Kapitel 55. Amen

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Der Sturm spülte den Geruch von Tod und Feigheit aus ihren Kleidern. So muss es sich anfühlen, wenn man in den Himmel fährt, dachte sie, wo das Gute einen frisch und kühl von der Sünde reinwäscht, bis man neu geboren und bereit ist für die Unsterblichkeit.

Und eine Sünderin war sie, denn die Flucht hatte sie gebrandmarkt. So sah sie sich im Gewissen und so würde sie sich von nun an immer sehen, das versicherte ihr schon der erste Windhauch auf ihrer Wange. Für jedes Stolpern in die wilde Schwärze tickte eine weitere Sekunde der Hölle für ihn, schuf Zeit für noch einen seiner Schmerzensschreie und Raum für einen neuen Blutstropfen aus seinen Adern. Blind und taub für das Gemetzel jenseits des Spaltes stellte sie sich vor, wie es den spiegelglatten Stein fröhlich mit Röte besprenkelte und dann als langsames Rinnsal aus nie versiegendem Nachschub seine klebrige Reise begann, die braungetrocknet im toten Blut der Fremden ihr Ende fand. Turid schrie. Der Wind wischte ihre Tränen fort und sie war... frei.

Es betäubte allen Schmerz, sowohl den über seinen Hinterhalt als auch den über seine Aufopferung. Turid bemerkte nicht, dass sie erschauderte, als die Luft das Leid von ihren Schultern löste und davontrug. Sie stand nur dort im Graben zwischen dem langen Weg hinauf und dem schrecklich kurzen Weg hinunter und gab dem Drang endlich nach. Einen winzigen Moment lang sollte sie das Gefühl von Schwerelosigkeit genießen.

Dies war das Hier und jetzt, dies war tatsächlich – wahr. Ein Jauchzen entfuhr ihren Lippen. Sie konnte gehen, wohin sie wollte, auch wenn sie jetzt nicht einmal fähig schien, an ihren nächsten Schritt zu denken. Sie konnte wagen, von einem Sonnenstrahl zu träumen, auch wenn die Finsternis so viele Wege bereithielt, sie nicht zu überleben. Natürlich trennte sie von Hadubrand nur ein Sprung seiner Tatzen oder vielleicht zwei. Und doch wäre sie lange fort, wenn er die Verfolgung aufnahm: Weil das Labyrinth mit seinen Ritzen und Winkeln und niedrigen Pfaden gegen ihn spielte, so wie Turid auch durch den Spalt hinter ihr geschlüpft war wie die Maus auf der Flucht vor der Katze. Und, weil Beowulf ihr ein Geschenk gemacht hatte, für das sie ihn liebte, auch wenn sie ihn hassen wollte – Zeit.

Turid unterbrach ihren Kampf mit den flatternden Kleidern und dreht sich um, starrte zum Spalt, der dort als kleines Tor zwischen zerklüfteten Felsen ruhte. Einmal hingesehen, konnte sie ihren blinden Blick nicht mehr davon trennen. Rückwärts, fast widerwillig, ging sie nun dem Steilhang entgegen. Ihr war klar und gleichzeitig völlig egal, dass ein verkrüppelter Körper gegen den Graben machtlos war.

Er hat es so gewollt, sagte sie sich immer wieder, er wollte den Tausch ihrer Leben. Aber das stimmte nicht: Höchstens eine vage Erwägung konnte er für Beowulf gewesen sein, die schlimmste aller Möglichkeiten. Warum hast du es dann getan?, bat sie das Tosen um Antwort. Hast du wirklich erwartet, dass das Monster sich in Ehrfurcht vor der Reinheit deiner Seele verbeugt?

Schluchzend riss Turid sich los und taumelte, bis ihre tastenden Hände den Weg zum Geröll fanden. Ihre Muskeln arbeiteten wie eine Maschine, die gegen ihre Herrin rebelliert und der Wille war ihr stumpfer Verbündeter: Er hatte keinen einzigen Gedanken übrig für das rohe Fleisch an ihren Beinen oder die blutende Nase; lediglich ihr Oberkörper knarzte hässlich, als sie im Schutt den Halt verlor, bevor sie auch nur den zweiten Fuß vom Boden gehoben hatte. Unten wartete die drohende Hand einer Trümmerzacke auf sie.

Eine Drehung, ein Aufprall. Der tonlose Knall ihres Schädels auf Stein war der Startschuss für den geduldig lauernden Schmerz, ihr aus dem Rückgrat zu rauschen; seine unerbittliche Vielfalt war alles, was Turid für die Erkenntnis brauchte, dass sie sich irgendwann in diesem Albtraum Knochen gebrochen haben musste. Ein Krachen hallte ihr als fernes Echo durch die Ohren, aber es stammte nicht von ihren eigenen – Beowulfs Rippen waren es, die sie splittern hörte.

Turid bäumte sich auf, dann schloss sie die Augen und sank zurück. Minutenlang bewegte sie sich nicht. Während ihre Ohren allmählich zu dröhnen begannen, schüttelte sie die Fesseln der Bestürzung ab. Klar denken, beschwor sie sich. Nach einer Weile spürte sie ihr Gewissen dumpfer pochen, dafür schärfte sich ihr Verstand und brachte die Erkenntnis mit, dass Beowulfs Opfer nicht umsonst gewesen war. Nein, diesmal nicht – wenn sie sich klug anstellte, konnte sie die Flucht wirklich schaffen. Wie von selbst drehte sie den Kopf hin und her und blieb schließlich in Richtung des Abgrundes hängen, auf der Stirn die Falten tiefen Denkens und der Wunsch, sich die flache Hand ins Gesicht zu schlagen.

Dort hatten sie das Seil zurückgelassen. Es baumelte sicher noch immer im Wind.

Turid aber unterdrückte den Drang, aufzuspringen und es loszubinden – weder es noch der Schlund liefen ihr davon.

Stattdessen faltete sie unter dem Brausen des Sturmes die Hände zum Gebet. Die kleine Ruhepause ihres Geistes schuf einen hellen Raum mitten im Chaos um sie herum, sodass sich eine sanfte Stimme bilden und zu ihr sprechen konnte. Ihr Klang hatte keine Ähnlichkeit mit dem Singsang eines Priesters, in dem sie sich immer Christus' Predigten vorgestellt hatte. Eher erinnerte der Ton sie an die raue Überlegenheit ihres Vaters. Da trat ihr Traum wieder aus dem Dunkel. Als sie sich erinnerte, wie sie ihren Vater für Beowulf gehalten hatte oder, noch schlimmer, ihr schlafendes Ich die beiden Männer hatte verschmelzen lassen, kniff sie die Augen zusammen. Warum kehrst du nicht um?, sagte die Stimme.

„Verrat", murmelte sie und hörte sich selbst nicht richtig zu. Dank, dass er sein Leben für das ihre gegeben hatte, ja. Die Vorwürfe, dass sie ihm den Dienst nicht erwidert hatte, das auch. Dann die Lügen und die Feigheit und die falsche Geborgenheit inmitten dieser schrecklichen Pläne, an die sie nicht einmal denken wollte: Schlachtung. Selbst jetzt, da niemand es besser wusste als sie, fiel es ihr schwer, die Grausamkeit beim Namen zu nennen.

Doch der Traum ließ sich nicht abschütteln, obwohl ihre Augen noch schmerzten. Spiegelnde Klarheit hatten die Umrisse der Gestalten, die ihr wieder ins Gedächtnis traten, wie auch die Umrisse ihrer Ebenbilder im rauschenden Wasser. Ihr fiel ein, dass die Wellen hübsch und bläulich geglänzt hatten; gar so anders als das stahlgraue Schimmern der Schwerter, die ihr Vater und der Eroberer gegeneinander schwangen. In ihren Schatten Beowulf, der ihr unter dem Baldachin der Grotte ernst entgegenblickte.

Warte noch, schien sein verwischtes Gesicht zu sagen. Es war nicht diese eigentümliche Botschaft, die sie mehr als träumerisches Irrlicht sah denn als göttliche Erscheinung. Nein, was sie so faszinierte, war viel ursprünglicher: Die gerade Linie zwischen Beowulfs Augen und ihren.

Was gäbe ich dafür, dies einmal zu sehen, dachte sie und  fühlte wieder die Tränen auf ihren Wangen fließen. Immer deutlicher meinte sie auch zu spüren, wie etwas sie daran hindern wollte, das Zentrum des Sturmes zu verlassen. Warum sonst war sie nicht schon längst entflohen?

Geh, beschwor sie sich, geh, geh, er ist tot. Da ist jetzt mehr zwischen euch als nur ein paar Fuß Stein; er ist durch eine Tür getreten, die die Sterblichen nicht öffnen können. Seine Gliedmaßen sind ihm vielleicht nicht mehr am Leibe. Sein Herz schlägt nicht mehr. Wer weiß, ob er blicklos in die Finsternis starrt oder ob er überhaupt noch Augen hat und nicht zwei blutige Höhlen, wie es um ein Haar mit mir passiert wäre.

Wer weiß, ob er je Augen gehabt hat.

Fast durchpeitschte die Fallwinde noch einmal der Laut, mit dem Hadubrand ihm das Fleisch von den Knochen gerissen hatte. So jäh war seine blühende Kraft vernichtet! Zurück blieb nur ihr Herz, das nach Abschied schrie.

Von mir sagten sie immer, er sei ohne sie geboren und werde ohne sie sterben und ich glaubte es, hörte sie seine Stimme flüstern. Ein Ende ohne Nähe schien immer Gottes Plan für den Bärenmenschen gewesen zu sein.

Und der ihre? Durch das Opfer anderer Männer den Fängen eines Ungeheuers zu entkommen, so war es. Beim ersten Mal ein Unbekannter. Beim zweiten Mal ihr Todfeind. Beim dritten Mal Beowulf.

Da wusste sie, dass sie ihm eine letzte Ehre erweisen musste.


Turid verharrte lange im Spalt, für Stunden vielleicht. Das schwache Pfeifen ihrer Lunge und die Steine, Dolche in ihren Rippen, waren ihr einziger Beistand. Sie lauschte – niemand garantierte ihr, dass Hadubrand nicht auf leisen Pfoten durch das Dunkel streifte. Sie fühlte – der gemächliche Luftstrom hüllte sich in Schweigen. Sie schnupperte – das Blut ertränkte die Luft.

Sie hob und senkte den Brustkorb, langsam. Die Kammer schien schwüler zu sein als sonst, geschwängert nicht nur vom Atem des Todes, sondern auch von einem Hauch, der für Turid der Duft der Tragödie war. Ihr fiel auf, dass sie zitterte – mit jedem Fingerbreit mehr, den sie sich vom Schutz der Winde entfernte. Der raue Felsen bedeckte ihre Haut mit Staub.

Noch immer zögerte sie. Ihre Augen huschten in die Höhe, nichts regte sich.

Turid vergrub das Gesicht in den Händen. Wozu das alles? Hadubrand war satt. Sie brauchte auch nicht zu fürchten, dass ihr Tod nur vertagt war. Denn wer seinen Handlanger frisst, kann die Beute nicht mehr gefangen halten, dachte sie – und trat ein.

Die Kammer reagierte nicht.

Grabesstille hatte sich über die Finsternis gelegt. Es war, als hackte ihr Herzklopfen eine Wunde in den Totenfrieden, so fremd und brutal schallten sie durch dieses ruhende Heiligtum; genug für eine Kriegserklärung seiner Götter allemal, fand sie. Vielleicht war es ja wirklich so und Beowulfs Geist legte in diesem Moment ein gutes Wort für sie ein.

Von Hadubrand keine Spur. Turid indes war bereit. Bei jedem Schritt, wenn sie die Luft zwischen Sohle und Steinboden zerquetschte, fragte sie sich, ob dies der erste in die Blutlache sein würde. Als es schließlich so weit war, schreckte sie nicht zurück. Dennoch war in derselben Sekunde ein Entschluss gefasst: Sollte mehr als das hier auf sie warten, ein zerfranster Leichnam vielleicht oder nur Fetzen und Splitter wie Muscheln im Sand, so würde sie nicht danach suchen.

Es war warm und beinah noch lebendig unter ihren Zehen. Wie groß der Drang tatsächlich war, die Schuhe auszuziehen und dieses Echo eines pulsierenden Herzens als letzten Gruß mitzunehmen, erfüllte sie mit Übelkeit und Scham.

Noch falscher schien ihr, was sie nun tat, aber sie wusste nicht, was sonst tun als Zeugin vom hilflosen Ende eines Menschenlebens. Turid öffnete den Mund, hob das Kinn zu einer salbungsvollen Rede, ihre Stimmbänder standen bereits unter Spannung – da riss sie die Worte im letzten Moment zurück und geleitete sie ganz anders hinaus, klangvoll und zart.

Ave Maria

Gratia plena

Dominus tecum

Benedicta tui in mulieribus

et benedictus fructus ventris tui, Iesus.

Santa Maria Mater Dei

ora pro nobis pecatoribus

nunc et in hora mortis nostrae, 

sang sie. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder... jetzt und in der Stunde unseres Todes.

Turid senkte den Blick, als ihre bebende Unterlippe versagte. Nur eine mühelose Vereinigung zweier Geräusche musste sie herausbringen, doch sie fühlte sich erstickt. Niedergerungen vom intimsten Wort, das im Menschsein verwurzelt war, die finalen Silben im Gespräch mit Gott. Dabei war ihr Gott nicht einmal der seine.

Als ihr die letzte Erinnerung eines lange vergangenen Tages wie ein Windstoß vor die Sinne trat, nämlich als ihr gewahr wurde, dass dies das erste Wort gewesen war, das Beowulf zu ihr gesagt hatte, da sackten ihre Schultern zusammen und Turid wurde ganz klein, ihre Beine nur einen Augenblick davon entfernt, sich zu vergessen.

Der Weltschmerz blieb aus. Ich liebe dich, hatte sie gesagt, doch Liebe war flüchtige Leidenschaft. Vielleicht hätte sie sagen sollen: Mein Herz ist mit dir.

Die Schwere drückte sie nieder, bezwang sie, wurde zur Gewalt. Turid war zu schwach, um sie beide zu tragen, dazu kam ein Schrecken, der ihren Puls gefährlich lang zum Stillstand brachte. Weder den Ruck noch die Berührung hatte sie gespürt. Noch lange später würde sie sich fragen, wie dies hatte möglich sein können, aber so war es.

Beowulf krallte sich in ihren Nacken und tränkte ihr Haar, ihr Hemd, ihr Gesicht – alles, es lief ihr hinunter bis zu den Fersen – in die Hitze seines Blutes. „Sag es", flehte er, da wollte sie wie Schlag auf Schlag erwidern, was sie gedacht hatte: Mein Herz ist...? Bis sie verstand, dass er dem Ende ihres Gebets entgegeneiferte, damit er sterben konnte.

Turid ließ den Hauch aus seiner Kehle zur Ruhe kommen. Sie starrte ihn an. Sie sagte das Wort, bevor sie unter dem Gewicht einknickte und zu Boden stürzte. 

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