Kapitel 58. Schwerkraft

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Turid zögerte nicht, als sich der Schall der öffnenden Wölbung über ihren Haaren kräuselte und klar war, dass ihr Fuß im nächsten Moment keinen Boden mehr unter der Sohle haben würde. Beim Aufprall unterhalb der Ebene knackten drohend ihre Knochen. Einen Schmerzenslaut erlaubte sie sich, bevor sie sich auf die Beine zog und dabei die gezackten Spuren ihrer Fingernägel auf dem Felsen zurückließ.

Einen Moment lang fürchtete sie, die Welt habe sich auch in ihrem verhassten Zuhause auf den Kopf gestellt – Hadubrand, ein Steinschlag oder göttliche Verwüstung. Aber das Trümmerfeld lag starr im Dunkeln wie ein gefrorener See.

Ihre tastenden Hände fanden die Wolldecke auf Anhieb. In ihrem Rausch hatte Turid sie vor die Steinplatte geworfen, als hätte sie tausend Dinge einzusammeln gehabt, im Begriff, ihre kratzige treue Begleiterin mit auf die Reise zu nehmen – und sie nie wieder aufgenommen. Auch das, dachte sie, wäre hier von mir übrig geblieben.

Kurz dachte sie an die Kleiderbündel, dann schüttelte sie den Kopf. Zu schwer und keine Zeit, alles Nützliche auszusortieren.

Etwas berührte ihr Knie. Flüchtig streifte sie die Zacke des Felsens, der sich nun an ihr Bein zu schmiegen schien wie ein Hund. Ansonsten sah sie nicht zurück. Viel zu mächtig ragte die Ebene vor ihr auf, spöttisch sogar, weil der kleine Mensch am Boden kaum eine Minute zuvor gar so schnell heruntergerutscht war und sich nun anschickte, gegen die Schwerkraft zu kämpfen.

Mit so viel Schwung, wie ihr zerstörtes Bein es zuließ, nahm Turid Anlauf und sprang den schrägen Felsen hinauf. Die rechte, verkrüppelte Hand konnte keine Unebenheit ergreifen, wohl aber die linke: Mit mehr Kraft, als sie es ihnen zugetraut hatte, klammerten sich die Finger an den Vorsprung. Turids Unterarm fing an zu brennen, sowie sie die Muskeln anspannte.

Sie keuchte schmerzlich unter dem Feuer in ihren Rippen. Da stieß ihre freie Hand auf etwas, das nachgab, doch die Fliehkraft riss den Arm davon fort. Für einige Sekunden baumelte die Hand in der Finsternis herum, dann bekam sie es wieder zu fassen.

Es war ein zäher Fleischfetzen, einbalsamiert in Staub und Kiesel, sodass er ihr schier wieder entglitt. Ein Teil von ihr hoffte auf genau das; federleicht lag das Gewicht in ihrer Handfläche. Turid zögerte noch, eher sie ihn in der Ausbuchtung ihres Hosenbundes verstaute. Dann sogar stemmte sie die Füße gegen eine Zacke und griff, sobald sie sicheren Halt hatte, wieder ins Leere. Noch ein Fleischstreifen gesellte sich zum andern. Und noch ein weiterer. Der vierte schlitterte an ihren Fingern vorbei in die Tiefe.

Später wusste sie nicht mehr, wie es ihr gelungen war, sich unter der Last ihrer Fundstücke und ihren alten wie neuen Knochenbrüchen über die Kante zu schieben. Aber sie lag oben und es war noch nicht zu Ende.

Warum tust du das?, fragte sie sich, als sie bäuchlings vornübergebeugt noch einmal nach unten tastete und wertvolle Zeit opferte, um den Rest vom Eroberer vom Felsen zu klauben. Allein der schwache Geruch nach ranzigem Fett schrie danach, das Fleisch zurückzulassen und für immer zu vergessen. Doch wenn Turid eines gelernt hatte, dann war es, dass es in der Finsternis keine Gnade gab – erst recht nicht in ihrem dunkelsten Loch, dort, wo sie bald sein würden.

Sie trabte keuchend den Gang hinauf und schlüpfte geschickt durch den Spalt.

„Also hör zu", sagte Turid mit glühenden Wangen. Das Fleisch hatte sie in die Decke geschlagen und wie einen Sack über die Schulter gelegt; das Bündel fiel nun dumpf zu Boden. Beowulf antwortete ihr nicht.

„Verdammt!"

Sie rüttelte an seinen Beinen – nichts. Er atmete ruhig. Schlag für Schlag seines Herzens wartete sie, obwohl ihr das eigene noch bis in die Kehle hinaufklopfte, als sie längst nicht mehr außer Atem war. Immerhin konnte Hadubrand ungeduldig werden, jederzeit, auch wenn Beowulf das abstritt. Sie würde das Tier nicht einmal hören, wenn es in diesem Moment hinter ihr stand.

Beowulf, der in den letzten Stunden immer wieder um das Bewusstsein gerungen hatte wie ein flackerndes Licht, regte sich nicht mehr. Turid raufte sich die Haare. Sie brauchte doch seine Augen für ihren Plan!

„Beowulf, bitte. Bitte, ich bitte dich. Wir haben nicht viel Zeit." Ihr Flehen half nichts. Er war ins Reich der Träume hinabgestiegen und in seinem Zustand war das wohl das beste für ihn. „Dass du mir bloß wieder aufwachst", sagte sie leise.

Als ihr Echo verklungen war, erwischte sie die Erkenntnis wie eine Windbö. Sie war allein.

Ganz allein.

Der Wunsch, das Vaterunser zu beten, blieb aus. Nie, nicht zuvor oder je wieder danach, war Turid so deutlich wie in diesem Moment bewusst, dass die Existenz Gottes eine Lüge war. Sie fühlte ihn nicht bei sich, die Luft war leer. Die Finsternis war leer. Die Welt selbst, ihr Herz, war leer. Hohl und dunkel und schmerzhaft wie die Trauer eines Kindes, das eine falsche Nuss öffnet und sieht, dass die Schale nichts verborgen hat.

Turids Miene war bitter. „Du hättest mir mehr von deinen Göttern erzählen sollen", sagte sie zu Beowulf, „wenigstens sind sie wild und stark." Dass sie selbst genau das nicht war, merkte sie, als sie eine Hand vorsichtig unter seine Brust schob und nicht ihn auch nur einen Fingerbreit anheben konnte. Tränen traten ihr in die Augen, als seine Last den Schmerz in ihren Rippen unerträglich werden ließ.

Mit fest aufeinandergepressten Lippen kniete sie sich an seine Seite und zog den Dolch.

Auf sein Augenlicht konnte sie bei der Reise durch die Finsternis verzichten, denn wenn ihr ihre Blindheit nicht zum Verhängnis wurde, dann etwas anderes.

Mit diesem Wissen einen Mord begehen und noch einsamer werden, auf dass tausende Fuß Gestein sie von der nächsten Menschenseele trennte? Eher wollte sie sterben.

Sie hatte sich bereits entschieden und das sogar vor seinen Augen. Im Jenseits zu erwachen und festzustellen, dass sie ihre Meinung geändert hatte, würde ihm das Herz brechen. So etwas konnte sie ihm nicht antun. Keinem Menschen. Es bleibt dabei, dachte sie, wir beide oder keiner.

Die Weigerung der Wolldecke, sich an seiner statt durchbohren zu lassen, überraschte sie. Keinen sauberen Streifen brachte Turid zustande, sondern ein zerfetztes Etwas und das auch noch nach einem Gezerre, als wolle sie ein Tier ausweiden. Nichtsdestotrotz wickelte sie Beowulf – mit fest zusammengekniffenen Lidern und abgewandtem Gesicht – den Stoff in größter Eile wieder und wieder um Schultern, Bauch und Arm und bemühte sich, die fast abgetrennte Hand sicher zu verstauen. Immer häufiger verspürte sie dabei das Bedürfnis, sich über die Schulter zu schauen; jede Minute konnte Hadubrand sich zur Umkehr entschließen. Doch sie hörte erst auf, als Beowulfs Oberkörper eingesponnen war wie eine Larve. Im Nu sog die Wolle sich voll mit Blut.

Von der Decke war gerade noch so viel übrig, dass es für die Fleischstreifen reichte und Turid knotete sie hastig zu.

Vor dem nächsten Schritt hielt sie wieder inne. Das eine war leicht – sich den breiten Männergürtel von der Taille schnallen, um Beowulfs Fußgelenk binden und das andere Ende fest mit den Fingern umschließen. Er hatte mehr als zwei Mal um ihre Hüften gepasst.

Aber etwas fehlte. Ihre Finger fingen zu zittern an.

Mich trifft keine Schuld, dachte sie und wusste, dass sie da mit ihrem Vater sprach. Beowulf mit so wenigen Berührungen wie möglich die Schnalle zu öffnen und den Gürtel aus den Schlaufen zu fädeln, fühlte sich dennoch schrecklich an. Und bemerkenswert – nah. Da litten dann wohl doch Sitte und Tugend. Wen scherte es?

Nicht ohne einen erleichterten Seufzer rappelte sie sich auf – brachte etwas mehr Abstand zwischen sich und den Bewusstlosen als nötig – und befühlte das Leder.

Die beiden Gürtel waren beinah gleich lang. Den seinen schlang sie ihm ohne Umschweife um den anderen Stiefel, schulterte beide Enden und das Wollbündel und zog.

Es war hart. Nie in ihrem Leben hatte sie eine solche Arbeit verrichtet und ihr Körper wehrte sich dagegen, mit jedem Knochen und jedem Muskel. Turid jaulte durch ihre zusammengebissenen Zähne. Ihr geschundener Brustkorb stemmte sich gegen die primitiven Zugleinen wie der Rumpf eines Ochsen; sie stampfte auf, stieß einen Schmerzensschrei aus, warf sich nach vorn, bis sie Sterne sah und dann gab ihre Last nach. Sanft glitt Beowulfs Kleidung durch die Blutlache. Es war ein tröstendes Geräusch.

Weiter, Schritt um Schritt. Zu langsam! Turid knurrte und packte das Leder fester.

Kurz vor dem Spalt wurde das Blut trocken und das Schleifen rau. Halb unter ihm begraben zerrte sie in wildem Frust an seinen Stiefeln, kletterte dann um ihn herum und stieß in die Wolle zwischen seinen Schulterblättern. Blut mischte sich mit Kieseln, Schweiß und Staub. Irgendwann wusste sie nicht mehr, ob die Gliedmaßen zwischen den Felszacken zu ihr oder zu ihm gehörten; sie hoffte nur bei jeder Bewegung, dass sie ihn nicht im Innern verletzte und ihm damit den Rest gab.

All die Zeit blieb er still wie jene Puppe, die er in ihren Augen war, seit er sie verraten hatte. Weiterhin klopfte sein Herz. „Wenn du das überstehst, endet die Suche nach dem ewigen Leben bei Hadubrand", krächzte sie. Dass die Unsterblichkeit nicht billig war, das wusste jeder Quacksalber, aber oh, was für einen Preis man tatsächlich bezahlte.

Turid war, als sögen die Winde sie das letzte Stückchen hinaus. Und obwohl kein Blut Beowulfs schweren Leib über den Boden gleiten ließ, ja der Graben sogar mit faust- und schädelgroßen Brocken übersäht war, schien es jetzt leichter zu gehen. Sie hoffte nur, dass die Schlucht sich wirklich mit all den Windungen nach oben schlängelte, wie sie es in Erinnerung hatte. Sonst hätte ein eben absteigender Hadubrand sie womöglich noch in der Ferne erspähen können.

Doch das Ungeheuer kam nicht. Im Dröhnen des Sturmes blieb Turid nur das Leder in den Handflächen als Verbindung zu Beowulf; sie spürte dann und wann, dass die regungslose Gestalt in den Steinen hängen geblieben war und eilte zurück, um ihn zu befreien.

Die letzten Schritte schaffte sie nicht mehr zu Fuß. Nicht aus Erschöpfung, sondern weil ihre Knie zu sehr zitterten: Allein das verräterische Flattern ihrer Haare, die der Wind so nah an der Kante fast senkrecht nach oben schleuderte, trennten sie vom Abgrund.

Dem Seil sollte es wohl ebenso ergehen, so verbissen, wie die Luft es gepackt hatte. Als Turid über den Felsen griff, donnerte es mit einem brennenden Schmerz gegen ihren Handrücken, bevor sie es zu greifen bekam.

So weit, so gut. Wäre sie nicht umgekehrt und somit allein gewesen, hätte sie es losgebunden und ein Ende in Hadubrands Fängen gefunden. Jetzt vergewisserte sie sich, dass es so fest saß wie damals, als Beowulf mit dem frechen Beweis seiner Treue ihr Herz zum Stillstand gebracht hatte.

Sie schlang es ihm um die Schultern und unter den Achseln hindurch. Sein blutiges Hemd war in den pfeifenden Wirbeln längst erkaltet und da sie sein Herz unter dem Lärm nicht hören konnte, fühlte er sich an wie tot.

Da spürte Turid eine Erschütterung und ihre Glieder gefroren zu Eis.

Vielleicht war es ein mächtiger Felsen, der – von leisen Pfoten angestoßen – den Graben hinabdonnerte. Vielleicht war es das Vibrieren eines tiefen Brüllens, das der Sturm überdeckte. Vielleicht war es auch ein Drumm.

Turid hatte sich nicht langsam, aber doch vorsichtig hinablassen wollen, ganz so, wie es sich ihren und seinen Verletzungen geziemte. So oft das Seil mit all seinen Knoten kontrollieren wollen, wie das Prickeln in ihrem Nacken erlaubte. All das, solange sie sich einreden konnte: Hadubrand ist noch nicht da.

Mit diesem Grollen war alles vorbei. Sie packte Beowulf am Hemdkragen, überließ seinen Körper der Schwerkraft und folgte ihm mit einem Sprung in die gähnende Leere.

Der Ruck, als das Seil seinem Fall jäh ein Ende setzte, ging ihr von den Zehen bis zum Haaransatz. Das Bündel schleuderte es ihr aus der Hand, Fleisch- und Wollfetzen verschwanden im Nichts. Turid flog durch die Luft, knallte gegen die Felswand, hörte für einen Moment kein Dröhnen mehr, sondern nur noch ein hohes, ekelerregendes Piepsen. Sterne tanzten vor ihren Augen.

Dann kam die Wirklichkeit zurück. Das Seil hatte sie nicht losgelassen und der straffe Zug verriet ihr, dass auch der Knoten um Beowulfs Brust gehalten hatte. Er konnte sich alle Wirbel gebrochen haben oder das Genick. Aber Turid – Turid, über dem Abgrund baumelnd wie eine Hexe am Galgen, mit blutenden Händen und grausamen Qualen im Leib, lebte.

Der Schmerz überdeckte alles, sogar die Luftnot. Sie konnte sich erst wieder erinnern, wie man atmete, als es beinahe zu spät war.

Dann sah sie nach unten, wo die Sterne noch wilder funkelten. Die Schwärze drehte sich. Im nächsten Moment war alles, woran sie denken konnte, Hadubrand, und sie ließ sich mit einem Schrei hinabgleiten, runterwärts in die geöffneten Fänge der Dunkelheit, doch nur weg vom Tier, das über den Abgrund lugte – bevor es zu spät war –

Nichts passierte. Ihre Haare hüpften im Wind, während ihr Herz mit jeder Sekunde mehr Macht über sich selbst gewann, bis es nur noch ab und zu einen Hüpfer tat. Scham kroch der kleinen Gestalt, die an einem uralten Seil weit über einer Klippe hing, den Rücken hinauf. Und dann gewaltige Angst, dass sie später vom anderen Ende einen Leichnam bergen würde und das nur, weil sie in der Panik schwach geworden war.

Als Turids Hand ihr wieder gehorchte, hörte der sichere Halt nahtlos auf zu existieren. Der Fall kam so schnell, dass sie nicht einmal merkte, wie die Winde sie auffingen, um dem tödlichen Sturz ein Schnippchen zu schlagen. Das Ende des Seils rauschte an ihr vorbei, der Knoten fehlte – von der Schwerkraft erobert, vielleicht. Vielleicht aber auch von Zähnen durchtrennt, die scharf waren wie Säbel. 

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