Kapitel 38. Die Winde und ein Schicksalsspiel

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Der Wind pfiff so grob durch Turids Kleid, dass sie genauso gut auf der Spitze eines Berges hätte stehen können. Aus der schmalen Öffnung hinter ihr zischte er hinaus, gebündelt und eingesogen von einem gewaltsamen Unterdruck; in die zerklüfteten Steilwände rauschte er hinein und versank in der Schwärze. Turid konnte hören, wie er sich an den gigantischen Felsbrocken der Schlucht brach, an ihnen leckte und über sie hinwegsauste, bis er in den höheren Gefilden die halsbrecherische Geschwindigkeit einer Sturmböe erreichte. Als sie den Graben vor nicht allzu langer Zeit hinuntergestürzt war, hatte sie nur den Luftzug ihrer eigenen Flucht gespürt und wehende Haare über ihrer Schulter. Auch ihr Keuchen war kalt und schneidend gewesen. Aber diese gewaltigen Wirbel... die Lawine musste ein Loch zwischen zwei Gesteinsschichten gerissen haben, das dem Wind zur Pforte geworden war. Und er war laut; lauter als das meiste, was Turid in der Höhle zu hören bekam. Allein ihre fest auf die Ohren gepressten Hände vermochten das Brausen zu dämpfen.

Niemals zuvor hatte die Höhle eine solche Welt in sich verborgen: Wie erstarrt zierte Turids Gestalt die Trümmer dessen, was unter dem sternlosen Baldachin einst pechschwarze Klippen gewesen waren. Zu ihren Füßen thronten wuchtige Brocken, in der Schlucht verstreut wie abgehauene Köpfe steinerner Kolosse. Zwischen ihnen wirkte ihr verkümmerter Körper wie ein Glühwürmchen in der Nacht: Die blasse Haut leuchtete ebenso wie die Überreste des Stoffes darauf, von dem Turid nie wissen würde, dass er einmal weiß gewesen war.

Zweifel? Nicht im Geringsten. Turid brauchte keine Bilder vor ihren Augen, keine Spuren unter ihren Füßen, keine Duftnoten in ihrer Nase. Das Bewusstsein um diesen Ort hatte sich so tief und heiß in ihre Seele gebrannt, dass sie ihn noch als Greis wiedererkannt hätte: Hier war es gewesen.

Beinah konnte sie den Geist der Szene an sich vorbeirauschen fühlen – eine verdreckte Gestalt mit in Todesfurcht aufgerissenen Augen, die hier mehr entlangflog als rannte, in ihrem Nacken das Brüllen eines Biestes, nun lange verstummt. Aber sein Nachhall war noch da. Beißend füllte er ihren verschlossenen Gehörgang, bis sie nicht anders konnte, als sich die Hände wieder von den Ohren zu reißen.

Wie in Trance glitt Turids Körper nach vorn, den Felsformationen entgegen.

Welche verheerende Schneise der Einsturz auch immer angerichtet haben mochte, dieser Teil der Schlucht war beinah erhalten. Mit links und rechts weit ausgestreckten Armen drehte sie sich durch die Schuttmassen und vollführte so einen grotesken Tanz in der Dunkelheit, dessen Schritte immer behutsamer wurden, desto weiter sie sich vom Spalt entfernte. Ihre Fingerspitzen strichen dabei erst über winzige Kiesel und dann über Felsbrocken, in die sie tausendfach gepasst hätte. Bald hatte sie ihn gefunden: Einen eigenartig runden Stein, der sich gerade so noch heben ließ. Ein kurzes Tasten und Turid atmete aus – auch wenn Form und Maße an die Fratze eines Schädels erinnerten, es war keiner. Zu schwer. Zu rau. Deshalb aber nicht minder erschreckend.

Es war der Stein, der die Hatz wie ein Blitzschlag beendet hatte, derjenige, der sie den Abhang hinuntergeschickt hatte. Wieder drehte sich ihr der Magen um, als die Erinnerung an den Fall zurückkehrte, wie sie über die große Schräge geschlittert war, die nicht weit von ihren Füßen entfernt in der Finsternis lauerte. Kaum eine Handbreit hatte sie damals von jener schrecklichen Bodenlosigkeit getrennt, die links und rechts an der Platte vorbeilief; sie hatte die Fallwinde gespürt, das Brodeln aus einer unbekannten Tiefe, aus der jetzt der Sturm nach oben rauschte. Vielleicht eine Bewegung mehr, und sie wäre über die Zacken des Abgrunds gefegt worden und der Eroberer mit ihr. Und obwohl Turid dankbar war, wie wild ihr das Herz gegen die Rippen schlug und dass es schlug, ein tief vernarbter Teil von ihr wünschte sich, sie wäre gefallen – dann hätte sie vor dem Sterben erfahren, welche Sphären den Wind dort unten schöpfen mochten.

Statt aber in diesem schwarzen Rachen zu verschwinden, hatte sie nur eine andere Welt aufgefangen, eine, die dadurch zum Untergang bestimmt war. Denn der Eroberer war ja kaum eine Sekunde später aufgetroffen und hatte die Welt vernichtet, bevor Turid sie kennenlernen konnte. Und dann, bevor die Staubwolken zum Erliegen gekommen waren, hatte er sie in seinen Fängen gehabt. Auch wenn er nie so weit gekommen war, wie er hatte wollen – sein Griff war ein Brandzeichen, das nicht ihre Haut, wohl aber ihre Seele zierte.

Ein Glockenschlag war dieser Sturz gewesen: Einer von jenen, mit dem man das Zeichen von herannahenden Katastrophen sendet, bei dem alle wissen, dass großes Elend über die Länder fallen wird. Nicht anders war es bei ihr gewesen, nichts anderes hatte sie erlebt als die Zerstörung von etwas, das sich einmal Heimat und Heil genannt hatte. Ihr zweifach gebrochenes Bein zuckte.

Ruckartig wich sie zurück und verfiel dann ungeachtet des Schmerzes in eine wahre Hast, nur weg von ihrem schicksalhaften Stolperstein. So besessen, wie sie einst genau diesen Hang hinuntergeflogen war, kämpfte sie sich jetzt hinauf und das Läuten lag ihr lebensecht in den Ohren, klang wie Begräbnisläuten. Sie stürzte und schlug sich das Knie auf, rappelte sich hoch, stürmte weiter, stürzte erneut und dann wieder. Es waren die Kiesel, die unter ihrem hämmernden Bein zu rutschen begannen, die der Flucht ein jähes Ende setzten.

Mit zitternden Knien ging sie in die Hocke, grub ihre zerschrammten Füße aus dem Geröll und rollte sich behutsam zur Seite, bis sie den Rand einer windgeschützten Nische zu fassen bekam.

„Beruhige dich." Turid presste die Stirn an die raue Klippe.

Es war alles vorbei. Niemand trachtete ihr jetzt nach dem Leben, keine Männer und erst recht keine Steine. Kniehohe missgestaltete Brocken hatten keine Schuld an einer üblen Verkettung von Ereignissen, Turid, sagte sie sich, du musst aufhören, in der Höhle Lebendigkeit zu sehen, wo sie nicht ist. Sie erinnerte sich, das Prinzip der Vernunft trotz der Todesangst schon damals erkannt zu haben: Früher oder später wäre einer von ihnen gestürzt und wäre der Eroberer der erste gewesen, so hätte es ihn ohnehin nicht aufgehalten. Was sie sich jetzt vor Augen führen musste, war eine einfache Tatsache: Solche Geräusche in der Dunkelheit, die Laute des Gejagtwerdens, würde sie nie wieder hören müssen, und sie würde sich nie wieder das Bein brechen lassen müssen und in Angst vor dem, was dieser Mann ihr in seinen grausamen Gelüsten hatte antun wollen, musste sie auch nicht mehr leben. Schließlich trocknete er gerade weit unter der großen Schräge auf ihrem kleinen, harmlosen Zwilling und wartete darauf, auf ewig verschmäht zu werden.

Bald hatte Turid die Kontrolle über ihre zitternden Finger wiedererlangt. Die Wange noch immer an den Stein gedrückt, starrte sie in die Dunkelheit hinab. Sie konnte beim besten Willen nicht sagen, wie tief der Fall gewesen war, denn die Schwerelosigkeit hatte sich endlos angefühlt und der Wind und der Schall pfiffen so rasant über die Klippe, dass ihr Ende nicht mehr auszumachen war. Steil, aber nicht zu steil musste er sein, hatte sie den Sturz doch überlebt. Nun wusste sie wenigstens, dass die Wanderung auf der Suche nach den Bündeln bergauf gegangen und darum so kräftezehrend gewesen war.

Sofort war der Gedanke an Beowulf wieder da.

Turid schloss die Augen. Auch wenn sie trotz all der Panik noch immer das Gefühl hatte, bei Verstand zu sein, schien eine Umkehr mehr denn je ausgeschlossen. Das hätte sie wissen müssen – einmal der Verlockung einer Flucht ergeben, würde sie dem Zurück nicht nachgeben. Von wegen später entscheiden.

Aber war es nicht ungerecht? Wer hätte denn schon ahnen können, dass sie sich genau hierhin verirren würde, in einen Gang, der wider Erwarten noch existierte und nach ein paar Biegungen schnurgerade nach oben führte? Sie direkt unter dem Schlund ausspucken würde, der als Aufbruchsort hundertfach geeigneter war als der karge Steinkessel, in dem sie jetzt hauste? Das war ein geradezu fantastisches Angebot, ein viel besseres, als sie sich je hätte erträumen können, eines, das sie nicht ablehnen konnte. Immerhin hatte sie schon wenige Tage nach dem Ausklang ihres Fiebers nach oben gewollt, daran erinnerte sie sich gut. Sie erinnerte sich auch, dass sie Beowulf erzählt hatte, wie sehr sie unter der Leere ihres neuen Zuhauses litt. Und er hatte nichts gesagt.

Zu ihrer eigenen Überraschung blieb der Zorn darüber aus. Ja, dachte sie, hätte er nicht über die Kammer und die Schlucht geschwiegen – und das hatte er willentlich getan, wusste er doch über jeden Winkel der Höhle Bescheid – er hätte sie nur noch unglücklicher gemacht: So hätte sie nur die Tage voller Gram darüber verbracht, ihrem Ziel so nahe zu sein und es doch nicht erreichen zu können, weil ihr Körper noch zu schwach dafür war.

Turid blinzelte. Noch zu schwach? Oder viel eher – zu verkrüppelt?

Und dann kam er, der Moment der Erkenntnis. In dem, was man am ehesten als Schrecksekunde bezeichnen konnte, blitzte ein Gedanke auf, der sie glücklich machte – nämlich, dass Beowulf nicht verraten werden musste – aber dann war diese kurze Empfindung vorbei und ließ nur die Niederlage übrig. „Nein", murmelte sie mit weit aufgerissenen Augen und hob den Kopf von der Steilwand, „bitte nicht!"

Obwohl es vergeblich war, ihren schrecklichen Verdacht zu prüfen, krabbelte sie dennoch aus der Nische heraus und krallte die Finger in den Schutt. Genau wie eben rauschte eine Handvoll davon unter ihren unbeschuhten Zehen davon; sie warf sich wieder einen Sprung nach vorn, nur um erneut mit einer Fuhre Kiesel hinabzugleiten, das steife Bein wie ein Rammbock voraus. Turid versuchte, sich mit dem gesunden Fuß gegen die Steine zu stemmen und sich so zu schieben; es folgten quälende Minuten des Kraftaktes, in denen sie Fingerbreit und Fingerbreit nach oben robbte und auf dem Bett aus Geröll doch kaum vorankam. Als die schweißbenetzte linke Hand, die einzige, mit der sie sich vernünftig festhalten konnte, an einem Vorsprung ausglitt und Turid aufs Neue nach unten rauschte, vergrub sie das Gesicht in den Armbeugen und gab schluchzend auf.

Irgendwo dort oben wartete der Schlund, still und erhaben, zu seinen Füßen der schwarze See und tausend Wege, von denen einer in die Freiheit führte. Aber ein Bein und acht Finger waren nicht genug, um es zu schaffen. So grausam war das Spiel des Schicksals. 

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