Kapitel 49. Nähe und Schmerz

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Turid war bereits durch den Spalt gekrochen, Beowulf ihr auf den Fersen, als ein schwindelerregender Schmerz ihre Eingeweide pulsieren ließ. Im nächsten Moment schoss ihre Hand nach oben und krallte sich in die Haut, um einen Punkt unterhalb ihrer Brüste, dort, wo sie den Magen vermutete. Es fühlte sich an, als hätte sie ein Loch im Bauch.

Die brutale Geste zwang sie zum Stillstand. Beowulf sah nicht, wie sie sich vornüberbeugte und die Klaue aus eisern verspannten Muskeln und Sehnen mit der anderen Hand auseinanderzwang, bevor unter ihren Nägeln das Blut floss.

Mit weit aufgerissenen Augen betrachtete sie das bunte Schwarz vor ihrer Nase und legte dann das Kinn auf die Brust, so wie Menschen, die vom Tageslicht gesegnet sind, an sich hinunterstarren. Hätte sie sehen können, ihr Blick wäre genau auf die Stelle getroffen, an der der Schmerz bereits abebbte – so schnell, wie er gekommen war. Verstohlen knetete sich die Finger. So muss es sich anfühlen, wenn ein Pfeil dich durchbohrt oder Gift dir die Gedärme verätzt, dachte sie. Kein Wunder, dass es der erste Instinkt ihres Körpers gewesen war, sich diesen Schmerz aus der Brust zu reißen.

Ein anderer Mensch wäre in Panik geraten, aus Angst, dass mit ihm etwas nicht stimmte; Turid blieb ruhig. Er war ein alter Bekannter, dieser Schmerz.

Die Erinnerungen an das letzte Mal, als er sie heimgesucht hatte, waren bereits eingetroffen und geisterten ihr vor den Augen herum wie lebendige Bilder: Es war der Augenblick gewesen, als man ihr im Kerker einen Schwall Wasser ins Gesicht geschüttet und sie, ein todmüdes, verstörtes Wesen, auf die Füße gezerrt hatte. Indem man ihr die Fesseln an den Handgelenken löste und sie mit hinter dem Rücken verschränkten Armen wieder zusammenband, krümmten sich alle Wirbel nach oben und Turid sah einem Krieger ins Gesicht. Ihr troff das Wasser an den Haaren hinunter, ihm noch das Blut vom Helm, und da hatte sie endgültig begriffen, was ihr zuvor wie ein Traum vorgekommen war: Ihre Familie war tot, der Krieg war verloren.

Oh, und dieses Leid... schon damals war ihr erster Gedanke gewesen, eine Waffe hätte ihr hinterrücks den Garaus gemacht. In den Stunden danach wünschte sie sich manchmal, es wäre so gewesen, denn lange, bevor man sie schlug und steinigte, wollte sie nur noch weinen. Nie hätte sie geglaubt, dass seelischer Schmerz so groß, so körperlich werden könne.

Turid blinzelte zwei, drei und dann viermal, denn die Bilder drohten ihr das Schwarz noch schwärzer zu machen. Ihr schwindelte.

Als man sie dem Eroberer kurz nach dem Kerker zum ersten Mal vor die Füße geworfen hatte, reichte seine Stimme, um die Angst zum Alleinherrscher ihrer Gefühle zu machen. Da hatte sie die Qualen hinuntergewürgt. Und als sie in der Finsternis aufschlug, war der Schmerz bereits fort, wurde von anderen Leiden verdrängt, weil er zur Oberwelt gehörte und die war fort. Bis zum heutigen Tag hatte sie nicht mehr daran gedacht, aber nun – nun verstand sie es.

Beowulf zwängte sich hinter ihr durch die Spalte. Turid, die wieder auf festen Beinen stand und eins und eins zusammengezählt hatte, lauschte ihm mit ruhiger Miene.

Dieser Schmerz in ihrem Bauch war der Seelenschmerz, die Qual über den Verlust der Liebe. Und jetzt fühlte sie ihn. Den Tod ihrer Familie hatte sie lange verdrängt, aber jetzt, da war sein Tod so nahe gewesen, dass sie gegen ihren Willen darüber zerbrechen wollte. Sie fragte sich, ob das hieß, dass sie ihn liebte.

Auf ihrer Stirn bildete sich eine Sorgenfalte, die – das ahnte Turid – zudem auch Unglaube und ein wenig Neugierde verkörpern musste, so, wie ihr ganzes Gesicht mit dem leicht geöffneten Mund und den wachsamen blinden Augen sich ihm preisgab. Schnell wandte sie es ab.

Zu spät.

„Turid", sagte er sanft über ihre Schulter hinweg. „Turid, sprich mit mir."

Sacht schüttelte sie den Kopf. Sie hatte nie einen Menschen geliebt, mit dem sie keine Verwandtschaft teilte. Nie selbst ausgesucht, wen sie liebte. Sie war die Tochter eines Fürsten, das stand ihr nicht zu.

Ohne die gequälte Miene weiter zu verstecken, drehte sie sich um. „Tu das nicht wieder", sagte sie.

Beowulf schluckte.

Nie wieder." Sie hob den Finger und zeigte auf ihn, hegte den Wunsch, ihm die Spitze in die Brust zu drücken, wie es bei einem Mann nur jene Frauen wagten, die keine Angst vor Zucht und Ordnung hatten. Habe ich Angst?, fragte sie sich. Nicht vor ihm, entschied sie und stieß zu. Es konnte ihm nicht mehr wehtun als ein halbernster Kniff, aber für Turid war es, wie die Welt auf der Fingerkuppe zu tragen.

Beowulf schwieg. Hätte ich das vor ein paar Monaten getan, dachte sie, hätte er mich wohl geschlagen. Sie erinnerte sich dunkel an die Ohrfeige, die er ihr einmal verpasst hatte, aber sie wusste nicht mehr, aus welchem Grund. Jetzt kam es ihr sehr fremd vor, dass dieser scheue Mensch dazu imstande gewesen war.

Heute störte ihre Hand ihn nicht im Geringsten. Sie hätte nicht sagen können, wann sie die Einsamkeit zur Zweisamkeit gemacht hatten und ob der Übergang fließend gewesen war; sie wusste nur, dass es sich anfühlte, als sei es immer so gewesen und gleichzeitig nie passiert.

Obwohl der Sturm ihnen nicht mehr die Stimmen zerschnitt, umschloss er ihre Finger an seiner Brust und hielt sie fest. Keiner von beiden ahnte, dass die vergangene Stunde, die Stunde der wortlosen Sprache, die erste von tausenden gewesen war.

„Wie ist das?", fragte er und drückte die Hand in seiner. Sein Ton war düster. Bereute er die Berührung?

„Als hätte Gott mir einen Sinn geschenkt", sagte Turid.

Er seufzte.

„Du magst es nicht?", meinte sie verwundert, „immer noch nicht?"

„Nähe kannte ich nie."

„Unsinn. Du bist ein Mensch. Du hattest doch..." Frauen, wollte sie sagen, brachte es aber nicht über die Lippen, „Kinder", sagte sie stattdessen. Gut und gerne konnte irgendwo auf dieser Welt ein Junge herumspringen, noch kein Knappe, aber ein Page vielleicht, der Beowulfs Sohn war. Der Gedanke jagte ihr einen Schauder über den Rücken.

„Nein, nie", brummte er. Er hatte ihre Anspielung nicht verstanden.

Turid hob die Brauen. „Aber du bist selbst eines gewesen, oder?"

„Mag sein. Ich kann nur sagen, wie es ist. Ich kannte sie nicht.", gestand er. „Von mir sagten sie immer, er sei ohne sie geboren und werde ohne sie sterben und ich glaubte es."

Ein trauriges Leben, dachte sie, hätte ich gehabt ohne Nähe. Keine geübten Mädchenhände, die ihr liebevoll das Haar flochten und keine Kinderfinger, die sie am Rockzipfel zupften. Keine Schwestern, zu denen sie ins Bett kriechen konnte; nicht einmal Brüder, mit denen sie getobt hatte, solange sie klein genug gewesen war. Nein – eine liebevolle Mutter hatte auch sie nicht gehabt. Dafür waren sie zu viele gewesen, die da als ihres Vaters Söhne und Töchter allen Alters die Burg belebten wie schnatternde Vögel. Aber ein Mensch, an den sie sich lehnen konnte, war immer dagewesen.

„Und das heißt...", sagte sie vorsichtig, weil er von ihnen gesprochen hatte und sie sich keinen Reim darauf machen konnte. Doch Beowulf ging abermals nicht auf sie ein; er sagte etwas anderes, über das sie gern länger nachgedacht hätte, wäre ihr die Zeit dazu geblieben.

Er lachte leise. Er sagte: „Das heißt, du durchkreuzt meine Lebenslinie."

Sie ließ sich seine Worte auf der Zunge zergehen, Worte, die Gewicht hatten, weil sie seine Lebenslinie in diesem Augenblick in seiner Handfläche spüren konnte; sie war tief.

„Also haben sie Unrecht."

„Das werde ich nie erfahren, denn wenn es so weit ist, habe ich meinen letzten Atemzug bereits getan, verstehst du?"

Sie nickte. „Aber wer sind sie?"

Da wurde Beowulf leise, das Geräusch seines Atems nicht mehr als ein Hauch.

„Vergiss es", beeilte sie sich zu sagen, doch er sprach fast gleichzeitig, „ach Turid", sagte er, und verstummte wieder, als sie ihm ins Wort gefallen war. Sie schaute zu ihm herauf in die Dunkelheit.

„Ich erinnere mich nicht gern daran", flüsterte er. „Vor allem, weil es so zu Ende gegangen ist. Weißt du, wenn man nicht davon spricht, vergisst man irgendwann, darüber nachzudenken, und wenn man das vergisst, vergisst man fast das Leben selbst."

„Das Leben von damals", warf sie ein.

„Ja. Damals..."

Sie gingen Hand in Hand, vergessen war das Seil an der Felszacke, wo es im Wind hin und herschlug wie der Schwanz einer Schlange. In der schweren Luft der Kammer dampften ihre Worte wie Nebelschwaden um sie herum, ihre Schritte hingegen durchbrachen die Wolkendecke und hallten bis zum steinernen Firmament hinauf, immer begleitet von kaum hörbarem Schmatzen, wenn der schaurige Boden widerwillig eine Schuhsohle freigab.

„Siehst du", meinte Beowulf nach langer Stille, „das Leben ist kurz, sagte man damals und tut es wahrscheinlich noch heute, aber das ist nicht die Wahrheit. Was kurz ist, sind die hellen Augenblicke. Eine gute Mahlzeit, eine stürmische Liebschaft, Sonnenuntergänge. Wenn es dann vorbei ist, merkst du, dass dir der Magen verdorben ist und die Liebe nur eine hohle Versprechung war, und nach der Dämmerung wird es dunkel." Vor der Spalte blieb er stehen und seine Hand versteifte sich. „Am Ende bleibt es für immer dunkel. Eine Ewigkeit. Verstehst du mich?"

Sie nickte, aber die Gänsehaut blieb aus. Sie konnte das Funkeln in seinen Augen nicht sehen, das nicht so sprühte wie ihres, sondern fahl knisterte wie ausgehendes Feuer hinter einem milchigen Spiegel. Was Beowulf sagte, war die unumstößliche Erkenntnis seines Lebens, dass er gegen die Finsternis machtlos war; dass Turid so erstaunlich und kurzweilig war wie ein Sonnenuntergang, so liebenswert und totgeweiht wie eine Romanze, ja sogar so herrlich und verderblich wie eine Schwelgerei, ganz fleischlich gesprochen. Turid verstand etwas ganz anderes, nämlich dass Beowulf Angst vor der geistigen Nähe von Mensch zu Mensch habe, so wie sie Angst vor ihrem Gegenpart, der körperlichen Nähe, hatte – von Mensch zu Mensch. Er kannte das Seine, sie kannte das andere. Fast perfekt, um sich zu ergänzen, kam es ihr in den Sinn, nur dass wohl einer von ihnen früher oder später zurückscheuen würde, wenn nicht beide.

Beowulf hatte sagen wollen, dass er einem Sonnenuntergang nicht den Rücken kehrte, nur weil es schmerzlich war, ihn vergehen zu sehen. Er begriff nicht, dass alles, was Turid – wenn überhaupt – unter der Dämmerung verstand, ein Morgengrauen war.

„Hast du Hunger?", fragte er sie am Ende des Ganges, als er sie die kleine Steinplatte hinuntergleiten ließ. Sie schüttelte den Kopf.

„Durst?", wollte er wissen, als sie sich von seiner Hand getrennt und in einer Ecke niedergekauert hatte.

Sie blickte fragend zu ihm auf. „Nein? Wasser gibt es genug."

„Gut", sagte er und hatte ihr im nächsten Moment die Wolldecke in den Schoß geworfen und sich neben sie gesetzt. „Ich habe nachgedacht."

Den Blick in eine schwarze Ferne gerichtet, als wären dort Sterne, fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen und suchte nach Worten. „Lass mich dir ein Märchen erzählen." 

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