ihr eines Tages den Kopf kosten, wenn sie nicht achtgab.
„Du lebst und bleibst hier. Aber ich will keine wahnsinnige Gesellschaft in dieser Höhle", sagte er trocken.
„Das kann ich Euch nicht garantieren", erwiderte sie leise.
Sie hörte, wie er Distanz zwischen sie beide brachte. Turid kam sich vor wie eine Spinne, die man nur in einer Ecke duldete und nicht in der eigenen Nähe. „Es gibt Gifte, die die Finsternis erträglich machen. Das ist alles, was du wissen musst."
Turid verstand sofort. Ihr gemächliches Herzklopfen. Die Nüchternheit, durch die sie das Gefühl hatte, alles zu wissen. Dass ihr alles egal war.
Er betäubte sie. Um sie ruhig und gefügig zu halten.
Wozu? Was, beim lieben Gott, hatte er mit ihr vor?
„Ist es im Wasser?", fragte sie.
„Du kannst es trinken oder sterben", meinte er.
Sie wandte sich ab. Die Möglichkeit, dass sie Beowulf in die Augen sah, ertrug sie nicht.
Es war eine lange Stille, die nun entstand, in der Turid in die Finsternis starrte und sich zum ersten Mal fragte, ob sie jemals wieder Tageslicht sehen würde. Und wenn ja, wann es geschehen würde. Konnte man erblinden, wenn man zu lange in der Dunkelheit war? Und mit welchem Licht sah er? Katzen, Marder und anderes Getier sahen bei Nacht jede Einzelheit, das wusste sie, aber ein paar Augen, das hier funktionierte, musste brillant sein.
Ob ihr Frust darüber, dass er sie einfach sedierte, um keinen Ärger zu haben, auch nur unterdrückt war?
„Warum haben sie dich hinuntergeworfen?", fragte Beowulf plötzlich. Keine Spur mehr von der Abweisung, die er vor wenigen Augenblicken hatte walten lassen. Turid wurde nicht schlau aus diesen Stimmungswechseln; in einem Moment wollte er nichts von ihr wissen, im anderen löcherte er sie frei heraus mit Fragen. Und sein Ton war nicht nur interessiert – er strotzte vor Neugier, obwohl er versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen.
Turid verschränkte die Arme vor dem Bauch. „Darüber will ich nicht sprechen", sagte sie.
„Achtundneunzig Männer haben erfahren, was am Ende der Lichtrinne liegt. Aber nicht eine einzige Frau", fuhr er fort, als hätte sie nichts gesagt.
Die Lichtrinne. Es kam also doch ein Schein durch den Schlund, obwohl er endlos lang und durch den Felsen verschlossen war. Turid fragte sich, ob sie ihn jemals würde sehen können.
„Haben sie dich der Zauberei angeklagt?", fragte er.
„Hexen werden verbrannt", murmelte sie.
„Eine Ketzerin", meinte er. Er hatte Spaß an seinem Ratespiel.
„Ich bin ein frommes Kind Jesu", sagte sie.
Sie hörte ihn mit der Zunge schnalzen. „Ich nehme dir nicht ab, dass du eine kaltblütige Mörderin bist", sagte er, „und nur die schäbigsten Barbaren sind zu gottlos für den Galgen."
Sie fuhr auf „Nicht ich bin die Barbarin, sondern er!"
Jetzt hatte sie es gesagt. Jetzt würde er von ihr verlangen, dass sie alles erzählte.
Turid spürte, wie er sie anstarrte.
„Ein Mann hat dich die Rinne hinuntergestoßen?", fragte er leise.
„Weyrich aus Hrabanwald", sagte sie, „sie nennen ihn auch den ‚Kämpe'." Sie schloss die Augen und dort grinste seine Fratze sie an. „Der Eroberer."
„Eroberer", wiederholte Beowulf.
„Ganz genau", sagte Turid.
„Er hat Adalgers Nachkommen vom Thron gestürzt?", murmelte er.
„Wer ist Adalger?"
Was folgte, was eine bestürzte Stille. „König Adalger?", fragte er.
„Es gibt keine Könige in Gremholdshand. Überhaupt keine Adalgers mehr. Und auch keine Beowulfs", fügte sie hinzu.
Und das war der Moment, in dem Beowulf klar wurde, dass er sehr, sehr lange allein gewesen war.
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