Kapitel 37. Übriggebliebenes

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Kehr um, kehr um, kehr um. Mit jedem Schritt, der ihre Brust zum Beben brachte – der Auftritt des linken Beines kräftig, der des rechten unbeholfen – hörte sie diese Worte, geflüstert wie ein lebendiges Echo, so als wären sie wirklich da. Aber da war nur Stille in der Dunkelheit, Stille und die Schritte und ihr Keuchen und ein kleiner, erschreckend unregelmäßiger Herzschlag. Viel arhythmischer jedenfalls als der monotone Singsang ihrer Gedanken. Kehr um kehr um kehr um...

Wie kannst du ihm das antun?, schrie ihre innere Stimme. Daraufhin ließ sie die Finger an der Wand entlangschrammen, bis der raue Stein ihre Haut zum Brennen brachte. Turid hoffte, dass es sie zur Besinnung bringen würde, aber der Schmerz war nicht schneidend genug.

Wieder ein Humpeln, dann noch eins, immer vorwärts. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Turid zurück, den Kopf wie eine Eule im Flug gedreht, als wolle sie einen Irrtum korrigieren und sich selbst die richtige Richtung weisen. Aber ihre Füße trugen sie ohne Gnade vorwärts, die Verbindung zu ihren Beinen schien gekappt.

Ein kurzer Halt, als der Wille dazu endlich stark genug war – Turid vergewisserte sich, dass die Stille auch wirklich unberührt blieb. Und sie war es. Hadubrands Schnaufen hörte sie schon lange nicht mehr und Beowulf war irgendwo in den Tiefen der Höhle verschwunden; es gab niemanden, der sie an diesen ungleichmäßigen, verhängnisvollen Schritten hinderte: Sie war frei zu laufen, solange der Gang seine Arme für sie ausbreiten würde oder bis die Erschöpfung sie niederzwang.

Natürlich würde sie den Kürzeren ziehen. Sie sind schließlich Schlunde, dachte sie, in die man ewig gehen oder ewig fallen konnte. Bis Hadubrand ungeduldig werden würde und Beowulf etwas davon mitbekam, wäre sie längst auf und davon.

Das ist jetzt also meine Flucht, dachte sie. Einfach so.

„Es tut mir leid", flüsterte sie schwach. Als sie langsam vor dem Trümmerfeld zurückgewichen war, hatte sie gedacht, ihr Gewissen würde sie umbringen, bevor sie die erste Biegung erreicht hatte. Aber der Drang, weiterzugehen und diese kostbare Gelegenheit nicht verstreichen zu lassen, war übermächtig, so überwältigend, dass er all ihre Skrupel totbiss wie ein wildes Biest seine Beute.

Turid hatte bereits früher mit ihrem Verstand gegen den Instinkt gekämpft, mehr und weniger verbittert. Zum ersten Mal, als sie im Angesicht des klaffenden Schlundes zu allem bereit war, um nicht hineingestoßen zu werden und sich am Ende doch dafür entschied. Dann, als sie vor Hadubrand davonrennen wollte und trotzdem widerstehen musste. Oder als sie nach jener fürchterlichen Flucht vor dem Eroberer nur die Angst gekannt und sie mit ihrem Gezappel in Beowulfs Griff beide in Gefahr brachte, bis sein Mut zuschlug wie eine Ohrfeige.

Der Gedanke daran bereitete ihr beinah körperliche Schmerzen, und so redete auch diesmal die Vernunft auf sie ein, dass das, was sie jetzt tat, eine unbeschreibliche Dummheit war – ohne Augenlicht und ohne Proviant nur mit einem Fetzen am Leib nach einer Spalte suchen, die wer weiß wohin führen mochte. Damit all ihre Pläne zerstören, Beowulf für sich zu gewinnen. Dadurch mit etwas Pech vielleicht sogar sterben.

„Was wirst du tun, wenn es schiefläuft?", sprach sie unwillkürlich aus, was ihr durch den Kopf schoss. Die Schwärze lauschte ihrer Stimme und antwortete nicht, aber die Worte waren ja auch nicht für ihre Ohren bestimmt.

Ein Schluchzen, das sie nicht mehr zurückhalten konnte, hallte hell durch den Gang.

Was, wenn er sie Tage, vielleicht Wochen später halb verhungert und bitterlich frierend in einer entlegenen Bucht der Höhle fand? Würde er vor Wut die Besinnung verlieren, bis sie kniend vor ihm um Vergebung flehte? Und würde er ihr dann verzeihen, dass sie sein Vertrauen missbraucht und seine Verletzlichkeit ausgenutzt hatte in diesem seltenen Moment, in dem er sich vor Schmerzen am Boden krümmte und gegen ihre Entscheidung machtlos war? Würde er sie – bestrafen?

Ein kalter Hauch von der Seite küsste ihre Wange und riss sie aus den Gedanken.

Die Abzweigung war noch da, direkt zu ihrer Rechten, unter dem luftigen Baldachin einer weit geöffneten Decke. Turid blickte auf und starte mit einem gequälten Ausdruck in die Finsternis.

Dort war er. Ginge sie jetzt geradeaus, würde sie ihm vielleicht entgegenkommen. Er würde es nicht gutheißen, denn er hatte gewollt, dass sie ging... vielleicht, weil sie einem lautlosen Befehl Hadubrands Folge leisten musste, allein gen Trümmerfeld zu ziehen. Vielleicht aber auch, weil Beowulf selbst es nicht ertragen konnte, vor Turid derart entblößt zu sein. In jedem Falle würde er sie mit einem verärgerten Kopfschütteln in Empfang nehmen, womöglich sogar in eine üble Laune verfallen – doch im Geheimen, das spürte sie, wäre es eine Ehre für ihn, dass sie sich zur Rückkehr entschlossen hatte.

Und jetzt stand sie da. Direkt vor einem Loch in der Wand mit einem Haufen Steine zu ihren nackten Füßen, arglose Trümmer, die vielleicht Wegweiser für ihre Freiheit sein würden. Turid konnte beinahe fühlen, wie die Neugier an ihr riss, als würden diese Brocken die Hände nach ihr ausstrecken und komm, komm! säuseln.

Sie war schon kurz davor, sich die Haare zu raufen oder besser noch herauszureißen – ein stummer Akt der Gewalt, weil herausgebrüllte Verzweiflung sie verraten hätte – da schoss ihr ein Feuer die Finger hinauf. Mit einem abgewürgten Schrei in der Kehle betrachtete Turid die rechte Hand, die sich ohne Gegenwehr zur Faust hatte ballen lassen und jetzt, krampfend wie in der Totenstarre, glühende Ströme des Schmerzes in die Finsternis sandte. „Ah", entfuhr es ihr, ein kurzes Aufkeuchen. Eine Glanzleistung, schalt sie sich, ein wenig mehr Wut und du hättest deiner lädierten Hand wieder die restlichen Finger gebrochen.

Plötzlich stutzte sie.

Die Stille war auf einmal sehr deutlich und die Schwärze sehr klar. Und sonst war da nichts. Die magische Anziehungskraft des Spaltes war verschwunden, das Drängen pulsierte nur schwach an seiner Quelle oberhalb ihres Magens. Stattdessen ergoss sich ein klares Gefühl in ihre Adern – der Eindruck, wieder denken zu können, zumindest ein wenig. Ihr war, als hätte der Schmerz sie zurückgeholt.

Die Luft – federleicht. Die Erkenntnis ließ ihr Lächeln darin schweben.

Ich kann immer noch zurück, überlegte sie. Ich kann einfach durch und mich umsehen, und danach eine Entscheidung treffen, denn ich bin ein freier Mensch, wenn auch nur für diese kostbaren Stunden. Die Höhle würde ja kaum zuschnappen und den Durchgang verschließen, wenn sie dem Ruf einmal gefolgt war... nun, das hoffte sie jedenfalls.

Jeder Gedanke an den Mann aus der Finsternis zerstreute sich vor dem erwartungsvollen Hämmern in ihrer Brust. Vorsichtig stemmte sie die gesunde Hand an einen Vorsprung und drückte das Schienbein gegen die Steine. Auf Höhe ihres Knies würde es gehen, obwohl der Spalt zackig war und seine Ränder ausgefranst. Beim ersten Mal, als sie sich hindurchquetschen wollte, glitt ihr Griff an einer feuchten Stelle ab und Turid taumelte gegen die geriffelten Brocken zu ihren Füßen. Beim zweiten Mal klappte es. Die Nase fest an den nach schalem Kalk riechenden Felsen gepresst, zuckte sie kurz, aber entkam dem Griff der Spalte und zwang ihren Körper hinaus – oder besser: Hinein.

Das zerfetzte Loch spuckte sie in die Kammer wie eine unliebsame Speise. In dem Augenblick, da sie frei war und in die Finsternis stolperte, wusste sie, dass sie sich geirrt hatte: Kein Tunnel wartete hier auf sie, um ihr für die Wanderung den ersten Weg zu weisen.

Es war zuletzt an ihrem Geburtstag gewesen, gar nicht lange vor der Stürmung, als sie die große Festhalle von Gremholdshand betreten hatte. Ein efeugrünes Kleid hatte sie getragen, mit weißen Spitzen, und Schleifen im ordentlich gekämmten Haar hatte sie gehabt. Die zarten Bänder flatterten vor dem tanzenden Feuerschein und kitzelten sie, immer wieder, bis sie Adelheid bitten musste, sie streng hinter ihren Locken zurückzubinden. Die Kleine hatte gezurrt und geruckt und gelacht, bis es weh tat.

Genau wie dieses heitere Gesicht war die Festhalle in Turids Erinnerung lange verblasst. Es waren die letzten Tage des Winters gewesen und es mochten jetzt wieder die ersten Frühlingstage sein, und ihre Schwester war tot, aber der große Saal... vielleicht bedeckten wieder rote Wandbehänge dicht und schwer die Wände, weil sich nach dem Eroberer ein Nachfolger hervorgekämpft hatte. Vielleicht bröckelten aber schon die Gemäuer im pfeifenden Wind. Es hinderte Turid nicht daran, in diesem Saal, blind wie sie war, einen blassen Schatten der Festhalle zu sehen: Der dunkle Zwilling eines gewaltigen Raumes mit verzierten Steinsäulen und hohen Balustraden. Damals fand der Schall trotz der vollen Stoffe seinen Weg in alle Ritzen, um aus jedem noch so kleinen trunkenen Beisammensein ein prächtiges Fest zu zaubern; er vollendete die Musik in ihren zarten Klängen zu großen Tänzen und allein sein warmes Lichtspiel ließ das schwächste Lächeln breit erscheinen.

Hier, das dachte sie mit weit geöffnetem Mund, hätte man wunderbare Feste feiern können – kaum aus dem Spalt heraus, hatte ihr Herz einen musischen Beiklang empfangen, der weit emporragende, elegant geschwungene Decken vermuten ließ und Säulen wie ein gefaltetes Gewand. Ihre Hand zitterte, als Turid sie an den Stein neben die Öffnung presste. Die Oberfläche war spiegelglatt.

Turid schluckte ihre Bewunderung hinunter und fasste sich ein Herz. Warum eigentlich nicht, dachte sie? Ihren Kummer endgültig vergessen, schloss sie den Mund zum Oval und ließ sich zu einem dünnen Ton hinreißen. Die Wellen, die er schlug, trafen auf der anderen Seite des Saals auf ebenso feines Gestein und kamen fast makellos wieder zu ihr zurück. Sie hatte nicht mehr gesungen, seit die Vogelhochzeit ihr ein seltenes Stück Kindheit in die Höhle gebracht hatte. Die Flöte war verloren, aber hier war ein besseres.

Ja, die Kammer war kleiner als der große Festsaal in der Oberwelt, meinte sie. Und sie konnte nicht gänzlich geschlossen sein, denn von oben fegte ein schwacher Wind herunter, der sich bündelte und auf der gegenüberliegenden Seite verschwand. Und dennoch... wie schön wäre es, wenn dieses Wunder wirklich von Menschenhand gebaut wäre. Aber ohne Augenlicht würde Turid das nie sicher sagen können.

Sie trat einen Schritt nach vorn, verließ den Schutz der Wand. Aber sie fühlte sich nicht nackt ohne die Rückendeckung, kam ihr dieser Ort doch so vertraut vor. Nur hier gewesen, das war sie sicher nicht; dann hätte sie ihn wiedererkannt.

Mein Gott. Die Lippen hatte sie noch immer nicht wieder geschlossen. Hier riecht es sogar wie in unserer Halle.

Was allerdings, zugegeben, alles andere als eine Wohltat war. War zu später Stunde genügend Bier und Branntwein über den Tisch geflossen, so konnten sich die Männer zunehmend richtig amüsieren, bis sie zu betrunken waren, um geradeauszugehen, geschweige denn einen angemessenen Ort für ihre Hinterlassenschaften zu finden: Sie pinkelten einfach ins große Feuer oder in eine Ecke, ganz genau so, wie Turid es dieser Tage tat. Nicht, dass ihr damals je ein solcher Anblick widerfahren wäre – der hätte ja eine Wissenslücke gefüllt, die bis zur Hochzeitsnacht bestehen muss, dachte sie und lachte trocken – denn man warf die Damen und Burgmädchen lange vorher hinaus. Über die Unsittlichkeiten wusste trotzdem jede Frau Bescheid, denn der saure Geruch blieb so hartnäckig zwischen den Säulen hängen wie ein Schimmelpilz.

Allerdings biss ihr jetzt nicht nur Urin in die Nase; da waren auch alle anderen bekannten Noten, die ihre Fantasie zum Blühen brachten. Männerschweiß, heiße Kleidung, wallendes Blut. Wie eigenartig: Das Echo war so klar, dass die Luft es auch hätte sein müssen. Stattdessen war sie stickig und schwer. Etwas lag hier drin, sei es nur die Last einer lange entrückten Vergangenheit, vielleicht der Geist von Menschen, die hier gewesen waren. Irgendetwas knisterte wie Glut vor dem Ersticken. Ob es sie beunruhigt oder nicht, konnte Turid nicht sagen.

Mit einem ehrfürchtigen Ausdruck um die Augen schritt sie die Kammer entlang. So, wie der Rest ihres Kleides hinter ihr über den Boden schleifte, wie sie die Hände vor der Körpermitte verschränkt hielt, glich ihr Auftritt fast der Andacht einer Prozession. „Einer sehr einsamen", flüsterte sie.

Desto weiter sie wanderte, desto schwerer wurden ihr die Beine. Als ob ihre Fußsohlen am Boden festklebten – nun, so kam es ihr auch vor. Turid legte die Stirn in Falten, kniete sich, so gut es ging, in eine groteske Verrenkung und strich mit der Fingerkuppe darüber. Noch bevor die Hand auch nur wieder in der Nähe ihrer Nase war, schnaubte sie aus. Was immer es war, es zierte den Felsen schon eine Weile zu lang. Doch sie malte sich aus, sie ginge auf den Holzbrettern der Empore, auf denen früher oder später immer jemand Bier und Bratensaft verschüttet hatte. Es funktionierte gut. Ihr flauer Magen beruhigte sich.

Als sie die Hand ausstreckte, überraschte sie der Windhauch. Nicht stark, aber zielgerichtet. Tastend bewegte sie sich vorwärts und musste nicht direkt an die Wand herantreten, um den Ausgang der Kammer zu finden; er war das Spiegelbild des Spaltes, durch den sie hineingeschlüpft war. Ein Tapsen, ein Schlängeln, bröckelnde Kiesel – kalte frische Luft traf auf ihre Wangen. Und mit ihr eine Leere, die unbeschreiblich schmerzhaft war.

Es dauerte nicht lange, bis Turid begriff, dass sie in den Ruinen des eingestürzten Grabens stand. 

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