Kapitel 52. Engel

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„Turid", raunte er. „Turid, komm."

Die Finsternis fesselte Turids Pupillen. Ihre Augen waren blicklos, der Schlaf hatte ihnen jeden Ausdruck gestohlen. Nur die leicht geöffneten Lippen brachten Spiel in ihre Mimik, denn sie machten ihr die Brauen zu zwei befremdeten Strichen auf dem Gesicht.

Wortlos ergriff sie Beowulfs Finger auf ihrer Brust, doch die kühle Haut ließ ihr Herz für einen Schlag aussetzen „Wo ist die Wärme hin?", klagte sie benommen. Seine Hand fühlte sich an wie die eines Fremden, gar nicht wie jene, die sie beim Einschlafen in der ihren gehalten hatte. Es schien kein Blut in seinen Adern zu sein. Turids zarte Geste wich einer zögerlichen.

„Wärme?" Beowulf wich zurück. „Hast du geträumt? Hier gibt es keine Wärme."

Sie starrte an die Decke und versuchte die Bilder des Schlafes zurückzuholen, aber sie waren fortgewischt. Verschwunden hinter einem dunklen Vorhang. „Ich – nicht so wichtig", sagte sie leise und schüttelte den Kopf.

Sie spürte noch immer den Druck auf ihrem Brustbein. Seine Hand hatte ihren Platz nicht verlassen. Vor einigen Sekunden, als sie noch das starke Gefühl gehabt hatte, widerwillig berührt worden zu sein – denn Beowulfs Hand hatte gezittert, das tat sie noch jetzt – da war sie für Turid nur ein Gewicht gewesen, nicht anders als ihre Wolldecke. Zurückgeblieben war nur die schläfrige Verwunderung, warum er so sehr vor einer Nähe scheute, die sie sich nur Stunden zuvor hart und siegreich erkämpft hatten. Doch mit jeder Pause, die zwischen seinen Atemzügen länger wurde als die letzte, bohrte sich eine Angst in ihre Haut, die die Verbindung zwischen ihnen zu einem Schreckgespenst werden ließ. Weil dieser Druck mit einem anderen verschmolz, der durch ihre Erinnerungen an die Oberfläche trat: Harte Griffe einer lange zurückliegenden Gewalt. Eine Wunde so frisch, dass sie noch immer davon träumte.

„Beowulf", wimmerte sie gequälter als beabsichtigt. Dabei rutschte sie kaum merklich gegen die Felswand. „Du tust mir weh."

Sofort ließ er sie los, keuchte, erbebte. „Nein", meinte sie schnell und tat einen tiefen Atemzug. „Ist schon gut. Halb so wild." Sie lächelte.

„Verzeih mir", sagte er. Der dumpfe Klang seiner Stimme schien es schwer zu haben, die kalte Luft zu durchdringen.

Trübe Worte, kalter Druck. Turid runzelte die Stirn. „Was ist mit dir?"

Er antwortete nicht. Es war der Moment, in dem sein Herzklopfen anschwoll wie ein Rinnsal zum Wasserfall. Sie blinzelte und fühlte aufkeimende Spannung in ihren Muskeln brennen, hörte, wie er die Luft pfeifend durch die zusammengebissenen Zähne sog und halb gehend, halb kriechend rückwärtstaumelte.

Ohne zu zögern, sprang sie auf die Füße und war hellwach, bevor sie richtig stand. „Ist Hadubrand wieder da?!"

Mit tödlicher Sicherheit starrte er sie jetzt an, sie wusste seine Augen auf ihr ruhen, da krächzte er „Ja" und ihr wurde klar, dass er in der kleinen Pause zwischen ihrer Frage und seiner Antwort genickt hatte. Er gab ihr, einer Blinden, ein stummes Zeichen? War Hadubrand so nah, dass Beowulf den Verstand verlor?

Den schrillen Instinktschrei in ihrem Innern brauchte es nicht, denn Turid schaltete schnell wie eine Maschine. Sie ließ die Decke fallen und hob die Hände, ganz langsam, wie zum Segen. „Alles wird gut", sagte sie sanft. Wie froh sie um das Poltern in seinen Brustkorb war, weil es ihre eigene Erregung hungrig verschlang und die Lüge hinter ihren Worten versteckte.

Er schluckte und rappelte sich auf – und wurde plötzlich sehr ruhig. Ein Murmeln entfloh seinen Lippen. Ungläubig erstarrte sie mitten in der Bewegung.

„Was?", fragte sie.

„Wir müssen gehen", flüsterte er.

„Gehen wohin?"

Wieder Stille. „Du weißt es. Gehen."

Turid schlang sich die Arme um die Brust, als hätte sich die Zeit verlangsamt. Er hatte eben gesagt...

„... was?!"

Der Frühling war fort. Die Kälte des Winters kehrte zurück und kroch Turid die Zehen hinauf, sie konnte sie durch die Schuhe spüren, sie griff mit ihren Klauen nach ihr. Auf einmal schien die ganze Höhle schal zu schmecken und kalkig, als hauchte sie mit stinkendem Atem, als schwitzte sie Gift aus ihren steinernen Poren.

Noch bevor Turid die Worte formte, kroch ihr die Angst den Rücken hinauf. Angst und... Verzückung. „Jetzt?", lachte sie. „Jetzt willst du gehen? Du willst – flüchten? Ist das die Flucht?"

Beowulf schnaubte tief ein und aus, pumpte so viel Luft in seine Lungen, dass er vor Schmerz und Schwindel taumelte. „Ja", sagte er und begann seinerseits zu lachen, in derselben Sekunde wurde er wieder grabesernst und beugte sich brüllend vornüber, als hätte ihm jemand ein Schwert in den Rücken gerammt.

Turids Kopf war blank – gewischt, poliert und geschliffen. Eine Weile lang verstand sie nichts, nicht einmal die gepeinigten Laute zu ihren Füßen. Da stieg ein Gefühl ihren Magen hinauf, nicht so, als müsse sie sich übergeben, aber doch ganz ähnlich.

Ihr Blick huschte über die Finsternis, zu einer Wand, zur anderen, und schließlich über die schräge Ebene. Ein Zittern fuhr ihr den Körper hinauf, als das Gefühl zu brodeln begann und sich teilte wie zwei heiße Ströme. Das eine war wilde Freude – das andere unfassbare Furcht.

Es zerriss ihr die Seele.

Da war nun Beowulf, der wie vom Blitz berührt erwachte und ihr das größte Geschenk machen wollte, das sie sich vorstellen konnte – fliehen, sie beide, gemeinsam!

Doch dann war da der Schmerz, Beowulfs Schmerz. Denn wenn sein Angebot sie traf wie ein Schlag ins Gesicht, in einem Moment, da Hadubrand auf dem Weg zu ihnen war, dann... es war ein tiefer, dunkler Verdacht, der nun wie eine Saat aus dem Garten des Teufels in ihr aufkeimte und einen Strudel am Rande ihres Sichtfeldes eröffnete, der sie in die Tiefe zu ziehen versprach.

Turids Lippen zogen sich zusammen und bildeten eine hohle Scheibe der Bestürzung inmitten einer aschfahlen Haut, die nun, durchsichtig wie Pergament, ein Netz aus blauen Adern zierte. Sie überlegte, was sie sagen sollte, wenn sie die Sprache wiederfand, tausend Worte, aber hinaus trat nur eines. „Nein." Die Stimme voll heiserem Verlangen und doch brüchig und schrill.

Beowulf sah auf, keuchte noch immer, als sei er stundenlang gerannt, aber sein Herz hatte er wieder im Griff. „Beruhige dich", sagte er scharf und klang plötzlich genau wie ihr Vater. Und als er mit den nächsten Worten seine Sanftheit wiedererlangte, war die Nachahmung perfekt. „Es ist nicht so, wie du glaubst."

Langsam erhob er sich und strich sich den Staub von den Hosen. Turid, die eben noch einen Schritt zurückgetreten war, starrte sprachlos in die Finsternis zu ihren Füßen, wo sie diese schrecklich vertrauten Töne vernommen hatte, dieselbe Stimmlage, dieselbe Sicherheit. Ein verwirrtes Blinzeln verriet sie an ihr Gegenüber, der aber nicht wusste, was er eben getan hatte und noch weniger, was er damit bewirken würde.

Er näherte sich ihr, wie man sich einem wilden Tier nähert; beide Körper stolz, neugierig und scheu. Die Finsternis war diejenige, die den trüben Glanz in Beowulfs Augen in ein Geheimnis hüllte, sodass Turid nur eine Gestalt vor sich hatte, dessen Laute und Bewegungen sich in derselben Sprache lesen ließen wie früher.

„Dann sag mir, was los ist", verlangte sie. Noch immer ragten die Härchen auf ihrer Haut steil und steif in die Höhe. Doch die Erregung prickelte in ihr wie eine Glut. Schrecklich bewusst wurde sie sich der Enge, die das trostlose Trümmerfeld aus allen vier Himmelsrichtungen in den Raum strahlte und sich auf Turid traf, Turid, die die Unterwelt seit über einem Jahr ertragen musste und dabei nicht einmal wusste, warum sie eigentlich eine Gefangene war. Sie beschwor eine Szene vor ihr inneres Auge, die mit jeder Sekunde, die Beowulf länger hier stand und wahrhaftig von Flucht sprach, mehr und mehr an Gestalt gewann: Sie auf einem Pfad ihrer eigenen Wahl. Sie auf dem Weg in Richtung Freiheit. Und dann: Sie im Tageslicht. Ein Ziehen fuhr ihr den Bauch hinab und traf sich zwischen ihren Beinen. Es fühlte sich an wie ein zarter Hunger, der sogleich wieder verglühte. An jedem anderen Tag hätte er sie in Staunen versetzt, aber jetzt war dieser Augenblick so wichtig.

„Sag es", bat sie mit flehentlicher Miene.

Beowulf blieb still.

„Sag es!"

Er knurrte. Stöhnte. Schluchzte. Bis ihr war, als rausche jedes Gefühl aus ihm heraus. Sag es. Verrate mir endlich das Geheimnis der Höhle. Ihre Finger krallten sich zusammen vor Erwartung. Aber er tat es nicht. „Als ich dir... die Geschichte erzählte", wisperte er stattdessen und brummte kraftlos, „da habe ich etwas in mir zerstört."

Turid schloss die Augen und begriff, dass sie verloren hatte. Stumm wappnete sich gegen das, was kommen würde, das Unvermeidliche: Ihr Verlangen verrauchte. „Ich weiß", sagte sie tonlos. War da so etwas wie Zorn gewesen, so war er tot. Zu tief lag der Ort, den er mit diesem einzigen Satz erwärmt hatte, in ihrem Körper. Genau wie einst, als er den Dolch in ihrer Hand an seine Brust gedrückt hatte.

„Tust du das wirklich?", erwiderte er. „Das glaube ich nicht. Turid, ich habe etwas zerbrochen. Für dich aufgebrochen. Auch wenn es dir vielleicht nicht bewusst war und du es niemals wissen wirst: Ich habe dir vertraut."

„Und glaubst du, ich dir nicht? Als ich dich Hand in Hand neben mir schlafen ließ?"

Die Luft, die er holte, war erst kalt und klar und dann warm und bitter, als sie in seinen Lungen ruhte. Turid konnte sie schmecken. Da tauchte sein Bild vor ihren Augen auf, ein schimmernder Mann zwischen den Lichtern der Ebbe und der Morgenröte und ihre Miene entspannte sich. „Jetzt willst du, dass ich dir vertraue", sagte sie.

Ihr Blick ruhte auf ihm, eisern. Aber die liebevoll verzerrten Züge legten ihm etwas offen, das er selbst am Rand der ihm bekannten Welt nicht zu finden geglaubt hätte. Unter dem milchigen Schleier seiner Sicht schrie etwas auf. Dann war es stumm. Wenn man einem Teil von seinem Inneren abschneiden kann, so hatte Beowulf das eben getan.

Unüberhörbar war das Knistern faltigen Stoffes, als er den Kopf hob und die Arme sinken ließ. „Das würdest du tun?", fragte er. „Einfach so?"

„Keine Fragen", erwiderte sie. Ein Zögern, ein Seufzen, und schließlich – ein Lächeln.

„Dann folgst du mir also", sagte er.

Turid nickte schwach. „Überallhin." Kurz verkniff sie den Mund zu einem Strich, der alles andere als Argwohn ausdrücken sollte und dennoch schaffte sie es nicht, ihn ganz zu verdecken. „Versprich mir, dass wir vor Hadubrand keine Angst haben müssen", fügte sie hinzu. Dumm war sie nicht, das musste er wissen. Der unheilvolle Zusammenhang zwischen dem Tier und seinem Leid und ihrem Aufbruch, ein Gemisch, dass ihr immer noch ein ekelerregendes Aroma auf die Zunge trieb, schwebte vor ihnen beiden greifbar in der Luft.

Sein Ehrenwort war tadellos, nicht zu früh und nicht zu spät gesagt. „Wir nicht." Er betonte diese kleine Silbe, die erste von zweien, atmete dabei ruhig und schließlich gar nicht mehr. Turid packte er der Rausch und hielt sie zu fest in der Hand, um sie es bemerken zu lassen.

„Du!", rief sie plötzlich. „Oh, du – " beim ersten Schritt nach vorne konnte sie gar nicht anders, als auf die Knie zu fallen, sich hin- und herzuwiegen und dann strahlend wie der Sonnenschein wieder aufzuspringen, „und ich dachte immer, du willst nicht oder du kannst nicht. Ich dachte, Hadubrand erlaubt es dir nicht." Sie faltete die Hände zum Gebet und sah ihm ernst in die Augen. „Es tut mir so leid. Was immer euch verbindet..." ein Schatten fiel ihr aufs Gesicht. Die christliche Geste erschien ihr mit einem Mal wie eine Beleidigung, sodass sie ihre verbliebenen Finger entwirrte und sich die Haare von den Wangen strich. „Wenn wir wirklich einen Ausgang finden, dann wirst du ihn doch zurücklassen müssen." Beowulf entdeckte Trauer in ihrer Stimme, die über die Anteilnahme hinausging, und er irrte sich nicht. Denn ganz kurz fühlte Turid wieder das warme Fell auf ihrer Haut und erkannte, dass nichts in der Welt Trost wie diesen würde ersetzen können.

„Deshalb danke ich dir", sagte sie leise. „Weißt du, was es heißt, wenn wir gehen?" Ein verschmitztes Grinsen wischte den Trübsinn fort. „So viel Hoffnung. So viel – Triumph. Hast du nicht selbst gesagt, dass ich gesiegt habe?" Sie lachte ihr herrliches Lachen. „Es heißt, dass ich leben kann. Endlich wieder."

Er betrachtete sie mit steinerner Miene. Sein Kopf folgte ihr, als sie um ihn herumrannte, sich dabei das Bein rieb, innehielt und zurückeilte, um die Wolldecke zu holen. Als Turid sie sich überwarf, flog der weiße Stoff durch die Luft und sie sah aus wie ein Engel.  

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