Kapitel 59. Kontakt
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Die Zeit war stillgelegt durch die dunkle Schwerelosigkeit vor ihren Augen. Ihr Magen sagte ihr, dass sie nicht fiel, so wie ein Stein auf Grund gesunken wäre, sondern schwebte, als hätte man ihn erst auf der Wasseroberfläche hüpfen lassen und dann mit warmen Händen aufgefangen. Gerettet.
Die warmen Hände waren Stein. Stein und Beowulfs Oberkörper, den sich ausgerechnet – wie wahrscheinlich war dies wohl? – ihr Kopf zum Aufprallen ausgesucht hatte. Nicht die Felsen, um ihr Lebenslicht mit einem Faustschlag auszulöschen. Nicht seine Verletzung, was ihn umgebracht hätte. Nicht sein Schädel, der zusammen mit ihrem eigenen geborsten wäre. Nein. Es war die weiche Mulde unterhalb seines Halses, wo der Kragen hochstand und die Hemdschnüre ihre Wange kitzelten. Das Gefühl von seiner Haut an ihrer Haut war verboten und gleichzeitig göttlich.
Eine hastige Bewegung, ein Stöhnen. Turid schwankte, ihre Beine knickten unter ihr weg wie Hölzchen. Abermals sank ihr Kopf gegen seine Brust.
Großer Gott, konnte sie nur denken, atmest du? Sie fuhr ihm mit der Hand über den Hals, brachte die Kälte ihrer Finger an seine Haut wie eine Schneedecke. Und er tat es. Da, zwischen einer Sehne und dem Kehlkopf, war ein Pochen, das sie nicht nur fühlte, sondern auch... hörte.
Da wurde ihr bewusst, dass es still war. Sehr still. Allein ein fernes Rauschen zeugte davon, dass die Winde noch wehten, irgendwo anders.
„Beowulf, die Winde sind weg", wimmerte sie. Kein Echo begleitete ihre Stimme.
Beowulf antwortete nicht. Hadubrand tat es.
Abseits wie aus einer fremden Welt - und vielleicht jenseits der Tore des Todes - heulte das Tier vor Wut. Sein Geschrei ließ alle Härchen in ihren Ohren aufstehen, alle Muskelfasern beben. Prickelnd schoss Welle über Welle ihre Arme hinauf, doch sie vergingen so schnell, wie sie gekommen waren, obwohl Hadubrands Frust nicht verklang. Ein Kratzen von Krallen auf Gestein, dann dumpfe Schläge wie ein Rammbock an einer Tür. Schlittern, Kreischen. Heftiges Atmen.
Turid dämmerte, dass Hadubrand irgendwo über ihr an der gewaltigen Steinplatte hängen musste, die ihren Körper damals ins Trümmerfeld gespuckt hatte. Vielleicht waren Felsbrocken zwischen ihnen oder ein massiver Tunnel, der für den Körper eines Ungeheuers nicht breit genug war. Hadubrand warf sich dagegen, wieder, wieder, und wieder.
Sie hörte, wie Felsen einen Abhang hinunterpolterten. Zur gleichen Zeit ganz leise: Drumm drumm drumm drumm...
Am eigenen Leib nachfühlen konnte Turid seinen Schrecken – dieser kurze Moment, wenn man dachte, jetzt müsse man fallen. Die Stöße wurden vorsichtiger, gehemmt durch den wackeligen Turm aus Stein unter seinen Pfoten, doch sie hörten nicht auf.
Turid lehnte sich zurück und schloss die Augen. Die Gänsehaut, der erste Schock über diese schrecklichen Geräusche, war fort. Doch der Schmerz in ihren Ohren blieb. Jedes Mal, wenn Hadubrands Krallen in der Höhle einen schrillen Ton erzeugten, presste sie sich die Hände darauf und schrie kläglich.
Es ging Stunden so. Hadubrand wurde nicht müde. Allmählich lernte sie, dass ihre Beine zum Stehen gedacht waren und dass sie das noch immer konnte, denn sie hatte sich keine Knochen gebrochen. Der Wind hatte sie geborgen. Der Wind und Beowulf.
Der lag noch immer regungslos zu ihren Füßen. Turid hatte Angst, dass er nur noch atmete, weil sein Leib es konnte, und nicht, weil seine Seele es sollte. Wer wusste schon, wie es um ihn stand; immerhin hatte seinen Kopf niemand aufgefangen, und, so ahnte sie, sein Körper würde auch ohne Geist funktionieren, wenn Hadubrand es so wünschte. Er war anders. Er war eine Maschine.
Aber Turid wollte nicht nachsehen. Sie hatte Angst.
Bald staute sich das Blut in ihrem Schädel, bis sie es nicht mehr aushielt. Mit schmerzverzerrter Miene richtete sie sich ganz auf – und stieß mit dem Kopf gegen die Decke. Schwach glitzerten die Sterne vor ihren Augen, böse pochte die Beule unter ihrer Haut. Waren sie etwa unter eine Nische gerollt?
Einige Minuten lang ging sie gebückt im Kreis und tastete sich durch die Finsternis, bis klar war, dass die Höhle sich an einer Stelle weitete. Hadubrands Wut war hier deutlicher zu hören, der Sturm rauschte etwas kräftiger.
Sie mussten sich unterhalb von etwas befinden, das wie ein Boden war; in einer unsichtbaren Schicht im Gestein. Deshalb war kein Echo zu hören und die Luft so dick. Und Hadubrand – er konnte nur daran scheitern, sie auszugraben, so viel Masse, wie über ihren Köpfen thronte.
Turid akzeptierte es. Auch wenn sie sich nicht an den Aufprall erinnern konnte, der sie hergeschickt hatte: Sie wusste nur noch, dass sie im Fallen eine Hand berührt hatte, die ihr wieder entglitten war.
„Oh Beowulf", flüsterte sie. „Was mache ich mit dir?"
Eine Weile lang saß sie wieder nur da und lauschte ihm und Hadubrand. Gelähmt von der Macht, die ihr die Welt aus den Fugen gerissen hatte und ihrem eigenen Atem, der immer schwerer ging.
Irgendwann fiel ihr etwas ein. Sie beugte sich vor – und entdeckte, dass die Gürtel nach wie vor um Beowulfs Stiefel geschlungen waren. Sie sah zu ihm hinüber wie durch einen Nebel hindurch und verstand, dass es nicht lange dauern würde, bis die Finsternis sich auf ein Neues drehen würde und alles vorbei war.
Also schleifte sie ihn von dannen. Wohin? – sie hatte keine Ahnung, einfach an einen anderen Ort. Das Kratzen von Hadubrands Klauen diente ihr als Wegweiser. Änderte es sich nicht, wenn sie einen Gang betrat, dann kehrte sie um. Wurde es mit jedem Schritt leiser, den sie tat, so folgte sie ihm.
Irgendwann griff sie sich an die Kehle und taumelte zu Boden. Der Sturm war verstummt und die Luft leichter geworden, Hadubrand nur noch ein fernes Echo in der Dunkelheit.
Beowulf atmete noch immer. Turid blinzelte einmal, dann noch einmal, dann kippten ihre Lider ohne eine Warnung aus den Höhlen und die Sterne verschwanden.
„Vergib mir", flüsterte sie.
Eine ruhige Kraft floss durch ihren Körper und Turid schlug die Augen auf. Wo zuvor Frösteln gewesen war, war jetzt Wärme. Wo ihre Nase, ihre Hände, ihre Beine, ihre Rippen und ihr Kopf – einfach alles von ihr – geschmerzt hatten, war jetzt ein zartes Pochen und eine Wundheit, die ihr die Tränen auf die Wangen trieb. Sie fühlte sich, als hätte man ihr die Glieder zwischen den Rädern einer Mühle zerquetscht.
Ein Pfeifen. Ein Fiepen? Nein – die Schreie des Ungeheuers. Sie waren weit weg. Allerdings konnte die Ferne nicht verbergen, wie brüchig Hadubrands Stimme geworden war, heiser das Knurren aus seiner Brust. Hier und da ein erschöpfter Herzschlag zwischen dem Scharren. Nicht mehr lange und das Fleisch um seine Pfotenballen würde sich entzünden – wenn er sich die Krallen nicht schon längst herausgerissen hatte.
Eine Weile lauschte sie ihm und fragte sich, wie viel Zeit wohl vergangen war. Da oben und unten sich verschlungen hatten und Turid nicht sicher war, wo sie aufhörte und wo die Finsternis begann, tastete sie an sich hinunter. Dass es noch zu früh war, um sich zu bewegen, bemerkte sie zu spät; ihre Knochen knurrten, ihre Muskeln bissen. Stöhnend ließ sie die Hand wieder sinken.
Die Dunkelheit schien schwärzer als je zuvor, mächtiger, vor allem über Turid, die so schwach war wie nie. Wenn es eines gab, worüber sie sich schämte, dann der Wunsch, Beowulf wäre bei ihr und pflegte und fütterte sie – dann wäre er ihr zwar wieder überlegen, aber wenigstens wäre er da. Stattdessen lag er neben ihr wie tot, schlimmer dran als ein Gefallener, und niemand konnte ihnen helfen.
Mit einem Mal war sie wieder dort, stand an der Seite ihres eigenen zerschmetterten Körpers. Sie hörte sich nach der Hinrichtung unter dem Schlund schreien. Sie fühlte wieder die Qual. Aber – nein, dachte sie.
So schlimm ist es nicht. Wenigstens ist da Wärme.
Das war, bis ihr bewusst wurde, dass sie sich im Schlaf herumgerollt und an Beowulf gedrückt hatte wie ein Welpe an den Bauch seiner Mutter. Blut war durch die Reste der Wolldecke gesickert und hatte Turids Kleidung wie ein Unkraut erobert; es überzog jetzt nicht mehr nur ihre Hände bis zu den Ellenbogen hinauf, nein, es klebte zwischen ihren Brüsten, in ihrem Bauchnabel und auf dem kleinen Hügel zwischen ihren Beinen.
Turid stieß ein Japsen aus und rappelte sich auf. Die verblasste Erinnerung an eine Zeit, da sie noch dort geblutet hatte, bekam vor ihrem inneren Auge Farbe, als die Wärme rot aus den gekräuselten Haaren in ihre Hose tropfte.
Beowulf atmete nur. Sh-sh. Auf, ab. Die Maschine. Lebte sie noch oder starb sie schon?
Ein Klecks saure Spucke landete neben Beowulfs Füßen und Turid fuhr sich mit spitzer Zunge über die Zähne. Das war kein Ekel, sondern Bitterkeit. Langsam sank sie in sich zusammen, schenkte dem Bewusstlosen unbewusst eine unsichere Verbeugung.
Jetzt war die Luft wieder klar, ihren Lungen nicht mehr zu knapp, dafür blutgeschwängert. Die Tröpfchen, feiner noch als Nebel, drangen durch ihre Nasenlöcher direkt in ihr Herz.
Oh Beowulf, klagte sie wieder. Warum, warum.
Sie fiel vor ihm auf die Knie, die Kleidung schwer und vor Feuchtigkeit knarzend.
„Oh du", sagte sie und berührte sein Gesicht.
Es war kalt. Wenn Menschen viel Blut verloren, dann wurden ihre Adern blau und ihre Haut weiß und wolkengrau – wie der Himmel, den sie zu betreten ersuchten. Auch Beowulf musste so aussehen, nur sterben würde er nicht. Sein Atem war stark. Stark wie der Schlag ihres eigenen Herzens.
Sie brach ein stumm gegebenes Versprechen, denn sie zog die Finger nicht zurück.
Turid hatte nur kurz den Handrücken an seine Wange legen wollen, um Haut zu spüren, die sie doch schon kannte; seine Finger, deren Berührung ihr so viel bedeutete, seine Brust, die sie ungewollt aufgefangen hatte und oh, der Schnitt in seinem Bauch. Sie hätte von seiner Wärme Stärke haben und Leben unter einer Haut finden wollen, die viele Jahre zählte und vom Wind des Nordens gegerbt war, aber doch war wie die ihre. Haut, ob kalt, warm, ledrig, weich, hart oder zart. So war ihre Vorstellung gewesen, als sie die Hand mutig ins Ungewisse gestreckt hatte.
Dass er einen Bart trug, zerschlug das alles wie Glas.
Aber da war er. Er war nicht kraus gelockt wie der des Eroberers, sondern dicht und glatt, sodass die Wärme seiner Wange unter ihm gefangen blieb. Turid krallte die Finger hinein und dachte nur an eines – hoffentlich war er nicht rot. Alles, nur nicht rot. Eher braun wie das Fell eines... Bären.
Sie wollte es nicht, wirklich nicht. Doch ging sie auf Wanderschaft.
Das Haar war kurz und schützte seinen Mund. Sollte Turid darüber lächeln oder weinen? Küsste man nicht Menschen, die man liebte? Aber sie wusste nicht, wie man es machte. Ob man nur die Münder aneinanderdrückte und sich in den Armen hielt, oder ob man sich bewegte wie bei der Sache. Sie wusste gar nichts.
Ein Biss auf ihre Lippe später und ihre Finger hatten sich zögerlich von ihm gelöst. Sie schwebten in der Luft, ziemlich lange sogar. Irgendwann fanden sie zart wie ein Schmetterling den Kontakt zu seiner Stirn, wo die weiche Haut seiner Lider sie willkommen hießen. Sie spürte Augenbrauen, eine Nasenwurzel, Wangenknochen. So wie jeder andere Mensch auch.
Jetzt weinte Turid doch. Schließlich war es finster, schwarz, sodass auch die Berührung nur ein vages Bild von ihm erschuf. Beowulf konnte alles und niemand sein.
Später gesellte sich eine zweite Hand dazu, ergriff seinen Schopf, während die erste über sein Kinn zur anderen Seite seines Halses fuhr. Die gemeinsame Bewegung floss zusammen wie Wein, und als sich ihre Handgelenke berührten, fing sie von vorne an. Sie spürte, strich und streichelte, süchtig nach dem, was ihn zum Menschen machte.
Irgendwann war die Reise vorbei. Krieger, erst recht die wilden aus dem Norden, trugen eine lange Mähne zur Schau, die ihnen über die Schultern fiel wie bei einem Löwen. Beowulf hatte selbst gesagt, dass er ein Mann des Waldes gewesen war. Doch sein Haar war kaum schulterlang. Kalt, ja. Voll, auch. Turid liebte es.
Sie bettete seinen Kopf in ihren Schoß und hielt ihn dort, eine Hand auf seiner Stirn, unter dem Herzen ein Gefühl von Zufriedenheit zum ersten Mal seit dem Tag, als sie noch ein Kind gewesen war.
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