Kapitel 39. Trost

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Turids schwarze Locken flatterten, als rüttele der Sturm darin mit der Faust. Es war, als wolle er sie erbost zurückhalten. Unbeeindruckt kroch sie durch die Spalte und ließ ihn, der weiterhin schwerelos und frei die Klippen erklomm, hinter sich.

Nicht einmal die muffige Magie der Wunderkammer schien ihr jetzt bezaubernd genug, um sie zu fesseln – Turid ging im Stechschritt, so gut ihr Bein es zuließ, denn sie wollte ihre Niederlage hinter sich bringen und das schnell. Das drängende Feuer, ja eigentlich jegliche Willenskraft, schien sie irgendwo zwischen Spalt und Hang abgelegt zu haben. Nur ein einziges Ziehen verlangte ihre Rückkehr, und sie gehorchte ihm, wenn es auch zu einem zukunftslosen Zuhause führte, das mit seinen Steintrümmern und fingertiefen Tümpeln an Kargheit nicht zu übertreffen war. Eine andere Wahl hatte sie ohnehin nicht: Der einzig andere Weg führte den Gang hinauf, wo Beowulf sie abfangen und nach einem Blick auf die blutigen Schrammen und den Staub auf ihren Kleidern gewaltig aus der Haut fahren würde. Es war nicht sein Zorn, der ihr den Magen flau werden ließ – jedenfalls versicherte sie sich das – sondern einzig und allein seine Verbitterung.

Was jetzt sein würde, wusste sie nicht. Innerlich sprengten ihre Gedanken dazu im Kreis, äußerlich aber prallte die Frage an ihr ab wie Regen auf einem eisernen Schild. So, wie sie die Lippen zu schmalen Strichen presste, hätte man meinen können, eine fremde Gewalt hielte ihre Gesichtszüge fest, weil sie an einer in Stein gemeißelten Turid groteske Freude fand. Nur einmal duckte sie sich wie ein Hase, nämlich als sie sich durch die zweite Spalte quetschen musste, doch von eingezogenen Schultern konnte darüber hinaus keine Rede sein: Die Ernüchterung sah aus wie Stolz, so unantastbar, wie sie dort ging. Nicht einmal Beowulf, der geübte Leser ihrer Grimassen, hätte erkennen können, dass ihr Weg ein Gang des Scheiterns war.

Erst, als sie sich auf den letzten Schritten gen Trümmerfeld noch einmal umwandte, um dem Tunnel ihren letzten Tribut zu zollen – einen anderen Weg aus ihrem verhassten Steinkessel gab es nicht für sie, und Beowulf würde ihr nach ihrer Aktion nie wieder hinaufhelfen – regte sich ein Muskel ihrer Miene. Früher oder später würde ihr Lebensgeist wiederkehren und wenn sie es schaffte, das hieß, wenn sie diese Felsen doch noch einmal betreten sollte, dann wäre sie wirklich auf der Flucht und dies ihr einziger Fluchtweg. Dann würde sie sich sogar, so erbärmlich sie auch daran versagte, besser vorbereiten und vor allem ihr Gewissen mit sich ins Reine bringen. Falls sich denn jemals eine solche Gelegenheit bot.

Turid zwang sich zur Wirklichkeit und kostete mit geschlossenen Augen den vertrauten Luftzug aus der zerklüfteten Ebene unter ihr. Das gedämpfte Grollen zu ihren Füßen erzeugte eine sanfte Schwingung in ihren Ohren, die einer Sprache nie ähnlicher gewesen war. Wo warst du?

Turid, die in all ihrer Zermürbung keinen Gedanken mehr daran verschwendet hatte, wie sie unbeschadet die Schräge hinuntergleiten konnte, platzte in diesem Moment der Kragen.

„ZUM TEUFEL MIT DIR!"

Ehe sie wusste, wie ihr geschah, hatte sie sich über die Kante geschwungen, im Sprung blindlings nach einem Fleischbrocken gegriffen und ihn in die Dunkelheit geschleudert. Kaum den Bruchteil einer Sekunde nach ihrem eigenen Aufprall auf dem Boden ertönte ein schwaches Klatschen, Fleisch auf Fleisch, und sie erkannte zufrieden, dass sie getroffen hatte. Aber Hadubrand fauchte nicht. Nein, er japste nach Luft, unter dem Geräusch der rasselnde Rest eines Jaulens. Habe ich es also doch noch geschafft, dich zu überraschen, dachte sie und griff sich atemlos an die geprellte Brust.

So richtig sicher, dass er sie nun nicht seinerseits überraschen wollte, indem er ihr den Kopf abriss, war sie sich nicht. Es war allerdings noch genügend Leere in ihrem Herzen, als darüber etwas anderes als Stumpfsinn zu empfinden. In düsterer Erwartung hatte sie die Lider dennoch fest aufeinandergepresst; eine Schutzreaktion, die Turid selbst in der Finsternis nie verloren hatte. Dumm, schimpfte sie sich, soll er mir doch die Augen herausreißen, dann bin ich wenigstens die Tränen los.

Sie starrte mit einer tödlichen Herausforderung in die Schwärze, die selbst den tapfersten Ritter das Fürchten gelehrt hätte, aber natürlich geschah nichts dergleichen. Hadubrand schlich sich nur heimlich, still und leise an sie heran, leicht wie ein Windhauch.

Und Turid – ahnungslos. Je länger sie röchelnd auf dem Boden lag, desto bewusster wurde sie sich der Stille; eine ganze Weile lang hörte sie gar nichts außer ihrem eigenen Schnaufen und einem tonlosen Dröhnen, das von irgendwoher kam. Es war, als fühlte sie die Steine ächzen und die Luft rauschen, aber gleichzeitig schienen ihre Ohren in Wolle getaucht. War dieses Brodeln der Luft ein Echo des Sturmes oder der sechste Sinn ihres Verstandes, der sie verzweifelt auf eine furchtbare Bedrohung aufmerksam machen wollte? Vielleicht auch nichts anderes als eine Spinnerei der Fantasie? Bei Gott, tat ihr die Lunge weh.

Plötzlich landete etwas Warmes auf ihrem Kopf. Turid zuckte, schrie mit schwacher Stimme auf und zerstörte damit dumpfen Dunst der Höhle, all ihre Gleichgültigkeit dahin. Ihr Herz schien jetzt endlich mit einem hastigen Klopfen zu erwachen – zusammen mit dem Bewusstsein, dass sie ohne Rettung oder Rückendeckung auf dem Boden kauerte. Was in aller Welt war in sie gefahren?

Abgeschreckt vor der Angstwolke aus ihren Poren wich Hadubrand zurück. Turid hörte aber sogleich das Schaben seiner Haare auf dem Felsengrund, als er nach einem kurzen Zögern – ein Hund hätte das wimmernde Häufchen zu seinen Füßen in dieser Pause mit schiefgelegtem Kopf betrachtet – noch weiter zu ihr heranrobbte.

Greifbar nah musste er jetzt sein, denn seine Präsenz war unumstößlich, unbestreitbar, unglaublich... warm. Und dann kam auch sein Herzschlag zurück, ein Drumm, das sehr gelassen klang und gleichzeitig sehr bewegt. Als die Hitze wieder ihren Scheitel traf, hielt die am ganzen Körper bebende Turid sie erst für Hadubrands Zunge; allerdings fehlte die vertraute Glätte ihrer Spitze und die kleinen Hubbel danach, wenn die Textur des Fleisches in raue Schuppen und schließlich in Stacheln überging. Turid musste es wissen, unzählige Male war dieses Muster schließlich über ihre Haut geschabt. Nein, das, was da still und pulsierend auf ihren Haaren lag, fühlte sich an wie ein dickes Kissen.

Und eigentlich, dachte sie, ist es doch sehr flauschig.

Stumm öffnete sich ein Lid nach dem anderen und zog die blicklosen Pupillen gen Decke. Dann huschten sie im Zickzack hin und her, als sich Turids Burstkorb wieder zu heben begann. Die Wärme schwoll mit. Ausatmen. Die Wärme senkte sich.

Nie zuvor hatte sie je etwas so Tröstliches erlebt. Nicht, seit ihr Vater ihr das letzte Mal mit der Hand übers Haar gefahren war, ein gut gemeintes Lächeln im Gesicht. Wie ein lange vergessener Traum spielte sich die Szene vor ihren Augen ab, wieder und wieder, wie er ihr versichert hatte, das alles gut würde, dass er siegen würde, wie er immer gesiegt hatte. Dass Turid sich nicht sorgen sollte, sondern sich darauf freuen, dass sie bald heiraten, ein neues Leben beginnen dürfe. Sie sah ihn so deutlich wie am letzten Tage vor sich, wie er durch das Tor getreten und gestorben war; wie das neue Leben tatsächlich geworden war, nicht die Spur jener Liebe, die ihr Vater damals verkündet hatte.

Bis heute.

Und ausgerechnet von ihm.

Sie war ein Mensch. Natürlich sehnte sie sich nach Berührung. Doch wenn die Nächte zu finster wurden und der Winterhauch so bitterkalt, dass selbst die Schafswolle als Verbündete versagte, dann kam Turid stets Beowulf in den Sinn, weil er der Einzige und auch so einsam war. Und das war stets der Punkt, an dem sie aus dem Schlaf schreckte und Wünsche, an die sie nicht einmal wagte zu denken, erstickte wie ein Feuer: Nicht einmal die kälteste Einöde durfte Turid daran hindern, sich vor sich selbst zu schützen. Waren die Träume erst verbannt, lebte es sich wieder leichter. Zurück blieb nur die Gewissheit, eines Tages am eigenen Willen zu scheitern – Gott behüte, wozu ihr ausgelaugter Geist dann fähig sein mochte.

Jetzt aber war ihr Hadubrand, dieses ekelhafte dunkle Wesen, zuvorgekommen. Die Scham war brennend, schmerzhaft, viel quälender, als sie bei Beowulf je hätte gewesen sein können. Das Vieh war immerhin ein Menschenfresser, eine Spinne, eine Hexenbrut.

Die flaumigen Zotteln kitzelten ihr in den Locken herum, gefolgt von zwei, drei Knuffen; es war so absurd, dass Turid sich vorkam wie ein verhätscheltes Haustier. Der Stolz wollte sie trotz der Wonne schon zum Rückzug überreden, da war die Wärme plötzlich weg.

Wenige Augenblicke später schwebte sie vor ihr in der Dunkelheit und wandelte sich, wurde vom behaglichen Gefühl sanften Sonnenscheins zur schneidenden, prickelnden Hitze, jener, die Turid schon kannte. Das Glühen auf ihren Wangen verriet ihr, dass Hadubrand seinen Fortsatz absenkte und über sie hielt – dann schwenkte er herum und hinterließ kühle Luft und Verwirrung auf Turids Gesicht.

Tatsächlich", entfuhr es ihr, als sie begriff, das Wort mit schmalen Augen in die Luft gespuckt, die verkniffene Miene aufgehellt. Beowulf hatte also Recht gehabt. Das Tier war wirklich, wahrhaftig, fähig zu denken und zwar so, wie ein Mensch denken würde. Hadubrand war schlau.

Ein tiefes Grunzen schwoll aus dem riesigen Leib, bevor er es sich vor der schrägen Felsplatte bequem machte. Die Wärme baumelte in der Finsternis wie eine Laterne.

Turid spürte, wie sich die Haut auf ihren Lippen zusammenzog, als die Feuchtigkeit langsam aus der Luft verdunstete. Ich habe zwar keine Ahnung vom Dörren, sagte sie sich, aber genau so müsste man es wohl machen, nur mit mehr Rauch. Sofort jagte ihr Gedanke an ein Feuer – flackernd, knistern und sehr hell – einen Schauder über den Rücken. So etwas gehörte nicht in die Finsternis. Dann doch lieber die urtümliche Magie Hadubrands.

Eine Weile lag sie nur mit geschlossenen Augen auf dem Boden und genoss die unverhoffte Zuwendung wie ein heißes Bad. Immer wieder schlich sich ihr der Schock über die zarte, ja fast ermutigende Berührung in den Sinn, auch wenn sie krampfhaft versuchte, nicht daran zu denken. Dass sie schon lange einer Sonderbehandlung unterstand, das war klar; das Tier hatte den Eroberer gefressen und wohl auch alle anderen Hingerichteten, die jemals das Pech gehabt hatten, am falschen Ende des Schlundes zu landen. Die Märchen waren wahr, das waren sie meistens. Nur in diesem geheimnisvollen Wesen ein Monster zu sehen, wollte Turid einfach nicht mehr gelingen: Hadubrand war menschlicher als so manche Seele, die diese Höhle gesehen hatte. Insbesondere die letzte, dachte sie dumpf. Und was Beowulf anging, so hatte er stets ein für sie weltfremdes Verständnis von dem Wesen gehabt: Er sprach von ihm nicht weniger als Person denn bei Turid oder Adalger oder – nun, mehr Namen waren aus seinem Mund nie gefallen, obwohl sie ihm in besonders langen Stunden ihre gesamte Familie heruntergebetet hatte. Aber allein dass es diesen Namen gab, noch dazu ein so stolzer wie Hadubrand, das zeugte entweder von einem mächtigen Ungeheuer oder großer Liebe oder beides.

Wie gern hätte sie gesehen, wie die beiden miteinander umgingen. Schäfer und Hirtenhund? Soldat und Streitross? Oder doch der scheue Respekt eines Waldläufers zu seinem Bären? Sie würde es niemals erfahren, konnte sich Beowulf ja nicht einmal in die Nähe Hadubrands begeben und womöglich erging es Hadubrand ebenso. Vielleicht war er nur widerstandsfähiger, weil sein Herz so groß wie ihr Kopf und sein Leib schwerer als ein Dutzend Pferde sein musste.

Wenn das stimmt, kann für ein solches Phänomen nur die düsterste aller Magien verantwortlich sein, dachte sie, ein Fluch, der nur all zu gut in die schwarze Seele der Unterwelt passt. Und sie fragte sich, ob es schon immer so gewesen war. Die Vorstellung, dass auch Beowulf sich einmal an Hadubrand gewärmt hatte, versetzte ihr einen Stich ins Herz – weil sie im Wissen von heute so traurig war.

Allmählich löste sie sich von allen Illusionen, bis der Schlaf unter ihre Lider kroch. Sie hatte noch Zeit, zur nächsten Pfütze zu robben und den gröbsten Staub von der Haut zu waschen, dann kehrte sie zu Hadubrand zurück und schloss die Augen. Ihr Bewusstsein war im selben Moment wie weggefegt, führte sie in grau und gelblich leuchtende Gefilde, wieder zur sinkenden Sonne über ein spiegelglattes Wasser. Turid kannte diesen Traum und sie mochte es, ihn zu besuchen, diesmal sogar ohne die klamme Kälte in den Gliedern, die ihr sonst den Schlaf zu stören pflegte.

Als sie lange später erwachte, war Hadubrand fort. Stattdessen lag genau da, wo er es sich gemütlich gemacht hatte, die Anwesenheit eines kleinen leblosen Dinges in der Luft: Ein ordentlich zugeknotetes Bündel, stumm einer Hand entglitten, die Stunden zuvor verschwunden war. 

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