Kapitel 43. Nachwehen

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„Warte hier, bis ich zurück bin... warte hier..." – Turid prallte mit der Zehe gegen einen Stein und machte in einem Schritt kehrt, der ihr lädiertes Bein an Schwung überforderte – „auf mich... bis ich zurück bin." Einen Moment lang starrte sie regungslos an die Decke, registrierte das Stechen im Oberschenkel, dann begann ihr Marsch von vorn. Als sei der Schmerz nur eine Vorstellung, die ihr gleichgültig war. Die Fäuste, bleich und ausgemergelt, ramponiert wie ein Gebiss, in dem Zähne fehlten, hatte sie mit roher Gewalt unter das Kinn gepresst, sodass sich Finger und Kiefer einen eisernen Wettstreit lieferten. Wer von beiden würde zuerst brechen? „Warte hier", murmelte sie. „Bis ich..." Turid verstummte und widmete sich stattdessen ihrer Lippe, als sei es ihr eigentliches Ziel, diese totzukauen.

Den Satz beendete die Höhle für sie. Das Trümmerfeld war erfüllt vom Schatten ihres Geflüsters, hier und da verstärkt durch die Schwinge des Schalls, da und dort verschluckt von einer Wand aus Finsternis. Es schuf an den dunkelsten Stellen einen luftleeren Raum, der den Klang von Turids Stimme wie ein Messer wetzte, wann immer ihn eine Silbe durchschnitt: Ich traf auf warte hier, die Worte klärten und vermengten sich, und Turid unterbrach ihre kreisförmige Wanderung – der sie stundenlang wie ein eingesperrtes Tier nachgegangen war – und heulte vor Wut. Es war der erste Schrei, den sie sich nach all der Zeit erlaubte, doch er kratze ihr nur in der Kehle, ohne Erleichterung zu verschaffen.

Am Anfang, da war das Trümmerfeld von engelsgleicher Geduld erfüllt gewesen, die überall zu schweben schien – nicht nur in Turid selbst, sondern auch in der Finsternis vor ihr. Ein Ort der Ruhe, weil die Zukunft nun endlich Zufriedenheit versprach, wo die Hoffnung wie eine Schneedecke über den harten Felsen lag. Es hatte sich richtig angefühlt, zu warten, zwischen besonnenen Seufzern zu dösen und hin und wieder zu lauschen, ob nicht Beowulfs Schritte schon durch die Gänge hallten: Wenn das nur geschah, so hatte sie gemeint, würde das Leuchten in ihren Augen verraten, dass sie bereit war. Aber das war in Ordnung, wenn er nur hielt, was er versprochen hatte. Warum er fortgegangen war? Wahrscheinlich, um sich zu sammeln. Turid wusste, wie schwer ihm der Gedanke ans Aufbrechen fiel, womöglich wegen Hadubrand und weil er zauderte, das Tier zu verlassen. Es schmerzte, eine Heimat aufzugeben, selbst wenn es eine triste Heimat war.

Als ihr bald die Lider zugefallen waren, hatte sie die Enttäuschung hinuntergeschluckt und sich auf den Schlaf eingelassen. Was folgte, war keines ihrer Nickerchen, sondern richtiger, echter Schlaf. Hier unten war der so selten wie eine Blüte im Winter, doch wenn er kam, fühlte sie sich danach wie von den Toten auferstanden: Er musste unmenschlich lang sein. So kam er in diesem Augenblick einerseits ungelegen, andererseits schadete es nicht, wenn sie ausgeruht war, sobald Beowulf wiederkam. Immerhin sollten die Dinge nun ernst werden. Kein stundenlanges Gerede mehr über die Ausritte ihrer Kindheit oder das Spiel von Ebbe und Flut.

Sie träumte davon; den Gezeiten, nicht den Pferden, obwohl sie ja das Meer nie gesehen hatte und sich die endlose blaugrüne Fläche aus Beowulfs Erzählungen nicht mehr als vorstellen konnte. Im Schlaf zuckten die Pupillen unruhig hin und her, als suchten sie nach ihm. Sie erwartete, durch ein Wort von ihm geweckt zu werden oder, wenn es sein musste, auch durch das Brennen seines Blicks. Tief im Unterbewusstsein grübelte sie, warum ihre Muskeln sich so verspannten und ihr ein düsteres Gefühl in der Magengegend wuchs wie ein giftiger Pilz.

Am Ende öffnete sie erst wieder die verquollenen Augen, als ihre Blase die Qual nicht länger aushielt und sie wie einen Blitz in die Höhe fahren ließ. Viele Stunden mussten vergangen sein. Keine Spur von Beowulf.

Also wartete Turid weiter. Sie konnte beinah zusehen, wie das Unwohlsein vom Rinnsal zur Flutwelle schwoll. Als ihr nach einem endlosen Nebel aus Zeit die Lider wieder schwer wurden, überlegte sie, ob sie sich übergeben sollte. Dann übernahm ihr Magen diese Entscheidung für sie.

„Himmel", keuchte sie und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. Ihr Bein pochte. Finger kribbelten, die sie nicht mehr an den Händen hatte. Zu der Zeit begann sie sich den Kopf darüber zu zerbrechen, warum ihr die Sicht – in ihrem Fall die bunten Sterne in ihrem Blickwinkel – dermaßen verschwamm, ob sie krank war, sich vielleicht vergiftet hatte, da fiel ihr ein, dass das Gegenteil der Fall war. Das Gift fehlte. Turid hatte gewartet, geschlafen, gewartet, jetzt kam die Müdigkeit zurück. Ihre Lippen waren rissig, der Geschmack im Mund schal. Es konnten Tage vergangen sein. Und Beowulf hatte Recht gehabt. Sie brauchte es.

Der Durst ließ sich schnell löschen, doch der Hunger gesellte sich zu dem Elend ihrer Eingeweide. In einem schwachen Moment schielte sie zu der Schwärze hinüber, in der sich die trockenen Fleischstreifen auf der schiefen Ebene präsentierten. Sogleich schoss ihr wieder saures Erbrochenes in den Mund. Turid hustete und versuchte, die Überreste des Eroberers zu vergessen. Dies war ein Angebot, das sie erst annehmen würde, wenn sie dem Tode nahe war.

Als sie das nächste Mal erwachte, zitterten ihre Glieder. Die Höhle schien bitterkalt geworden zu sein, doch der Hunger war verblasst. Sie ahnte, dass das kein gutes Zeichen war. Und obwohl sie sich leer fühlte, als wäre eine Kerze in ihrer Brust fast abgebrannt, rappelte sie sich auf und begann zu mutmaßen, was in aller Welt mit Beowulf passiert sein mochte.

So war es zu ihrer Wanderung gekommen. Warte hier auf mich, bis ich zurück bin, schoss es ihr wieder durch den Kopf und sie sprach die Worte im leisen Singsang nach. Turid wusste, dass sie brabbelte. Aber dafür, dass sie ausgehungert und einer Substanz entzogen war, die ihr Körper scheinbar zum Leben brauchte wie die Luft, war ihr Verstand überraschend klar. Konnte es tatsächlich sein, dass auch Beowulfs Orientierung sich irrte und er in eine Spalte gefallen war? Steckte er zwischen zwei Felsen fest? Hatte er sich durch einen unachtsamen Schritt im Höhlensee ertränkt? Aber warum kam Hadubrand nicht, um für sie zu sorgen? Natürlich hatte er nichts mehr im Magen, mit dem er sie füttern konnte – nicht, dass sie es angerührt hätte – aber auf seine Fürsorge hatte sie sich doch immer verlassen können.

„Warte hier..." begann sie wieder mit gerunzelter Stirn. „Bis..."

Plötzlich stieß sie die Luft aus. „Schluss damit!"

Schluss damit, damit... sie stand auf einer Anhöhe ihres kleinen Reiches, von dem das Echo besonders gut hallte. Als es verklungen war, lauschte sie ein letztes Mal der Stille. Wie ein Jäger auf der Hut schlich sie dann bedächtig über das Trümmerfeld, die Arme vor dem Bauch verschränkt. Tasten musste sie hier schon lange nicht mehr, wusste ihr Körper doch, wohin die Karte führte.

Es dauerte kaum eine Minute, da kamen ihre neue Bündelschuhe zum Stehen. Turid schloss die Augen und seufzte. Ohne darüber nachzudenken, hatten ihre Beine sie zum einzigen Tor aus dem Trümmerfeld getragen.

Selbige konnte sie sich jetzt brechen, indem sie versuchte, den Felsen zu erklimmen und von einem Steinkessel loszukommen, der sie nicht weiterbrachte. Wenn sie wollte, stand ihr dabei auch noch der Wunsch offen, Menschenfleisch zu essen. Beides Dinge, auf die sie bei Gott verzichten wollte. Aber was blieb ihr dann?

Als sie die Hand zur schrägen Ebene ausstreckte, war ihre Miene zwar sorgenvoller geworden, doch entschieden hatte sie sich nicht. Doch auch diesmal blieb ihr die Wahl erspart. Aus dem Gang über ihr ertönte ein Keuchen.

„Beowulf!", schrie sie heiser. „Verdammt nochmal!"

Er antwortete mit einem Laut, der tief aus der Kehle kam und klang wie ein kühles Schnauben. Turid biss die Zähne aufeinander und bemühte sich, nicht loszubrüllen. Er ließ sie verhungern und was tat er – nahm es zur Kenntnis?

„Komm her, du untreuer Ver-"

Ein dumpfer Aufprall wenige Schritte neben ihr ließ sie verstummen. Sie hatte die verstümmelte Hand zur Faust geballt, die andere wie eine Klaue geöffnet, als ob sie etwas suchen wollte, mit dem sie ihn bewerfen konnte. Dunkel erinnerte sie sich daran, wie sie damit schon einmal erfolgreich gewesen war, nämlich mit dem Stiefel des Eroberers im Graben, und dass sie es bereut hatte. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, hingen beide Arme schlaff an ihr herab.

Sie hörte Beowulf taumeln. Er schaffte es, sich aufzurichten, schwankte aber wie ein Betrunkener.

Turids Pupillen huschten hin und her, als sie lauschte. Voller Sorge und voller Angst. Ihre Finger wanderten in die Höhe und drückten sich sacht gegen die Mundwinkel, wie um zu verhindern, dass sie sich verzogen.

„Beowulf?", hob sie schließlich zaghaft an.

Jetzt war sein Herzklopfen deutlich zu vernehmen und auch, dass sein Atem zitterte. Er war doch wirklich da? Sie lag doch nicht sterbend in einer Ecke und träumte von Dingen, die nie geschehen würden? Die Stille blähte sich so erdrückend auf, dass sie es mit der Angst zu tun bekam.

Da überwand er sich und sprach. Er musste einem verwundeten Krieger ähneln, stehend, aber kaum am Leben, den Kopf gesenkt. „Es tut mir leid. Ich konnte nicht. Es tut mir leid", keuchte er.

Turid stieß einen Hauch der Erleichterung aus. Sogleich schnitt sie eine Grimasse. Wie hatte sie nur zornig sein können auf diesen Mann?

„Schon gut." Es fehlte die Zeit, um zu verarbeiten, was hier passiert war, warum alles vor ihren Augen raste, doch festigte sich ihr Eindruck, dass dies die Wirklichkeit war. Sie trat vor, zögerte, suchte dann aber mit einem tastenden Arm nach seinem Körper. Sie wollte nur helfen, das musste ihm klar sein, wollte nur etwas bieten, an das er sich klammern konnte, aber er wich zurück. Als sie den Arm wieder sinken ließ, stahl sich ein gequälter Ausdruck auf ihr Gesicht. „Was ist nur mit dir passiert?", fragte sie.

Er kam zur Ruhe, bettete sich an den Felsen. Dann ein Schleifen, mit dem er sich wieder zu Boden gleiten ließ. „Ich... es gab... vergiss es." Mehr kam nicht. Die Kante muss ihm in den Rücken stechen, dachte sie.

„Ist es wieder Hadubrand gewesen? Seid ihr euch über den Weg gelaufen?"

Eine Weile sagte er gar nichts. Irgendwann holte er schließlich Luft. „So kann man es nennen."

„Es tut mir leid, wie es ist", sagte sie unbeholfen.

Er tat so, als hätte er nicht gehört. „Ich kann's dir nicht erzählen."

„Das verlange ich auch nicht." Ganz ehrlich war das zwar nicht, denn sie wollte es wissen, unbedingt, aber sie konnte warten. Das hatte sie bewiesen. Stumm betrachtete sie die Finsternis um ihren Bauch, der sich schon wieder zusammenzog.

Beowulfs Keuchen stockte. „Wie lange war ich fort?", fragte er mit einer Schärfe, die sie zusammenzucken ließ.

„Ein paar Tage vielleicht."

„Ausgeschlossen", erwiderte er.

Turid lächelte schwach. „Wenn ich es doch sage."

„Hadubrand ist nicht hier gewesen?"

„Nein."

Er ächzte wieder, rückte sich zurecht. Es musste ihn große Kraft kosten. Turid kannte nichts, das einem Mann derart seiner Kraft beraubte; als wäre er durch ein ganzes Meer geschwommen oder hätte allein die großen Gebirge überquert. Beowulf hatte schon früher vom Fluch der Finsternis gesprochen, aber genau wie die Riesen und die Hexen schien darin immer nur der Schabernack zu liegen, ein abgetaner Scherz, eine lockere Redewendung. Bis man dann tatsächlich unten landete und Hadubrand leibhaftig gegenüberstand. Wo war die göttliche Urgewalt der Dinge, die Gut wie Böse einen Sinn gab? In der Unterwelt jedenfalls nicht.

Sie verstand erst, dass er sich aufgerichtet und über die Kante zum Fleisch gelinst hatte, als er leise sprach – mehr zu sich selbst als mit ihr. „Du hast nichts davon gegessen. Du hast überhaupt nichts gegessen."

Sie schüttelte den Kopf.

„Oh Turid", sagte er. „Hättest du das nicht sagen können, bevor ich unten gelandet bin?" In seinem Ton lag die winzige Prise eines verschmitzten Lächelns. Nie war sie glücklicher darüber gewesen, nur würde er es vielleicht falsch verstehen, wenn sie es zeigte.

„Jetzt nicht", meinte sie also nur und wandte sich ab. Die Lust, sich in den Aufbruch zu stürzen, war vergangen. Jetzt war sie nur müde, müde und froh. Indem sie Beowulf den Rücken kehrte, hoffte sie, ihm dieses Zeichen zu geben: Sie erwartete nichts mehr von ihm. Kurz schien es zu wirken, denn sein regelmäßiger Atem verriet ihr, dass er tatsächlich ruhte. Doch das dauerte nicht lange – noch bevor sie sich einen abgeschiedenen Platz suchen konnte, um den krampfenden Magen durch Schlaf zu betäuben, hörte sie ihn schon wieder klettern.

„Halt", rief sie.

Seine Erklärung war knapp. „Du bist gerade in besserer Verfassung als ich. Aber blind bist du auch. Du wirst mir verhungern."

„Ich weiß", sagte sie. „Ich brauche nur..." Plötzlich ekelte Turid sich vor sich selbst. „Du weißt, was ich brauche."

Beowulf gab ein verständnisvolles Geräusch von sich, machte allerdings keine Anstalten, seine Bruchlandung von eben zu wiederholen. Stattdessen raschelte etwas, ein Schaben ertönte, dann kullerten zwei Körper den Abhang hinunter. Der eine lang und klingend. Der andere klein und weich. Das Messer und... was in aller Welt...?

„Fest drücken", sagte er, „und nicht zu viel. Sonst bist du tot."

Das Nicken, das sie ihm schenkte, war ein wenig verdattert. Später wurde ihr bewusst, wie wenig es gebraucht hatte, dass er ihr vertraute. Und viel später, da fragte sie sich, ob er zu diesem Zeitpunkt nicht einfach weit genug gewesen war, dass er es darauf ankommen ließ. 

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