Kapitel 30. Turids Kunst der Verführung
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Erst, als Turid über seine Füße stolperte, riss er die Augen auf und war in derselben Sekunde auf den Beinen. Wie ein zu Tode verschrecktes Tier sprang er in einem Satz einige Schritte zurück, bis die zerklüftete Seite eines großen Felsbrockens seiner Flucht ein jähes Ende setze. Turid indes wankte zwar kurz, hielt aber in bewundernswerter Weise das Gleichgewicht.
Und das kleine Biest lachte. „Das ist mir ja noch nie passiert", freute sie sich, klammerte sich aber mit schmerzverzerrter Miene an einem Steinzacken fest, den ihre tastende Hand in der Dunkelheit gefunden und als Stütze auserkoren hatte.
Beowulfs Blick brannte wie Feuer, und hätte Turid ihn sehen können, wäre ihr vor Angst der Frohsinn vergangen. „Wer hat dir erlaubt, hier herumzuschnüffeln?", knurrte er.
„Ich suche nichts. Ich wollte nur wissen, ob ich laufen kann. Und ich kann", sagte sie ernst. Dass Beowulf ihr als fleischliches Hindernis im Weg herumlag, hatte sie ja nicht ahnen können. Verkroch er sich nicht sonst immer außerhalb ihrer Reichweite, wenn sie sich bewegte? Hatte er – hatte er wirklich geschlafen? Turid hatte immer geglaubt, Ruhe und Rast sei eine Sache, die er nur im Verborgenen tat oder vielleicht überhaupt nicht. Sie hatte ihn schließlich auch nie essen, trinken oder das Umgekehrte tun hören. Und jetzt ließ er sich von ihr überrumpeln wie ein schlafender Hund, den man hervorragend mit Stöcken pieksen konnte. Bei Gott, dachte sie und hob die Augenbrauen, ich hätte die Gelegenheit gehabt, ihn zu berühren.
Als sie dann aber sein klopfendes Herz bemerkte, lauter als ein Paukenschlag, wurde Turid mulmig zumute. Ihr wurde klar, dass er sie stumm anstarrte und das Lächeln erstarb auf ihren Lippen. „Ich kann nichts dafür, wenn du nicht achtgibst", erklärte sie. „Sehen kann ich schließlich nicht, wo du dich herumtreibst. Sonst konnte ich mich immer auf dich verlassen." Sie hob kaum merklich das Kinn. „Es tut mir leid."
„Was soll diese Kriecherei?", schnaubte Beowulf, doch Turid verstand nicht, was er meinte.
„Ich sagte doch, ich wollte nur –"
„Sei still", unterbrach er sie. Und dann, nach einer kurzen Pause: „Ich habe nicht geschlafen."
„Das habe ich auch nicht behauptet", sagte Turid und wunderte sich, warum ihm das so wichtig war. Nun, wenn er darauf bestand, dann sollte er seinen Willen haben. Doch die Neugierde darüber, welcher Gedanke so tiefgreifend sein konnte, dass ihm dieses Missgeschick passierte, blieb.
Für einige Zeit wurde es still in der Höhle; Turid ließ sich leise ächzend mit ausgestrecktem Bein auf den Boden sinken und lauschte dort hinter geschlossenen Lidern, wie sich Beowulfs Herzschlag genau wie das kaum hörbare Rauschen seines Atmens in der Finsternis verlor: Erst schallte noch für eine Weile das ungewohnt schnelle Poch poch durch die Luft, dann erschien das Geräusch gedämpft, als hätte man es in Wolle gehüllt. Schließlich wurde es so schwach, dass selbst Turids geschärfte Ohren es nur noch erahnen konnten. Wahrscheinlich war er lautlos fortgeschlichen, wie er es stets meisterhaft zu vollbringen pflegte. Das Gefühl, seinen Blick noch immer auf ihren Schultern lasten zu haben, nagte zwar noch an ihren Eingeweiden, aber sie schluckte es hinunter.
Zeit, ihn zu fragen, bevor es zu spät war.
„Beowulf?"
Er brummte, und das nach wie vor direkt vor ihr. Sie zuckte zusammen, aber nur einen winzigen Fingerbreit. Warum nur war die Dunkelheit so trügerisch?
„Hör zu", sagte sie, wohl wissend, dass er dies selbst gern zu sagen pflegte, „ich habe eine Bitte an dich."
„Kannst du es dir denn leisten, Forderungen zu stellen?", kam es nur zurück. Turid biss die Zähne zusammen und stellte sich vor, wie Beowulf sie mit einem selbstgefälligen Grinsen auf den Lippen musterte.
„Eine Bitte", betonte sie. Vor einigen Stunden hatte er noch über sie gelacht, jetzt war seine Gutmütigkeit verflogen. Warum, in aller Welt? Anstatt Beowulf eine bissige Antwort zurückzuwerfen, besann sie sich. Du suchst dir auch immer den besten Zeitpunkt aus, dachte sie.
Turid erinnerte sich, wie sie es das letzte Mal formuliert hatte: Es wäre mir eine Ehre, hatte sie gesagt. Das war gut gewesen, aber nicht gut genug. Jetzt musste es besser sein.
Sie hob den Kopf und setzte zu sprechen an.
„Nein", sagte Beowulf, noch bevor sie das erste Wort – es hätte ein Ich sein sollen – ausgesprochen hatte.
Turid war so überrascht, dass sie verstummte.
Sie hörte, wie seine Kleidung raschelte, als er sich in einer langsamen Bewegung in eine bequemere Position brachte, die Arme auf den Felsen stützte. Die Botschaft hätte deutlicher nicht sein können.
Turids Eingeweide kochten vor Zorn. Sie war noch immer sprachlos. Er hatte sie mit einem Ruck abgewürgt wie ein geköpftes Huhn, völlig willkürlich, ja beinahe grausam.
Bei der Güte des Herrn, eben noch war sie dankbar gewesen, ihn zu haben. Sei es nur, weil sie nicht allein hier unten war oder zumindest nicht in Zweisamkeit mit einem haarigen Monster, das bewiesenermaßen Menschen fraß. Oder mit einem Mann, der ihren Körper benutzen wollte, um sie im Anschluss ebenso zu zerfleischen, wie es dann ihm durch das Tier ergangen war. Sie hatte sich Hoffnungen gemacht, zugegeben, mit Beowulf mehr zu erreichen; war er doch er Einzige, der übrig war. Hatte er ihr doch ihr größtes Erstaunen beschert, indem er sich mit dem Griff seines Dolches so gut wie als Mensch offenbarte.
Und jetzt kippte die Welt wieder in ihr altbekanntes Muster. Ein undurchschaubares Ungeheuer, Beowulf auf seinem schmalen Grat zwischen Sympathie und Wahnsinn, Turid – und die Finsternis.
Sie kniff die Lider zusammen und erwartete, wieder die wie Glut schwelende Luft auf ihre Haut treffen zu spüren, die sie so lange nicht erlebt hatte, dass sie sie beinahe vergessen hatte. Doch das Gefühl, das ihr vom anderen Ende der Dunkelheit, wo er lauerte, entgegenschlug, war weder Eitelkeit noch Ärger, sondern Enttäuschung. Die Augen ungläubig aufgeschlagen, saß sie nun da und bemerkte ein Prickeln in ihrem Bauch, das einen unwiderstehlichen Drang erzeugte, forschen zu wollen.
Das war nicht nötig, Beowulf brach sein Schweigen von selbst. „Ich gab dir einmal die Gelegenheit, Fragen zu stellen", sagte er leise. „Und du hast dich dagegen entschieden – zum Glück. Diese Fragen, das ist das Einzige, was zwischen uns steht. Und du stellst sie wieder und wieder."
Turid verstand. Das altbekannte Lied. Sie hätte es wissen müssen.
Plötzlich kam ihr ein absurder Gedanke, den sie mit großer Sicherheit bitter bereuen würde. Bevor sie näher darüber nachdenken konnte, war der Plan bereits gereift, verrückt und bereit, ihr das Genick zu brechen.
Jetzt war es Zeit, ihn zu überraschen.
„Beowulf", sagte sie und lächelte zaghaft.
Den feinen Wandel seines Atems wertete sie als ein gutes Zeichen. Zusammen mit ihrer sorgenvollen Miene verlieh ihr dieser perfekt ausgeführte Sanftmut das Bild einer Mutter, die ein im Streit entlaufendes Kind wiedersieht und der gar nichts anderes in den Sinn kommt, als ihm zu vergeben. Oder einer Liebenden, schoss es ihr durch den Kopf, die ihrem heimkehrenden Mann erleichtert entgegenläuft, obwohl sie weiß, dass er sie im Krieg betrogen hat.
Turid unterdrückte ein Schlucken. Ganz gleich, wie Beowulf es sehen würde, am Ende würde sich zeigen, welche Früchte es trug. „Wir waren schon so weit. Hältst du mich wirklich für so leichtsinnig?"
Sie lauschte seiner Stille, und irgendetwas sagte ihr, dass sie ihm eben den Boden unter den Füßen entrissen hatte. Es kostete sie viel Mühe, nicht siegessicher in sich hineinzulächeln und sich zu verraten. Was er dann wohl mit ihr tun würde? Nichts, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Es war Zeit, endlich erwachsen zu werden und zu unterscheiden, ob ein Mann gefährlich war oder nicht. Seine tiefe Stimme, seine Stärke, seine überlegenen Sinne, was nützte ihm das alles, wenn er im Geiste doch nur ein Lamm war? Lange genug hatte sie gewartet, den Schritt zu gehen, es herauszufinden. Vielleicht hatte es das wahre Angesicht des Todes, den Eroberer, gebraucht, um ihr zu zeigen, dass die Höhle im Grunde harmlos war, so harmlos, dass selbst Turid wagen konnte, mit ihr zu spielen.
„Und was dann?", fragte Beowulf mit einem finsteren Beiklang.
Turid stieß einen Seufzer aus. „Es ist nichts."
„Sag es." Sein Ton war drängend, verlangend.
Turid schüttelte den Kopf, was ihm eine unsichtbare Welle des Frustes entlockte. Genug jetzt, schalt sie sich. Als sie dann sprach, schaute sie ihm, so gut es in der Schwärze ging, direkt in die Augen. „Ich sagte, ich wolle laufen. Das war ein Fehler", meinte sie zögerlich und biss sich auf die Unterlippe. „Ich hasse es, aber ich mache mir Sorgen", gestand sie.
Plötzlich war alle Kälte aus seiner Stimme verschwunden. „Ah", machte er. Ein Hauch von Verständnis, eine Prise Reue. Und plötzlich hatte Turid ihn da, wo sie ihn haben wollte.
„Ich habe es vermieden, nach deinem Bein zu sehen", sagte er nachdenklich.
„Ich weiß. Ein Zeugnis von Ehre, aber was sein muss, muss sein."
Beowulf sagte nichts. Er kam nur in bedächtigen Schritten auf sie zu, so als wolle er sie nicht beunruhigen, während Turid sich tiefer gegen den Stein sacken ließ und die Unterarme mit dem Handflächen nach oben neben sich bettete. Als würde sie ihm damit etwas offenlegen, das mit Worten nicht greifbar ist.
Wie selten ich dabei richtig wach gewesen bin, dachte sie, während er sich zu ihr kniete. Sowie er aber mit den Fingerspitzen ihr Kleid berührte, hob sie die Hand und gebot ihm Einhalt. Kurz zuckten Turids Mundwinkel, bis sie es fertigbrachte, wieder schwach und wissend zu lächeln – dabei hoffte sie, dass Beowulf ihr klopfendes Herz den Erinnerungen zuschreiben würde – und ihr in Fetzen gerissenes Kleid aufzuschlagen. Dabei entglitt ihr der Gesichtsausdruck mehr als einmal, sodass sie es schlussendlich aufgab und einen ernsten Blick walten ließ. Als gingen sie beide einer Arbeit nach.
Er schloss den freiliegenden Oberschenkel vorsichtig in die Hände. Sein Griff übte leichten Druck auf den Knochen aus, löste sich, um sich an eine andere Stelle zu legen und tat es erneut. „Tut es weh?", fragte er.
Turid schüttelte den Kopf. Auch das war eine Lüge, denn das schwache Stechen war unaufhörlich und schien unter seiner Untersuchung nur noch verbissener zu werden.
Da glitten seine Finger auch schon davon. Auf ihrem Weg berührten sie zufällig die Stelle, an der der Splitter damals aus der Haut getreten war. Die Narbe war hart und gefühllos und entlockte Turid ein unterdrücktes Keuchen. Sie hatte sie selbst nie angefasst.
Beowulf schien es auf einmal eilig zu haben, Distanz zwischen sie zu bringen. Nichtsdestotrotz ließ er seinen Blick auf ihr ruhen, das spürte sie. „In Ordnung?", murmelte er.
„Das müsstest du mir sagen."
„Ich kenne mich mit Trümmerbrüchen nicht gut aus", meinte Beowulf.
„Welch ein Elend. Aber wer tut das schon?"
Er brummte zustimmend. „Ich kann dir nur geben, was ich habe, wenn es zu schlimm wird."
„Lieber nicht", meinte Turid. Die nackte blasse Haut bedeckte sie wieder beiläufig mit dem spärlichen Stoff, jedoch nicht ohne weiterhin zu ihm aufzuschauen. „Zu viel Gift ist nicht gesund."
Kurz fürchtete sie, zu weit gegangen zu sein, aber Beowulf überhörte es. Er schlich nur leise davon. Zu gerne hätte Turid ein Schmunzeln auf seinen Lippen gesehen! Schließlich war ihr nicht unbekannt, dass er wusste, was ein Scherz war und auch die Übellaunigkeit hatte sie ihm zumindest für jetzt erfolgreich ausgetrieben. Verfluchte Finsternis, schimpfte sie stumm.
Gerade noch so konnte sie verhindern, sich die Hand vor den Mund zu schlagen, sonst hätte er sich wohl umgedreht und alles bemerkt. Wo hatte sie das Unwort nur aufgetrieben? Sicher nicht in der Oberwelt.
Erst dieser Gedanke brachte sie auf Gott und das Herz wurde ihr bange. Nicht aufgrund der Verwünschungen oder der Lügen; nicht einmal, weil sie an Beowulf gerissene Kunstgriffe ausprobiert hatte, um ihrem Willen ein Stück näher zu kommen. Schließlich würde es ihnen beiden zum Vorteil gereichen. Nein, es war der Schock darüber, wie sie es geschafft hatte, ihn wohlgesinnt zu stimmen.
Sie hatte ihr Lächeln spielen lassen, hatte mit falscher Scheu gezaudert, salbungsvoll gelitten, um zur rechten Zeit Zuspruch, Unterwerfung und Dankbarkeit einzusetzen. Auf ihren Wunsch hin hatte Beowulf ihre nackte Haut an Stellen berührt, die allenfalls ihr Ehegatte jemals hätte sehen dürfen, und das hatte keinen anderen Sinn gehabt als ihren Plänen in die Hände zu spielen. Instinktiv hatte sie gewusst, dass es unbedingt das Bein sein musste und nicht die verletzte Hand, obwohl Beowulf doch nie – nie –
Sie hatte einen Mann verführt.
Vater, vergib mir, bat Turid mit weit aufgerissenen Augen. Dann blinzelte sie, betrachtete das Nichts um sie herum, und kam zum zweiten Mal in ihrem Leben zum Schluss, dass eine gefallene Turid am Ende der Welt sowohl dem hohen Herrn als auch einem toten Fürsten wahrscheinlich egal war.
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