Kapitel 5. Die Regeln
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„Die Regeln", sagte er. Turid sagte nichts. Stundenlang hatte er sie in der Dunkelheit allein gelassen, bis ihr Mund vertrocknete und ihre Glieder steif wurden.
„Mein Wort gilt es, zu befolgen", sagte er. „Ja?"
„Ja", krächzte sie. Dem Schall nach zu urteilen, befand er sich weiter abseits von ihr, als sie erwartet hatte, im Rücken ihrer zusammengerollten Gestalt.
„Du wirst nicht versuchen, von hier zu verschwinden. Du weißt, was passieren kann."
„Ja", sagte sie. Sie berührte das alte Seil um ihr Fußgelenk. Irgendwann würde es sicher nachgeben, doch der Schrecken vor der Leere hatte sich tief in ihre Knochen gegraben. Vielleicht blieb er für immer. Wie eine hässliche Narbe.
„Du bekommst zu trinken", erklärte er, „wenn ich es will."
„Verstanden", sagte sie leise.
Eine Pause entstand.
„Ich lasse dich ungern hungern", gestand er. „Aber –"
So lagen also die Dinge. Es hätte Turid auch überrascht, wenn diese Höhle irgendetwas anderes als Kalk, Stein und Feuchtigkeit zu bieten hätte. Es gab nichts zu essen. Außer dich selbst, natürlich, dachte sie. Und was passierte jetzt? Ihre Reserven aus den Vorzügen des Fürstenlebens waren aufgebraucht. Wahrscheinlich hätte sie sich längst vor Hunger krümmen müssen, wenn nicht der Schmerz diese Aufgabe für sie übernommen hätte. „In ein paar Tagen ist es also vorbei", murmelte sie.
„Sei still", fuhr er sie an. „Was ich dir gebe, wirst du essen. Und du stellst keine Fragen darüber."
„Ohne zu fragen", wiederholte Turid.
„Halte dich sauber", sagte er. Sie nickte. Eine Ecke für diese Dinge. Um Reinlichkeit und Gerüche machte sie sich keine Sorgen, denn Wasser würde das Einzige sein, was sie zu sich nehmen würde. Sie wartete auf seine nächsten Anweisungen, aber es kam nichts mehr.
Stattdessen ertönten Schritte aus der Dunkelheit. Sie wurden leiser.
Turid setzte sich auf.
„Und?", rief sie ihm hinterer. Dachte er, sie würde sich damit zufriedengeben, weil die Unwissenheit ihre Angst linderte? Aber das reichte ihr nicht. Sie war sich sicher, dass er den Hass in ihrer Stimme hören konnte. Provozierte sie ihn damit? Nein, die Frage war eher: Scherte es sie, wenn es so war?
„Was?", fragte er.
„Ihr habt nicht bestimmt, wie ich mich verhalten soll", sagte sie.
„Habe ich."
Sie lachte. „Wenn Ihr zu mir kommt."
Es war ein kleiner Triumph für sie, ihn überlegen zu hören, denn es hieß, dass sie ihn mit ihrer Unverblümtheit in Verlegenheit gebracht hatte.
Eine Weile sah sie nur die altbekannte Finsternis und hörte die dumpfe Leere. Als sie bereits erwartete, nichts mehr von ihm zu hören, antwortete er ihr doch.
„Sag mir, wie", verlangte er.
War es ein Spiel für ihn?
Sie beugte sich vor und flüsterte. „Manche Männer haben stille Frauen gern", sagte sie, „es hilft ihnen, zu vergessen, dass der Körper unter ihnen jemand anderem gehört."
Er sagte nichts.
„Andere wiederum... sie wollen eine Vorstellung. Theater. Damen, die ihren Namen jauchzen und applaudieren, wenn sie fertig sind."
Beständiges Schweigen.
„Urteile selbst", forderte er sie auf.
Den Mund leicht geöffnet und den Arm über ihre Brust gelegt, um ihr Herz unter Kontrolle zu halten, blinzelte sie mit den Lidern ihrer nutzlosen Augen. Eine feige Stimme spielte in ihrem Innersten verrückt, was sie sich dabei gedacht hatte, dieses Thema anzusprechen. Eine andere blieb ruhig und nüchtern, es war der Teil von ihr, dem alles egal war, der mit ihrem Leben und der Oberwelt abgeschlossen hatte.
„Wie heißt Ihr?", fragte sie.
„Beowulf", sagte er. Ein alter Name. Wie lange mochte es zurückliegen, dass jemand ihm diesen Namen gegeben hatte? Als er als elegant und gefragt galt? Länger, als ein Mensch leben konnte, sicherlich.
„Etwas lang", sagte sie bitter, „aber es wird gehen."
Ohne ein weiteres Wort verließ er sie.
Von diesem Zeitpunkt an wartete sie auf ihn. Während sie in der Finsternis kauerte und die Kälte ihr in die Muskeln kroch, liefen ihre Gedanken im Kreis. Wann er kommen würde und wie es sein würde. Und sie fragte sich, ob sie genauso gefühllos und gehorsam sein würde, wie sie es jetzt war. Vielleicht verhielt es sich wie mit dem Sterben – stellte man es sich vor, akzeptierte man es. Aber stand es tatsächlich unmittelbar bevor, wehrte man sich mit aller Kraft. Sie schämte sich dafür, dass sie sich nicht entscheiden konnte, ob sie den Tod wollte oder nicht. Du bist nicht mutig, wenn dein Wille von Tageszeit und Stimmung abhängt, schimpfte sie sich. Mal ist dir alles egal. Mal tust du alles dafür, leben zu dürfen. Und wenn es so weit ist, dann wirst du deine Meinung wiederum ändern und dich gegen etwas sträuben, was Frauen seit jeher erfahren müssen. Du wirst den Tod riskieren für etwas, was dich nicht umbringen wird.
- Stimmte das?
Schließlich... war er kein Mensch.
Vielleicht würde er ihr eine Verletzung zufügen. Vielleicht würde sie so stark bluten, dass sie starb.
Es war irre, was sie hier erlebte. Und ihr Leben konnte gar nicht anders enden als hier, denn sie würde diese Höhle ohne ihre Seele verlassen, das spürte sie. Verstümmelt worden war sie bereits, schon oben, als der Bote mit der Nachricht vom Tod ihrer Brüder kam und sie die ersten Schreie vor dem Burgtor hörte. Oder als sie sich in der Mägdekammer versteckt hatte und wusste, dass im oberen Stockwerk gerade ihre Familie hingerichtet wurde.
Wie wenig sie doch über ihre Familie nachgedacht hatte. Aber was gab es schon zu überlegen? Sie waren tot. Und Turid war hier unten.
Wenn sie noch länger so lag, würde sie wohl versteinern. Alles tat ihr weh. Aber es gab keine andere Position als gekrümmt wie eine Katze auf der linken Seite zu liegen und das Knie zu umklammern. Das rechte Bein war ausgestreckt, weil sie fürchtete, es würde bei jeglicher Bewegung wieder brechen. Auf den Rücken konnte sie sich drehen. Sie tat es, aber dann fror sie noch mehr und fühlte sie sich schutzlos.
Als sie Beowulf hörte, fühlte sie nichts. Wenn es jetzt geschehen würde, dann war es so. Da gab es nur Akzeptanz und Sachlichkeit. Noch.
Er drückte ihr etwas in die Hand. Es war feucht, kalt und schwammig.
„Iss", befahl er.
Das hatte sie nicht erwartet. Ohne zu zögern, drückte Turid sich die Masse in den Mund; sie zerging auf ihrer Zunge und schmeckte nach Butter. Herb. Es war fleischlich. „Knochenmark", sagte sie.
Er reichte ihr mehr davon. Sie aß es.
Während sie kaute, konnte sie hören, wie er das Mark vor ihr aus seiner Höhle kratzte. Leises Schaben, sie hielt die Hand auf, er ließ die weiche Substanz in Stücken hineinfallen, ihre Hand wanderte zum Mund und dann begann alles wieder von vorn. Hin und wieder keuchte er kurz auf, bis der Knochen seiner Anstrengung nachgab und barst. Beowulf war also nicht stärker als ein Mensch. Turid nahm das zur Kenntnis. Sie wusste, dass er ihr den Knochen nicht geben wollte, weil sie sich an den scharfen Zacken schneiden konnte, aber er hatte Unrecht mit seiner Annahme. Sie würde sich weder Kehle noch Pulsadern durchschneiden, sondern alles ertragen, solange sie am Leben blieb.
Vielleicht glaubte er ja, dass sie mit der neu gefundenen Waffe auf ihn losgehen würde. Wenn das zutraf, dann wusste er nicht, wie Menschen funktionierten.
Je mehr Turid zu sich nahm, desto hungriger wurde sie. Zugegeben – das Mark schmeckte köstlich. Zu diesem Zeitpunkt hätte sie aber auch mit Freuden Leder oder Gras verzehrt, als erinnerte sich ihr Körper wieder daran, dass er gerne aß und wie dringend er die Nahrung brauchte.
„Du willst nicht fragen, woher es kommt", meinte er. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
„Ohne zu fragen", echote Turid und übertönte ihr Schmatzen.
„Und sonst so schamlos", sagte Beowulf.
Darauf erwiderte sie nichts.
Sie streckte die Handfläche aus, aber sie blieb leer, also schloss sie sie zur Faust und fuhr sich über den Mund, die Finger verschmiert vom Fett.
„Es ist nicht menschlich", hörte sie ihn sagen.
Sie starrte in die Dunkelheit. „Das kam in Betracht?", fragte sie leise.
„Es ist nicht menschlich."
Hätte sie sich übergeben? Wahrscheinlich nicht. Dieser Jemand, dem das Mark einmal gehört hätte, wäre sowieso bereits tot gewesen.
Sie seufzte. Beowulf machte keinen Laut, aber sie wusste, dass er noch vor ihr saß.
Was erwartete er von ihr?
Wenn er es jetzt tun wollte, dann sollte er es ihr befehlen oder einfach beginnen. Ein Angebot würde sie ihm nicht machen. So tief war sie nicht gesunken.
Er erhob sich – und entfernte sich. Als er zurückkam, brachte er ihr Wasser. Sie saugte sofort.
Du bist ein Kind, dachte sie sich. Du wirst in Stückchen gefüttert und mit Stoff getränkt. Du kannst nicht laufen. Und blind bist du auch. Ein hilfloses Lamm. Und er?
„Turid", sagt er. Sie schaute auf in die Richtung, aus der seine Stimme kam. Sie war etwas tiefer als sonst, grollender. Verkörperte den Anflug einer Drohung. „Du wirst stillhalten", sagte er.
Jetzt also. Eine Gänsehaut lief ihr die Schultern hinauf.
„Ja."
Er drückte ihre Brust nach unten. Es passierte alles so, wie sie es sich in den Stunden der Dunkelheit ausgemalt hatte. Sie lag da. Er fasste ihr Kleid und zog es nach oben. Sie atmete flach und versuchte, nicht in Panik zu geraten. Er entblößte sie immer weiter.
Aber dann schmiegte sich eine kalte Klinge an ihren Oberschenkel.
Sie zuckte zurück.
„Was habt Ihr vor?", rief sie. Das durfte nicht sein. Sie hatte sich gewappnet, sie hatte bereits mit allem abgeschlossen, was noch nicht passiert war, sie hatte über die Schreie nachgedacht und die Schande und den Ekel und den Schmerz. Aber diese Klinge, die tauchte nicht in ihren Berechnungen auf, was würde er tun? Wie sollte sie damit fertig werden?
„Halt still", sagte er, aber Turid zappelte, „davon habt Ihr nichts gesagt!", schluchzte sie, die Vorstellungskraft malte ihr in der Panik tausend Möglichkeiten vor die Augen, was er alles mit diesem Messer anstellen wollte. Beowulf knurrte, sie spürte wieder den Ärger und die Bosheit in der Luft und kämpfte noch verbissener gegen die unbekannte Bedrohung.
Als sie wie eine Kriegerin zu schreien begann, packte er sie am Hals, aber sie wand sich heraus und biss ihm in den Finger. „Du kleines Biest", hörte sie ihn sagen, bevor er ihr auf den Kopf schlug und sie in schwarzer Tiefe versank.
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