Kapitel 35. Ein Spiel

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Mit einem Geräusch, das große Erschöpfung verriet, ließ sich Turid zurücksinken. Die Haut an ihrem Daumen fühlte sich wund an; bestimmt war sie gerötet. Vorsichtig strich sie mit dem Ringfinger der Rechten – mein neuer Zeigefinger, dachte sie und kräuselte die Lippen – über die Kerbe, welche die Kante der Klinge in ihrem Daumen hinterlassen hatte. Sie war tief. Turid fragte sich, ob Beowulf, der in seinem früheren Leben wohl einige Tiere zerlegt haben musste, auch ein solches Mal hatte: Vielleicht verschwand die Druckstelle irgendwann einfach nicht mehr, wenn man die Klinge zu oft und zu fest in der Haut verkeilte. Wie sehr brannte es in ihr, das zu wissen! Fragen wie diese konnte er nicht ausstehen und die Finsternis hinderte sie daran, es über die diskrete Art herauszufinden.

Plötzlich stutzte sie. Dass sie seine Hände niemals würde sehen können, war ihr bewusst, doch befühlen... ja, gestand sie sich plötzlich, das würde sie wirklich gern tun. Einmal seine Finger in die ihren nehmen – niemals hatte sie ihn berührt, immer nur er sie – und sie untersuchen, damit spielen, die Wärme eines anderen Menschen genießen. Und nebenbei, ganz nebenbei, durfte sie sich dann auch nach der Kerbe erkundigen.

Voller Entsetzen stellte sie fest, dass ihre Wangen zu glühen begannen. Während sie sich schnell über das Gesicht rieb und hoffte, dass Beowulf weiterhin mit dem Ausbreiten der letzten Ladung Fleisch beschäftigt war, schluckte sie ihren Ärger hinunter. Nichts weiter als Wut über sich selbst, weil sie sich bei irgendetwas ertappt zu haben schien, ohne recht zu wissen, wobei eigentlich.

Es spielte keine Rolle. Es würde nicht passieren. Was hatte er je von sich preisgegeben? Turid wusste, dass er aus dem Norden stammte, und zwar dem hohen Norden – nicht nur der seichten Küste, auf die man zuerst traf, wenn man stur dem hellsten Stern am Himmel folgte. Es musste bitterkalt werden und reihenweise Tannenwälder dort geben und so viel Eis, dass es tödlich war; die schier endlose Dunkelheit nicht zu vergessen, von der Beowulf ihr erzählt hatte. Das hatte sich nicht angehört wie eine behagliche Heimat, in der man gern verweilte. Wahrscheinlich war er sein ganzes Leben lang auf Reisen gewesen, immer rast- und ruhelos wie so viele einsame Jäger, die auch Turid manchmal durch den Schnee hatte stapfen sehen. Dann sein seltsames Erlebnis mit seinem König, an dem er fürchterlich zu hängen schien – so wenig, wie er ihn erwähnte. Und irgendwann, irgendwie, hatte die Unterwelt ihn verschlungen und gen Süden getragen, vermutete sie.

Turid vergaß ihre Beschämung sofort, um einmal mehr bei der Vorstellung zu erschaudern, dass das Höhlenlabyrinth endlos sei – bis über die Erdscheibe hinaus, womöglich. Ihre Stimmung wurde düster. Wenn das Schicksal wirklich so niederträchtig war, wie sie es bisher erlebt hatte, bestand ihr heiß ersehnter Ausgang vielleicht nur aus einem Loch, dass in eine weitere Finsternis mündete, eine Finsternis des ewigen Fallens. Wenigstens wirst du dort die Sterne blinken sehen, sagte sie sich.

Von Beowulfs Schritten wurde sie aus den Gedanken gerissen. „Ich habe es eigentlich aufschieben wollen", ertönte seine Stimme über ihr, „aber jetzt lässt du mir keine Wahl."

„Was?" Überrumpelt blickte sie in die Dunkelheit, die schmerzenden Hände neben sich zur Ruhe gebettet.

Er schnaubte belustigt. „Wenn du dich sehen könntest. Als wärst du in einen Kochtopf gesprungen."

„Ach", meinte Turid. Wohl wahr; das Fett schien überall zu sein. Es tropfte in noch größeren Bächen an ihr herunter als früher, wenn sie sich mit Heißhunger auf ihre Mahlzeiten gestürzt hatte, was wohl auch daran lag, dass sie sich das ständig ausgleitende Messer immer wieder am Kleid trockengewischt hatte. „Ich dachte, bis auf die Decke ist alles in der Steinlawine verlorengegangen", sagte sie und keuchte leise auf, denn ihr gesundes Bein ächzte unter dem Versuch, sich aufzurichten. Hoffentlich war ihr Gesicht wieder von der gewohnten Blässe. Wenn nicht, konnte sie beten, dass er es auf die Anstrengung schob.

„Nicht alles. Obwohl ich eine Weile danach suchen musste."

Plötzlich schoss ihr eine Welle der Erregung durch die Glieder: Die Aussicht, wieder in den alten Hinterlassenschaften längst verstorbener Hingerichteter zu wühlen, war verlockend. „Endlich geschieht was", murmelte sie kaum hörbar.

Beowulf schnaubte. „Komm hoch, bevor ich es mir anders überlege", knurrte er. Ein kräftiger Griff packte sie unvermittelt am Oberarm und verhalf ihr zu einem wackeligen Stand – Turids funkelnden Blick ignorierte er.

Sie merkte allzu bald, warum Beowulf davor gescheut hatte, sie zu seinem neuen Versteck zu bringen. Erst seit kurzem war sie wieder halbwegs auf den Beinen, doch das mehr schlecht als recht. Ja, das Trümmerfeld war riesig, aber nicht sehr abwechslungsreich – ein paar große Brocken hier, einige Stolpersteine da, hin und wieder eine kleine Pfütze, sonst nur Wände und die schiefe Fläche. Ein schönes, natürliches und recht biederes Gefängnis, hatte Turid mit bitterer Miene befunden und ihre gleichförmige Entdeckungsreise fortgesetzt, Kieselsteine kartografiert, Tag für Tag. Grobe Fahrlässigkeit, wie sich herausstellte: Nachdem Beowulf sie zur Schräge geführt und mit großem Geschick um das ausgebreitete Fleisch und einige treppenartigen Felszacken gelotst hatte, grub er auf einmal erneut die Finger in ihre Haut, diesmal um beide Handgelenke, und zog sie mit einem Ruck nach oben. Verdutzt blieb sie für einen Moment wie erstarrt am Rande der Ebene stehen und freute sich unheimlich, war ihm dann für eine kurze Weile unter seinen wachsamen Augen sogar voraus, aber bald konnte sie ihr Keuchen nicht mehr zurückhalten. Die Wanderung durch das zugige Labyrinth schien kein Ende zu nehmen.

Als sie sich auf ihren nackten Fußsohlen gerade durch eine besonders lästige Schicht aus faustgroßen Kiesbrocken kämpfte, lief sie in Beowulfs Ungeduld hinein wie in eine Wolke schlechter Luft. Er hatte Mühe, sie in seinem gesunden, flinken Lauf nicht zurückfallen zu lassen: Einmal war es neben dem breiten Geradeaus auch scharf und schmal nach rechts gegangen, und Beowulf war Turid schon so weit vorausgewesen, dass ihr für einen Moment das Herz in die Magengrube gesackt war. Erst, als sie einen kurz angebundenen Ruf aus dem breiten Gang vernommen hatte, war sie weitergeilt. Ginge es nach ihm, er wäre längst auf und davon und wahrscheinlich auch schon wieder zurück. 

„Langsam", rief, nein, bat Turid mit atemloser Stimme in den Gang hinein. Das Wort hallte an den dunklen Wänden zurück – der Tunnel musste sich noch ein gutes Stück hinziehen. Beowulf machte nur ein tiefes Geräusch, das allerdings recht deutlich seinen Missmut zum Ausdruck brachte.

„Ich habe mir", keuchte sie zur Antwort, „das Bein in mindestens ein Dutzend Teile zertrümmert. Zwei Mal! Verzeih mir, denn ich kann nicht behaupten, die fähigsten Heiler im Land gehabt zu haben." Kurz befürchtete sie, zu weit gegangen zu sein, denn Beowulf blieb stumm. Lebhaft hatte sie die Tage vor Augen, an denen sie sich fürchterlich gestritten hatten – alles nur, weil sein Gemüt zufällig in die falsche Richtung gekippt war. Eigentlich hatte Turid gedacht, dass sich seine Launen seit der Hinrichtung des Eroberers ausgeglichen hatten; immerhin konnte er sich jetzt bestätigt fühlen, dass sie ihn brauchte, ihm vertraute. Aber man konnte nie wissen.

Sie hörte ihn langsam ausatmen. Turid schloss die Augen und wappnete sich gegen das Unheil, das sie heraufbeschworen hatte. „Ich bin der fähigste Heiler dieses Landes", sagte er leise und sie konnte nicht umhin, einen sachten, doch kernigen ironischen Unterton zu bemerken. Ungläubig legte sie den Kopf schief. „Sicher?", fragte sie keck.

Hoffentlich lächelt er, dachte sie. Aber erfahren würde sie es nie, denn er schnitt ihr das Wort ab.

„Warte hier", sagte er.

Turid öffnete die Lippen, wie um etwas zu erwidern, überlegte es sich dann aber anders. Sie schluckte. „Wie lange?"

„Nun", meinte er, „ich hatte nicht umsonst wenig Lust dazu, den ganzen Plunder zum Trümmerfeld zu schleppen. Es wird dauern." Er brummte. „Mach dir nicht zu viele Hoffnungen. Wenn mir der Geduldsfaden reißt, kannst du es ohnehin vergessen."

Turid nickte. Sie ließ ihm ein freundliches „Danke" zukommen und machte es sich zwischen den spröden Kieseln bequem, den Blick noch immer auf ihn gerichtet. Es war eine Liebenswürdigkeit darin, die auf eine Vertrautheit zwischen ihnen beiden schließ, die eigentlich gar nicht da war. Als hätten sie sich bereits länger gekannt oder schon immer.

„Ich tu's ja für dich", murmelte er im Gehen, und sie glaubte, dass es ein Scherz gewesen sei, aber sicher war sie sich nicht.

Turid lehnte sich zurück und ließ ihre Gedanken fließen. Waren ihre Augen zunächst noch – vergeblich geschärft, so wie immer – auf die Schwärze fixiert, in die Beowulf verschwunden war, stellte sich allmählich ein eigenartiger Schummer hinter ihrem Blickfeld ein. Auf einmal waren die dunkelbunten Schlieren zurück, um sich mit pulsierenden blassfarbigen Kreisen in der Finsternis ein Schlachtgetümmel zu liefern. Wie interessant, konnte sie noch denken; die Irrtümer ihrer Sicht hatte sie nun schon eine ganze Weile erfolgreich verdrängt. Dann glitt sie über in einen ruhelosen Wachschlaf, das Herz immer klopfend, weil die fremde Umgebung sie in völliger Einsamkeit nun doch etwas ängstigte.

Im Traum lauschte sie Beowulfs Schritten, bis sie sich allmählich verloren wie Spuren im Sand, und sie wusste, dass dieses Geräusch echt war, zumindest bis zu dem Punkt, an dem sie nicht mehr sicher sein konnte, sich den Widerhall nur einzubilden. Spuren im Sand, hauchte eine Stimme in ihrem Kopf, und ein Bild stach in Helligkeit auf sie ein, heller als weiße Sonnen. Wieder erstreckte sich ein gleißender Himmel über endlosem Horizont. Turid, die irgendwo zwischen Nebel und sachter Brandung schwebte, wünschte sich in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als dort zu sein, die Zehen in den Schlick zu graben, das Licht auf den Wangenknochen tanzen zulassen, bis die regungslose, salzige Luft alle Erinnerungen verblassen lassen würde wie Balsam auf ihrer Seele.

„Turid", bellte Beowulf – zum zweiten Mal, denn aus einem sonderbaren Grund schien sie trotz ihres üblicherweise leichten Schlafes gegenwärtig sehr taub zu sein – und stieß dann, als ihr Atem weiterhin nur schläfrig dahintrieb, mit dem Stiefel gegen ihren Bauch. Eine Sekunde später hatte sie die Augen aufgerissen und schnappte empört nach Luft.

Er wollte sich schon in Sicherheit bringen und hätte dies auch vermocht, doch das Gewicht der Bündel auf seinen Schultern ließ ihn schwanken; so war sein Fuß nicht schnell genug und landete im Griff einer zielsicher hervorgeschossenen Hand. Turid hielt das Leder fest wie eine Bachforelle und riss es instinktiv an sich – so, wie man ebensolchen Fischen den Hals bricht – doch der Stiefel passte Beowulf scheinbar ausgezeichnet, machte nämlich keine Anstalten, nachzugeben. Kein Wunder, fiel ihr noch ein, er hat ja genügend Auswahl gehabt. Da wurde sie auch schon mitgerissen, als er den Halt verlor und mitsamt seiner Fracht hintenüberkippte.

Was folgte, war ein lauter Schwall Flüche in Althochdeutsch und zwei weiteren Sprachen, die Turid nicht verstand. Besonders nordisch-erhaben klangen die fremden Worte allerdings kaum.

Unwillkürlich entfuhr ihr ein vergnügtes Kichern. Die Leinsäcke brachen auf und versprengten ihren Inhalt in der Höhle, Beowulf drehte sich herum, offenbar im Begriff, die zappelnde Turid einzufangen; inmitten dieses Gewühls fand sie jedoch zuerst ihren Weg nach oben und rannte humpelnd davon, nicht ohne ihm noch ein wallendes Tuch entgegenzuwerfen, in das er sich hoffnungslos verhedderte.

Sie kam sogar ein gutes Stück weit, bis sie merkte, dass er nicht hinter ihr war. „Beowulf?", rief sie, wischte sich den Schweiß aus den Haaren und runzelte die Stirn. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass der Fall ihn an der Verfolgung gehindert haben könnte. Oder? Knochenbrüche – so etwas gab es doch bei ihm gewiss nicht?

„Was tust du?" Was tust du? Was tust du? hallte es erschreckend klar aus der Dunkelheit zurück. Zögerlich wanderte sie dem Echo entgegen, ein paar Schritte, dann noch ein paar, schließlich blieb sie stehen.

Sie konnte ihn flach atmen hören. Bevor sie Zeit hatte, aus der Starre zu erwachen, die sie wie eine Vogelscheuche im Gang stehen ließ, begann er zu krächzen.

„Ich muss fort", röchelte er. „Zu... nah."

„Was in aller Welt...?" Turids Knie zitterten plötzlich. Sie kannte diese Stimme. Sie wurde dünn und zerbrechlich gemacht durch das Beben seiner Lunge; als wäre da etwas Heißes in seinen Muskeln, das sie krampfen ließ. Beowulf unterdrückte den Schmerz. Genauso hatten seine Finger gezuckt, genauso hatte sie seinen stockenden Atem gehört, als er sie von Hadubrand fortgebracht hatte – als dieser den Eroberer zerfleischte.

Sie hörte etwas über den Boden schleifen; sie wusste nicht, was. „Geh", brachte er heraus, „alles wird gut."

Turid starrte ihn an. Es schien nicht so schlimm zu sein wie damals, da hatte er kaum sprechen können, sie kaum halten können. Jetzt konnte sie wahrnehmen, wie er sich aufrichtete, durchatmete, die Glieder lockerte und sich hastig tiefer in die Schwärze schleppte.

„Ich mache es", sagte sie. Ja, sie würde gehen, doch sollte er merken, dass sie nicht wollte. Nicht so. Aber da war er schon verschwunden.


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