Kapitel 31. Sinne

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Es war früh am Morgen, und die Höhle schlummerte in Stille.

Nicht, dass es im Reich der Dunkelheit etwas gab, das sich mit Tageszeiten vergleichen ließe. In der Oberwelt war den Menschen gar nicht bewusst, wie sehr sich das empfindliche Gefüge ihres Lebens durch die den Stunden schlängelte, sich hob und senkte wie eine Düne im Atem des Meeres. Nicht nur das Licht kündigte seinen Anbruch an, wenn es warm und sanft über die Hügel strich; auch die Luft wurde wärmer, schwerer; auch die Wolken und das Wasser und der Wind glitten stumm in die nächste Form, spielten mit neuen Farben und schmiegten sich an das Gesicht des Landes unter ihnen. Jedes Mal neu, jedes Mal anders. Jeder Tag ein kleines Wunder für sich.

Das war eines der wenigen Dinge, die Beowulf bis heute in Erinnerung behalten hatte. Jetzt dachte er einmal wieder daran, während er sich die Tunnel hinunterwagte und den Frühlingsfrost am Saum des hohlen Berges hinter sich ließ. In der Höhle gab es kein Flügelflattern, kein Hufgetrappel und kein Stimmenraunen, wenn die Welt in der Dämmerung zum Leben erwachte. Ebenso wenig, wie abends die große Erschöpfung, manchmal voller Zufriedenheit, manchmal in Elend, sich über die Gemüter von Mensch und Tier legte, bis der Mond aufging. Hier unten waren die Jahre nur lichtlos und lautlos. Und lustlos, hätte Turid wahrscheinlich befunden.

Beowulf, der über die Jahre stumpf geworden war und sich nicht mehr sonderlich an der schwarzen Ödnis störte, erfuhr den Abschied der Nacht als beiläufiges Bekenntnis seiner Umgebung, dass es früher einmal eine andere Welt für ihn gegeben hatte. Denn auch wenn die schlagenden Herzen von oben am Fuße der Lichtrinne fehlten und – anders als er vor langer, langer Zeit gehofft hatte – ebendiese Lichtrinne ihren Schimmer zu hüten schien wie einen Schatz und ihn nicht gerne preisgab, hatte er doch andere Wege gefunden, sein schwarzes Zuhause zu studieren. Hauptsächlich waren es feine Schwankungen aus Wärme und Kälte, schneller und langsamer fließende Luft und kaum merkliche Vibrationen, die seinem geschärften Sinnen sagten, ob es draußen Sommer oder Winter oder hell oder dunkel war.

Er hielt inne und kniete sich hin, strich über den Boden, dann leckte er sich den Staub von den Fingerkuppen. Die Note war so deutlich wie ein geschriebenes Wort, obwohl die Spur alt war, Jahre mindestens. Beowulf war lange nicht mehr in diesen Gängen gewesen.

Eine schöne verdrehte Wahrheit, dachte er, als er die Augen schloss und den Erschütterungen tausender weit entfernter, kleiner Füße lauschte. Das Gestein leitete sie gut, und er meinte sogar, ein stärkeres Beben zu hören als früher, was zeigte, dass die Stadt über ihren Köpfen gewachsen sein musste.

Es war aber die Mär seiner Wortwahl, mit der er sich seit Jahren selbst betrog – geschärft – die ihm jetzt ein trauriges Lächeln entlockte. Plötzlich kam ihm Turid in den Sinn. Ihre Augen und Ohren und ihr Gespür mochten so scharf sein, wie sie es in der Oberwelt nie gewesen waren, wo einem alle Gerüche und Geräusche wie ein Köter vor die Füße sprangen und darum bettelten, beachtet zu werden. Die Sinne wurden tatsächlich feiner in der Unterwelt, und Beowulf wettete, dass auch sie mittlerweile jeden Atemstoß und jede Luftblase in ihren Adern, und auch den seinen, hören konnte. Und jeden Hauch der Höhle spüren konnte. Keinen Menschen hätte diese natürliche Anpassung an den Verlust des Augenlichts im Stich gelassen, und alle Hingerichteten hätten, wäre auch nur einer von ihnen noch am Leben, von genau diesem Phänomen berichten können.

Nur er selbst nicht.

Beowulf hörte einen Schlag und wandte den Kopf. Turid, unzählige Biegungen und Windungen von ihm entfernt, musste wieder gestolpert sein: Sie erkundete das Trümmerfeld wie ein Kind, das eben laufen gelernt hatte, und nahm dabei keine Rücksicht auf Verluste. Irgendwann würde das noch in einer Katastrophe enden, hatte er ihr mehrfach gepredigt, aber schlussendlich hatte er ihr freie Hand gelassen. Er wusste schließlich, dass sich an dem Ort, wo die Schlucht in eine weite Ebene säumte, keine Spalten und Abhänge befanden, die ihr gefährlich werden konnten. Lediglich mannshohe Felsbrocken, an denen sie sich schlimmstenfalls die Nase brach.

Auch dies, dachte er, wieder ein Beweis für die Kluft zwischen ihm und ihr. Beowulf war davon überzeugt, dass Turid lange gebraucht hatte, um ihm zu glauben, dass er wirklich sehen konnte. Und bei den Göttern, das war die Wahrheit, er konnte.

Wenn auch nicht so, wie er vor langer Zeit als junger Mann gesehen hatte. Augen, die hier sahen, funktionierten anders in der Finsternis und vielleicht funktionierten sie auch überhaupt nicht. Vielmehr schien es, als wüsste Beowulf einfach, wie seine Welt war, ganz ohne die Bilder, die er einst gekannt hatte. Dieses Rätsel hatte er selbst nie lösen können und irgendwann hatte ihm die Höhle jeden Gedanken daran ausgetrieben. Nein, korrigierte er sich und erhob sich, um stumm das Labyrinth entlangzuwandern, Hadubrand war es. Hadubrand war es immer.

Als er Turids Lärm fast nicht mehr hören konnte – zu einem Zeitpunkt, an dem sie bereits Stunden früher nur noch Stille vernommen hätte – fand er, wonach er gesucht hatte.

Wenn Beowulf durch das Reich der Dunkelheit strich, kamen nur zwei Vorhaben für ihn in Frage. Nie kümmerte er sich um beides zugleich, denn das eine war eine stille Reise, die ihn seine Lust und auch seine Überwindung kostete, das andere eine aufreibende, ja sogar spannende Jagd, die immer eine Überraschung bereithielt. Und genau deshalb liebte er sie. 

Manchmal kroch ihm dabei, haargenau wie seinen Namensvettern, den Bären, der fruchtige Duft von Feuchtigkeit mit einem Hauch von Fäulnis in die Nase. Dann verharrte er stundenlang auf Bauchhöhe im eiskalten Strom des unterirdischen Flusses in der Tiefe des Berges und wartete geduldig, nur um eines schnellen Augenblicks die verkrampfte Hand ins Wasser sausen zu lassen, einen Moment später mit etwas Glück einen zappelnden Fisch in den Fängen haltend. Und wie viele Steine musste man umschichten für die kleine weiße Schwanzspitze eines Molches, die er zu packen hatte, bevor das Tier wieder in einer Ritze verschwand! Beowulf meinte, für diese mageren Bündel aus schleimigen Gliedern bereits die halbe Höhle umgegraben zu haben. Oder die Suche nach der Quelle eines anderen Lufthauchs, ein verbrauchter und ranziger, wenn irgendwo eine Fledermaus oder ein Insekt verweste und er es mit viel zu großen Händen zwischen zwei Steinen aufzulesen versuchte.

Seit sie auf dem neu aufgeschütteten Trümmerfeld lebten, weit unter ihrer früheren Heimat, war er auch auf einen neuen und zugleich altvertrauten Geruch getroffen, säuerlich, moosig, etwas pilzig. Es waren die Algen gewesen, die in der Nähe einer entlegenen Bucht auf den Felsen wuchsen, wo die Luft aus einem unerklärlichen Grund diesig war und so schwül, dass nicht nur der Boden, sondern auch Wände und Decke mit einem grünen Pelz bedeckt war. Beowulf hatte mit dem Gedanken gespielt, Turid dorthin zu bringen, damit sie sich wärmen und sattessen konnte, doch der Zugang zur Bucht war zu beschwerlich für ihr Bein und das Grünzeug ihr ohnehin nicht bekömmlich, auch wenn sie das für sich behielt.

Beowulf hatte längst eingestehen müssen, dass es ihm guttat, für Turid auf die Jagd zu gehen, hatte er doch Zeit seines Daseins in der Dunkelheit keine solche Aufgabe gehabt – auch wenn er an ihrem Sinn zweifelte. Er selbst war zu den Zeiten seiner Reisen wahrlich kein wählerischer Esser gewesen, doch hätte er heute nicht die gemütliche Möglichkeit, den Hunger ohne Mühe zu unterbinden, er hätte es sich zweimal überlegt, auch nur einen Bissen von all diesen Dingen anzurühren. Später, als er zu lieben lernte, was es hieß, wie ein König zu leben – obwohl ihm der Überfluss nie so auf die Hüften gegangen war wie einigen seinen Gefährten, allein Adalger zuliebe – wäre er verhungert, hätte er sich doch schlicht geweigert, sich von Aas und Vorgekautem zu ernähren.

Wenn Hadubrand nicht gewesen wäre.

Hadubrand war auch der Grund, warum Beowulf nun vor einer Steilwand, die sicher hunderte Manneslängen hoch wie ein Mahnmal vor dem schwarzen Himmel thronte, stehengeblieben war und einen Fuß in einen Spalt stemmte. Jetzt war nicht die Zeit, sich um Nahrung für Turid zu kümmern – an diesem Morgen musste Beowulf seiner zweiten, anderen Verpflichtung nachgehen. Sie war weniger anstrengend, weniger frustrierend und weniger ungewiss, aber die Jagd würde er ihr trotzdem jederzeit vorziehen.

Er packte zwei Vorsprünge über seinem Kopf, einen links, einen rechts, und schwang sich mit einem kraftvollen Ruck nach oben. So ging es einen, zwei, drei und dann vier Sprünge den Spalt empor bis in eine schwindelerregende Höhe, wobei sich seine Muskeln bis zum Zerreißen spannten, um sein Gewicht zu tragen. Dennoch keuchte Beowulf kaum.

Als der Boden so fern war, dass ein Fall gefährlich genug war, um einen Menschen zu töten, verriet ihm das unverwechselbare Stechen in der Nase das Nest, in dem sein Fundstück ruhte. Es war ein kleines Gebilde aus biegsamem Gewebe, walnussgroß, weich und mit einem netzartigen Muster überzogen. Zur Spitze hin verjüngte es sich. So, wie es da inmitten eines Kreises aus Schleim den Felsen zierte, hatte es Ähnlichkeit mit einem Häufchen Kot, das ein eigenartiges Tier in der Senkrechten an die Wand gesetzt hatte. Und eigentlich war es nicht anders. Die kleine Öffnung der Kapsel war kaum zu erkennen, aber der Gestank, der daraus entwich, war genug, um seine Nase zucken zu lassen. Es war ein kleiner Trost, dass das Stechen sich verflüchtigte, sobald man sie von der Wand trennte.

Genau dies war auch in Sekundenschnelle getan – mit geübten Griffen zog Beowulf seinen Dolch und schabte das lederartige Geflecht vorsichtig von der Schleimschicht. Gerade, als die Kapsel im Begriff war, sich vollständig zu lösen und in die Tiefe zu stürzen, verzog er das Gesicht zu einer Grimasse, steckte sich die Klinge zwischen die Zähne und nahm die Spitze zwischen Daumen und Zeigefinger. Die Säure der Lederhülse brannte auf seiner Haut, und bis Beowulf es fertigbrachte, die Kapsel in ein Tuch zu schlagen und unter seiner Kleidung zu verstauen, hatte sie ihm die Fingerkuppen auf das rohe Fleisch heruntergeätzt. Unzählige Male hatte er sich schier den Hals gebrochen bei dem Versuch, der Säure zu entgehen, aber es half alles nichts: Solange es in seinem Nest thronte, setzte sich das Gebilde zur Wehr, als sei es lebendig. Beowulf hatte sich damit abgefunden. Mittlerweile war die Haut seiner Fingerspitzen weiß und vernarbt.

Die Götter halten einen Platz im Reich der Verdammnis für dich bereit, Hadubrand, dachte er und vergaß dabei – wie er es gerne tat – dass er sich bereits darin befand.

Kein anderer hätte es gewagt, doch Beowulf, der sichergestellt hatte, dass die Kapsel und der Schatz, der in ihrem Inneren gegen die zähen Wände schwappte, geschützt waren, ließ sich einfach fallen. Sein Körper verschwand in der Schwärze, und der dichte Nebel machte seinem Fall Platz; nicht so lautlos, aber doch so sicher wie eine Katze traf er auf und glitt wie fließendes Wasser durch die Finsternis davon.

Er hatte es lange aufgegeben, seine Existenz als Fluch zu betrachten. Es hatte auch seine Vorzüge, sonderbar zu sein.  

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