Kapitel 3. Tote träumen nicht
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Tote träumen nicht.
Turid stand im Meer. Es war kein wildes, schäumendes Sturmmeer wie jenes, von dem ihr der Schiffbauer ihres Vaters erzählt hatte. „Alles an ihm ist grau", hatte er gesagt, seine Stimme ebenso spröde wie seine faltige Haut, „und es ist kälter und wilder als die Untiefen des dichtesten Nebels. Es will dich verschlucken. Du denkst, du wirst verrückt."
Ihr Meer war warm und glatt. Einladend, aber nicht lockend, die Oberfläche von hellem Blau, tausendfach gespiegelt von der aufgehenden Sonne und einem weißen Himmel, der freundlich über ihr schwebte. Überhaupt war alles gleißend hell. Zarte orangegelbe Töne ergossen sich über den Horizont.
Als sie nach unten schaute, sah sie ihre nackten Füße im Sand graben und kleine Pfützen bilden. Der Schlick, der sie in Rillen durchzog, bildete ein wunderschönes Muster. Es wurde von Wellen ergänzt, die nicht weniger zart im Watt schaukelten als winzige Tropfen in einem Becher klaren Wassers.
Ihr letzter Traum lag bereits Jahre zurück, als sie noch ein halbes Kind gewesen war. Nie waren die Eindrücke so deutlich gewesen, nie waren sie ihr so richtig vorgekommen wie in diesem Moment. Früher, ja, da hatte sie wirres Zeug geträumt, hatte schrecklich dumme Ideen gehabt und tat im Traum nie das, was die Logik von ihrem Verstand verlangte. Jetzt war alles ruhig und ordentlich. Ihr Geist wusste, dass sie träumte. Sie konnte die feinen Körnchen zu ihren Füßen sehen, aber die Zehen im Sand spürte sie nicht. Keine Möwen kreischten, kein Wind fuhr ihr durchs Haar, keine salzige Luft lag ihr auf der Zunge. Es gab nur das Licht der Dämmerung am Morgen.
Und dann die Finsternis.
Ihre Augen waren wieder nutzlose Organe, von der Dunkelheit verschlungen. Dafür gab ihr Körper alle anderen Sinne zurück, die im Traum nicht existiert hatten. Turid konnte hören – das Klopfen ihres Herzens und die Arbeit ihrer Lungen. Sie konnte riechen – den letzten Hauch von Fäulnis und Höhlenstein. Schmecken konnte sie das Blut in der Mundhöhle. Und spüren konnte sie den Schmerz.
Ihr alter Begleiter. Scharf in ihrem Bein. Schneidend durch die Finger. Dumpf an ihrem Hinterkopf. Und so viel mehr. Haut, die der Stein des Schlundes von ihren Handflächen, Ellbogen und Hüften gescheuert hatte wie Sandpapier. Prellungen und Stauchungen an jeder Stelle, mit der sie gegen Wand und Boden geschlagen war.
Fernab dieser Qualen war irgendwo auch ein kalter, harter Boden. Es erfüllte sie mit Verwirrung in ihrem benommenen Zustand. Ganz anders als das, was sie erwartet hatte. Sie erinnerte sich an den Traum, den sie gehabt hatte und wie sie gedacht hatte: Tote träumen nicht.
Turid glaubte zwar an Himmel und Hölle und dass es einen Unterschied zwischen beiden gab, mit Engeln auf der einen und teuflischen Fratzen auf der anderen Seite, aber sie meinte, man müsse mit dem ganzen Körper dort sein und nicht nur mit dem Augenlicht. Und –
Man kam nicht zurück.
Sie war wieder hier. Zurück in der Schwärze.
Das Tier hatte sie nicht gefressen.
Sie ließ die Finger ihrer linken Hand zucken. Ballte sie zur Faust. Und dann tastete sie im Dunkeln nach dem Stechen, das neu an ihrer Seite war. Es teilte sich durch vier. Vier Löcher in ihrer Haut.
Eines in der Beuge ihres linken Schlüsselbeins. Eines über dem linken Hüftknochen. Eines in ihrem rechten Schulterblatt. Eines im rechten unteren Rücken.
Auch diese vier Schmerzpunkte ergaben ein Muster – der Abdruck eines Gebisses auf ihrem Körper.
Sie erinnerte sich. Das Maul hatte sie aufgenommen und getragen. Danach wusste sie nichts mehr.
Turid starrte in die Leere. Dann schloss sie die Augen.
Verschont.
Für wie lange?
Es gab da einen Teil von ihr, der sich wie ein Ertrinkender an eine Planke klammerte. Der den Gedanken auf hoffnungsvollen Händen trug, dass ihr Ende vielleicht noch nicht gekommen war und es eine zweite Chance gab. Dass sie leben durfte.
Ihre Gedanken schweiften ab und trafen sich über dem Eroberer. Eine Zukunft hätte dort vielleicht auf sie gewartet, in der sie ihm entkommen war, nach einiger Zeit und viel Geduld, eine Zukunft, in der sie allein und behütet leben konnte. Vielleicht hätte sie ein Haus aus Stein an ebendiesem Meer gehabt, von dem sie geträumt hatte. Wenn sie nur richtig gewählt hätte. Diesen Fehler, sagte Turid sich, wirst du nie mehr begehen. Ab jetzt würde sie das Leben wählen. Immer. Egal was kam, was sie erleiden musste, auch wenn es ein blindes Dasein in der Unterwelt bedeutete.
Ihre Hoffnung schoss in die Höhe wie eine Rose.
Sie glaubte daran, dass das Biest sie fressen würde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es wieder aus der Finsternis trat, bis sie wieder das tiefe Schnauben hören konnte. Auch wenn es jetzt fort war, würde es wiederkommen. Vielleicht bald.
Sie dachte daran, wie viel Angst sie vor der Dunkelheit hatte. Was für ein schreckliches Gefühl es war, zu wissen, dass jeder Schritt in der Leere enden konnte - endloses Fallen bedeuten konnte.
Turid machte sich Mut. Ja, sie mochte einarmig und einbeinig sein. Sie mochte gebrochene Rippen und kaum mehr Blut im Körper haben. Sie mochte blind sein. Aber sie würde niemals aufgeben.
Sie ballte die Hand zur Faust.
Dann hatte sie wieder einen Anfall. Ihre Finger begannen zu zittern, ihre Atmung ging schneller, dann ergab sich ihr ganzer Körper dem Schüttelfrost, während sie verzweifelt versuchte, ihre umherschlagenden Arme fest zu einem Bündel um ihren Bauch zu verschnüren. Als es vorbei war, drohte die Schwäche ihr die Besinnung zu rauben. Turid begann zu beten: Der Herr mochte ihr ein letztes Mal Kraft und Willen schenken.
Erbittert biss sie die Zähne zusammen. Unter fürchterlichen Schmerzen rollte sie sich herum, packte mit den Fingern einen Klumpen Fels, winkelte wieder das linke Bein an, als hätte sie es nie anders gekannt, gab sich einen Ruck und –
Der Schmerz in ihrem gebrochenen Bein ließ Sterne vor ihren Augen explodieren und zum ersten Mal seit vielen Stunden schrie sie wieder. Ihre Schreie hallten aus der Schwärze zurück und klingelten in ihren Ohren, brachten sie erneut dem Wahnsinn nahe und bündelten sich in ihrem Körper mit den Flammen, die ihrem Oberschenkel entsprangen.
Etwas hatte sie zurückgehalten.
Wimmernd und keuchend drehte sie sich auf den Rücken, flach und fiebrig atmend, verstört von den Schmerzen, die sie nicht verstand.
Benommen ließ sie die Hand ihren Unterschenkel hinuntergleiten. Irgendetwas hielt ihr Bein fest in der Hand – oder in den Klauen – das Grauen lief ihr eiskalt die Wirbel hinunter –
Es war ein Seil.
Ein...
Seil.
Die Schlinge wickelte sich um ihr Fußgelenk und endete in einem Knoten.
Jetzt kam ihr diese Realität wie ein Traum vor, denn sie folgte ihrer Fessel und fand sich nach einigen Armlängen an einen Ring gekettet, der aus der groben Felswand hervorragte.
Da saß sie nun für einige Zeit und starrte darauf. Oder dorthin, wo sie den Ring in der völligen Dunkelheit vermutete.
Denken konnte Turid fürs Erste nicht. In ihrem Kopf kreiste nur ein einziges Wort: Seil Seil Seil Seil...
Sie hielt es umklammert wie ein Säugling die Haarsträhne seiner Mutter. An den Rändern löste sich der Strick bereits auf. Er war uralt.
Ein seltsamer Zustand aus Seligkeit und zertrümmerter Zuversicht riss sie schier entzwei. Verzweiflung, weil sie angebunden war wie ein Hund. Nicht einmal die Finsternis bot ihr nun noch die Möglichkeit, auch nur wenige Sekunden länger zu überleben, wenn das Ungeheuer sich seine Mahlzeit holen wollte.
Seligkeit, weil... und da traf sie die Gewissheit mit voller Wucht.
Hände hatten sie angebunden. Finger hatten den Knoten geschlungen. Was Hände hatte, konnte vielleicht sprechen. Und es war eine völlig andere Vorstellung, hier nicht mehr allein mit einer Bestie zu sein, eine Seele zu haben, an die sie sich schmiegen konnte.
Etwas Menschliches war hier.
Turid leckte sich die Lippen. Sie konnte es nicht hören. Aber es würde sie hören.
Was sollte sie sagen? Rufen?
Einen... Gruß?
Die Geschichte vom Werwolf fiel ihr wieder ein und das Herz sank ihr zurück in die Magengrube. Die Welt war magisch. Die Welt war düster – besonders hier, in der Finsternis. In fernen Ländern mochte es Wesen geben, die Hände hatten, aber auf ihren Schultern saßen wilde Löwenhäupter mit grünen Zungen und ihren Rücken entsprossen zerfetzte ledernde Flügel.
Die Turid von oben wäre nun stumm geblieben. Die Turid unter der Erde hatte in wenigen Momenten entschieden, dass sie das Risiko in Kauf nehmen würde.
Blieb die Frage, wie sie jenem Wesen ihre Entscheidung eröffnen würde, sich seiner Gnade auszuliefern. Dass sie ihm nun gewährt hatte, über ihr Schicksal zu entscheiden. Wie unwiderstehlich diese Hoffnung war, dass es schneller bei ihr war als das Ungeheuer!
Mitten in der Finsternis erleuchtete ein trauriges Lächeln ihre Lippen. Eine einzige Sache gab es, die ihr gut und richtig schien.
Den Kopf erhoben. Der Mund ein großes Oval. Die Hand auf ihr Herz gelegt.
So begann sie zu singen.
Nun ward die Heide
Vom lichten Kleide
Wieder nackt
Unzählige Sänger antworteten ihr, tönten ihr nach, hallten zurück. Wie ein Chor, der allein für sie die Stimme hob, gemeinsam mit ihr und dieser zarten, alten Melodie.
Und der grüne Wald
Wo einst in schönen
Lieblichen Tönen
Die Vöglein sangen mannigfalt.
Sie machte sich schutzlos. Lieferte sich völlig aus und bot sich dem dar, was immer aus der Finsternis treten würde. Während sie sang, starrte sie in die Dunkelheit und versuchte, ihren Frieden mit der Welt zu schließen, zu akzeptieren, wenn der Moder wieder herüberwehte und ihre Niederlage ankündigte.
Darüber klagt nun Jung und Alt,
Denn mit Gewalt
Während Turid sang, merkte sie auf einmal, wie schrecklich langsam ihr Herz eigentlich schlug, wie alle Kraft sie verließ, wie der Rauschzustand, den ihr Körper seit dem Fall aufrechterhalten hatte, endlich nicht mehr machbar war. Zurück blieb die Erkenntnis, dass sie im Sterben lag.
Macht die welken roten Blümelein
Der Winter bös und kalt.
Kalt alt alt alt alt...
Und dann – vollendete Stille.
Turids blinder Blick durbohrte weiterhin in die schwarze Wand.
Als alle Haare ihres Körpers sich auf einen Schlag in die Höhe stellten, da wusste sie, dass vor ihr etwas lebte. In der Sekunde danach begriff sie, dass es sehr nahe war.
Eine hässliche Unendlichkeit lang starrte sie in verborgene Augen und die Augen starrten zurück. Völlige Klarheit und nackte Angst. Sie war ein Mensch ohne Sicht, ohne Sprache, ohne Schutz.
Sie spürte die Hand, noch bevor sie auf ihrer Schulter lag.
„Denn Dein ist das Reich, und die Kraft, und die Herrlichkeit in Ewigkeit", offenbarte sie mit ihrer sterbenden Stimme, und ein raues Urteil kam zurück, „Amen", sagte er.
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