Kapitel 42. Zur Rechenschaft gezogen
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Er, so hatte er eines Tages festgestellt, konnte sich nicht mehr ohne Schmerzen im Reich der Finsternis bewegen. Die Qual war leise und schwer zu fassen, kam immer wieder wie ein Windstoß vorbei und schien von unten auf seine Seele zu drücken, sofern er denn eine besaß. Schlich er durch die Schatten davon, brodelte sie aus einer ungewissen Ferne vor ihm; kehrte er mit toten Spinnen und Algen in der Faust zum Trümmerfeld zurück, stach sie ihm tückisch in den Rücken. Dass ihm in der Einsamkeit nur das Hallen der eigenen Schritte folgte, machte diesen Schmerz, was am schlimmsten war, auch noch zu seinem liebsten Begleiter. Zu Anfang spiegelte sich noch die Verwunderung in seinen Augen, denn sicher hätte er geglaubt, sein Elend aus ihrer Richtung pulsieren zu spüren – immerhin hatte es doch mit ihr zu tun, alles. Doch das, das war anders. Es erinnerte ihn an die Geschichten vernarbter Krieger mit sonnenverbrannten Gesichtern, die ihre Schwerter einst in der roten Wüste geschwungen und gesehen hatten, wie nachts die Löwen um ihre Zelte strichen. Menschenverlassene Erde und doch der Feind ständig vor den Toren; dies war damals der Grund für ihn gewesen, nicht zu gehen. Stattdessen war er dem eigenen Land aus weiter Ferne beigestanden – mit Adalger an seiner Seite – und hatte zum Schluss keine Löwen, sondern Hadubrand bekommen.
Nein. Nicht Turid, sondern Hadubrand war Verursacher seines Aufruhrs und es überraschte ihn nicht. Das Tier tat wie er, indem es Gänge beseelte, die nie jemand betreten hatte, und labte sich stets an der Freude, für Beowulf nach all der Zeit immer noch unsichtbar zu sein. Bis dieser das Feuer spürte, natürlich, den echten Schmerz. Aber dann war es immer zu spät. So war dieses neue Leiden nur ein Schatten von dem, was Hadubrand ihm wirklich antun konnte und doch der eine Tropfen, der Beowulfs Zorn zum Überkochen brachte.
Irgendwann musst du dich stellen, sagte er sich. Dieser, er hatte innegehalten und sich mit leerem Blick an die Felswand gelehnt, war zwar nicht der erste solcher Gedanken, aber er wusste, dass er es in ein oder zwei Sekunden zum ersten Mal laut verdeutlichen würde, einfach, weil die Zeit dazu gekommen war.
„Du musst dich stellen."
Mit wachsamem Blick lauschte er den eigenen Worten. Sie verhallten in der Dunkelheit, bis die Ferne des Labyrinths sie erstickte. So leicht waren sie misszuverstehen. Ein früheres Ich hätte sicher geglaubt, dass es sich dabei um eine Entscheidung handle – im wesentlichen Sinne: Hadubrand oder Turid. Und als junger Lebemann, der zwar ignorant und zuweilen regelrecht bösartig, im Kern jedoch immer von guter Moral gewesen war, hätte er die Frau gewählt – zugegeben, nicht nur aus edlen Beweggründen. Doch der Beowulf, der jetzt in die Schwärze starrte, wusste nur zu gut, dass ein solch einfacher Zwiespalt wie dieser nicht nur Wunschdenken der Vergangenheit war, sondern schlichtweg nicht in Frage kam. Er war lange kein Mensch mehr. Er durfte nicht wählen. Sich zu stellen hieß viel eher, der Wirklichkeit wie ein Mann gegenüberzutreten und das Wirrwarr zu beenden, dass sich durch Turid gebildet hatte.
Wann war das Unheil herangedämmert? Schon ein Jahr zuvor, als sie die Lichtrinne hinuntergeflogen war? Sicher nicht. Beowulf glaubte nicht an das Schicksal, und Hadubrandsperrte für die Gefallenen schon lange nicht mehr einfach das Maul auf. Hatte alles seinen Lauf genommen, als Turid einfach beschlossen hatte, ihn als Mensch zu sehen, der er nicht war? Sie hatte ganz unbeschwert mit ihm gesprochen, ja fast geplaudert, und das sehr schnell nach all dem, was ihr passiert war. Mit weinerlichen Damen hatte er sich nie gerne umgeben, mit adeligen ohnehin nicht – ein Grundsatz, dessen wahrer Wert erst ans Licht gekommen war, als er selbst im Dunkeln saß – aber es hatte auch schon mehr als genug Männer gegeben, die sich stolz genannt und dann in der Finsternis jede Sekunde bis zu ihrem Tod wie ein Kind geweint hatten. Ohne die Zerstörung des Körpers, ohne den Verlust der Familie, ohne... nun, die anderen Dinge, die Turid erlebt hatte. Sie war zäher als alles, was Beowulf je gekannt hatte. Und er hätte es in Betracht ziehen müssen.
Beowulf nickte bedächtig. Genau das hatte er nicht getan. Der Zufall wollte es, dass sie immer noch in der Höhle herumkroch und dabei mit jedem Tag sogar nur noch lebendiger wurde: Sie lernte aus der Finsternis, ihren Verletzungen und nicht zuletzt aus ihm. Das, zusammen mit ihrer Natur, machte sie allein dadurch, dass er darauf einging, zu einer Störung des natürlichen Gleichgewichts. Es war sein Verdienst, dass es so weit gekommen war. Und er fragte sich, ob es je wieder so werden würde wie früher und ob er das wollte.
Der Stoß kam genau zur richtigen Zeit: Als hätte Hadubrand seine Gedanken gelesen und in daran erinnert, dass er nicht wollen durfte. Die glühende Welle peitschte so scharf auf ihn ein, dass er sich stöhnend an die Brust fasste, taumelte und schließlich in die Knie ging. Im Zweikampf hatte er einmal einen Mann von hinten erdolcht, ihm die Klinge unterhalb der Rippen in einem schönen Bogen nach oben getrieben, nicht direkt ins Herz, aber doch nah genug daran vorbei für den Tod. So fühlte er sich jetzt. Es kam ja doch alles zurück.
Keuchend sah Beowulf auf, die Sicht geblendet durch die Tränen in seinen Augen. Da er genau wie Hadubrand, der als Wesen der Finsternis keine Augen benötigte, nicht direkt mit diesem Sinn auf die vorstellbare Weise sah, verzerrte sich die Welt zu einem zersplitterten Spiegel aus Schärfe und Unklarheit. Es war ein Streich, den ihm sein Kopf seit jeher spielte, weil er die Überweltlichkeit dahinter wohl selbst nicht verstand. Es war, als wollte sein Körper noch immer an der Gewohnheit festhalten, mit seinen eigenen Pupillen zu sehen, Pupillen, die jetzt zu schmerzen anfingen. Beowulf schloss die Lider und drückte die Finger darauf.
Noch ein Stoß, auf den sein Keuchen lauter wurde und er einige Schritte nach vorn taumelte. Dann noch einer. Hadubrand lenkte ihn in eine Richtung, das war früher schon passiert. Bisher allerdings hatte er ihn von sich abgestoßen, ihn wie einen Hund mit Fußtritten verjagt. Immer folgte früher oder später die Erlösung, wenn der Schmerz nachließ und Beowulf wieder atmen konnte. Jetzt aber schnürte seine Lunge sich mit jedem Schritt weiter ein und doch hatte er keine Wahl, als dem Ruf des Ungeheuers zu folgen.
Die vierte glühende Welle entlockte ihm einen gepeinigten Laut, viel zu tief im Herzen der Berge, als dass der Schall ihn zu Turid getragen hätte. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Hadubrand war nicht mehr fern, aber er zwang Beowulf nicht von sich fort – er schubste ihn auf sich zu.
Als er das begriff, floss ihm die Angst kalt und heiß den Rücken hinunter. Eine Hand packte die andere am Gelenk und drückte zu, wie um entweder die Furcht oder den brodelnden Schmerz zu überdecken. Sein Griff war stark genug, um Knochen zu brechen, aber seine Finger zuckten im letzten Moment wie vom Teufel gestochen zurück und krampften sich zu einer grotesken Starre auseinander. „Du Biest", fauchte Beowulf inmitten zwei weiterer Schmerzensschreie – nichts anderes waren seine Laute inzwischen – und robbte halb auf den Knien zum Rand des Ganges.
Beowulf hätte schwören mögen, dass auch seine Nähe Hadubrand Qualen bereitete, sonst hätte er ihn nicht all die Jahre von ihm ferngehalten. Manchmal glaubte er sogar, ein Zittern aus der Luft zu spüren, die Hadubrand nur einige Stunden zuvor noch geatmet hatte – Beweis genug, dass sie sich zu nahe gewesen waren und dies nicht spurlos an dem Tier vorüberging. Aber Hadubrand war stark, leider, viel stärker als Beowulf, der bei einer Begegnung zweifellos den Kürzeren ziehen würde. Umso mehr ließ es ihn erzittern, dass Hadubrand ihn zu sich rief, denn es musste ihm fürchterlich ernst sein.
Beowulf machte sich keine Illusionen. Er wusste ja, warum: Er hatte mit seinem Angebot, Turid bei der verbotenen Sache zu helfen, zu hoch gespielt. Jetzt würde Hadubrand ihn dafür zahlen lassen.
Erneut blendete ihn der Schmerz hinter seinen Lidern, sodass er mit den Händen auf dem Felsen tasten musste. Der eisige Luftzug log nicht: Der Boden fiel an dieser Stelle steil ab, doch konzentrierte sich Beowulf auf ebendiesen geheimnisvollen sechsten Sinn und erkannte hinter dem Schleier seiner Sicht einen Vorsprung, der dort endlos weit in die Tiefe ragte und oben in einem schmalen Stück Felsen endete. Ein neuer Stoß schickte ihn zum Rand der Klippe; Steine bröckelten unter seinen Schuhsohlen ins Nichts, ihr Aufprall von der Tiefe verschluckt. Niemals hätte er sich auf ein derart waghalsiges Unterfangen eingelassen, aber Hadubrand ließ ihm keine Wahl; ohne Umschweife stieß er sich ab, nur vom Vertrauen geleitet. Ein oder zwei Augenblicke segelte er lautlos über den Abgrund, dann kam er auf, stolperte, konnte aber noch vor der gähnenden Leere bremsen.
Der Schmerz wurde kurz sehr dumpf. In dieser Stille dachte er, dass er, hätte er eben versagt, zwar tot, aber auf Hadubrands Kosten gestorben wäre und das verschaffte ihm eine Genugtuung, die das Glühen beinahe erträglich machte.
Bis die nächste Welle ihn noch schneidender heimsuchte als alle zuvor. Wenn Hadubrand etwas wirklich wollte, dann hatte er keine Zeit zu verlieren. Immer vorwärts, schien er zu sagen, und Beowulf heulte vor Wut, konnte sich aber nicht wehren. Wie ein aufgeschrecktes Tier erfasste er den nächsten Felsvorsprung mit seinen Blicken und sprang. Auch diesmal erwischte ihn die Tiefe nicht. Weiter im gleichen Muster: Stoß, Sprung, ein Keuchen. So war es, bis er einen zerklüfteten Felsbrocken erreichte, krumm und so gewaltig wie der Buckel eines Riesen. Beowulf krallte sich mit der einen Hand an einer Steinzacke fest, klemmte sich zwischen zwei Vorsprünge und legte sich die andere Hand an die schmerzende Brust. Der Schmerz war jetzt beinah unerträglich, fast so wie damals, als er Turid von Hadubrand fortgeschleppt hatte. Nur ein oder zwei Dutzend Schritte hatten sie damals getrennt. Beowulf konnte sich lebhaft entsinnen, wie er Turid halb blind und der Ohnmacht nahe an der erstbesten Gliedmaße gepackt und fortgeschleift hatte, zu allem Übel noch gezwungen, seine Schwäche vor ihr zu verbergen. Weil sie ihn nicht danach gefragt hatte, musste es ihm wohl gelungen sein, doch er hatte lange gebraucht, um sich davon zu erholen.
Drumm, ein Schnauben.
Sein Keuchen verstummte und auf einmal war alles still. Vor einer halben Ewigkeit hatte er zuletzt diesen Herzschlag gehört, als junger Mann, der im Begriff war, zu sterben. Aber Hadubrands Herzschlag beschwor nicht die Erinnerungen, die er erwartet hatte, sondern nur eine berechnende Nüchternheit. So war er also hier.
Das Schnauben kam näher, verkürzte sich aber. Es war, als katapultierte das Ungeheuer die Luft in heftigen Schlägen aus seinen Nüstern, dann schlug wieder sein Herz, diesmal aber Dr – Stille – rum. Beowulf hörte einen großen Körper hinter sich taumeln. Ein schmerzverzerrtes Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. Wie er vermutet hatte, kam das Tier mit seiner Nähe schlecht zurecht.
„So ist es, wenn man schwach ist", höhnte er.
Hadubrand fauchte. Stieß sich ab – und eine gewaltige Erschütterung ließ die Höhle erbeben, als er auf dem Felsbuckel landete. Seine Krallen erzeugten auf dem spröden Stein ein ekelerregendes Geräusch, doch Beowulf hörte es nicht mehr. Mit Hadubrands Aufprall hatte ihn eine neue Welle mit grauenvoller Wucht getroffen, er krümmte sich vor Schmerz, brüllte und trommelte mit den Füßen gegen den Vorsprung. Bunte Sterne begannen hinter seinen Augen aufzuleuchten, seinen echten Augen, weil er unter den Qualen vergaß, zu atmen.
Dann sah er gar nichts mehr. Da war nur ein Klingen in seinen Ohren, das alles andere übertönte und so schrecklich war, dass er sich die Hände mit einem Druck an die Schläfen presste, der seinen Schädel schier bersten ließ. Und die Finsternis – absolute, undurchdringliche Schwärze, so dick, dass er meinte, sie anfassen zu können.
So werde ich also sterben, dachte er, als sich ein fauliger Geruch auf ihn herabsenkte und ihm die Nebenhöhlen verätzte. Der schrille Ton, das Todesdunkel, der Duft von Verwesung... und dann die Wärme. Sie traf ihn wie einen Schlag in die Magengrube. Er spürte die Feuchtigkeit darin, warme Tropfen, die sich daraus kristallisierten und ihm auf den Brustkorb platschten, darüber der schreckliche Schmerz – Beowulf meinte, jeden Moment in tausend Teile bersten zu müssen, so unvorstellbar war diese Qual. Als Hadubrand sein Maul weiter über ihn herabsenkte und sich sein gepeinigtes Wimmern mit dem Beowulfs vermengte, ein Duett des Schmerzes, wünschte er sich, tot zu sein.
Er spürte, wie etwas sich dehnte, in seinem Inneren rumorte, als hätte jemand sein Herz oder seinen Magen mit einem Haken aufgespießt und zerrte jetzt daran. Zu seinem Entsetzen war dies keinesfalls Einbildung im Wahn seiner Folter; das Ding bewegte sich unter seiner Haut, er fühlte, wie sie sich wölbte; gleichzeitig war da eine deutliche Anwesenheit über ihm, die es aus ihm zu sich zog. Der Ruf kam aus Hadubrands Rachen und bereitete auch diesem großes Leid, das spürte Beowulf, doch im Gegensatz zu ihm selbst schien das Tier sowohl seine eigenen Schmerzen und als auch das Geschehen weiterhin im Griff zu haben. Dann spürte er gar nichts mehr, denn dieses Etwas schlüpfte mit einem plötzlichen Sprung aus ihm heraus, ließ seine Haut hinter sich, um mit einem leisen Klagelaut über ihm zu schweben.
Es wollte wieder hinein, doch wusste es nicht, wohin. In die Höhe steigen, wo sein Gegenpart inmitten dieser mächtigen Masse aus Fleisch auf ihn wartete? Oder diesen zu sich holen, um sich in seiner Heimat, dem zitternden Körper am Boden, zu vereinen?
Beowulf bekam von dem nichts mehr mit. So, wie das herausgebrochene Stück seiner Seele hüllenlos war, war die Hülle seelenlos geworden. Er atmete noch und die Qualen waren immer noch da. Aber sonst war er leer. Nur weit aufgerissene Augen, die der Nebel trübte.
Hadubrand sah seinen lichtlosen Blick. Zuerst schien er die Lefzen zu einem Grinsen zu verziehen, dann bemerkte er mit Entsetzen, wie sich auch in seinem Inneren etwas von ihm löste und auf Wanderschaft gehen wollte. Sofort klappte der die Fänge zu. Ihm war, als prallte etwas von den dreifachen Zahnreihen ab, das eine von außen, das andere von innen. Er zog sich angeekelt zurück und schluckte das Ding wieder hinunter.
Ein fernes Schmatzen war das Erste, was Beowulf hörte, als er wieder das Bewusstsein erlangte. Der Schweiß tropfte ihm in Strömen herunter und auf seinen Wangen glänzten Tränen, beides Dinge, die zu tun sein Körper lange vergessen hatte. Der Schmerz war dumpf geworden und verebbte nach und nach. Er lebte entweder noch oder wieder.
Gegen Ende, als er schon fast nicht mehr in Hörweite war, schickte Hadubrand ihm eine letzte Welle. Beowulf verkrampfte sich in Erwartung des Schmerzes, doch dann stöhnte er nur: Das Gefühl war nicht stechend, sondern schön und schaurig.
Eine Belohnung. Als hätte das Tier ihm sagen wollen: Gut gemacht.
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