Kapitel 27. Stimmen in der Schwärze
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„Nicht, nicht, bitte nicht", hauchte sie, als Beowulf Turids Ferse packte und ihren Körper wie ein erlegtes Reh über den Boden schleifte. Das Geräusch war dumpf, nicht schmirgelnd. Der Eroberer hatte sie mit genügend Blut gesegnet, um sie sanft, warm und feucht über den Stein gleiten zu lassen.
„Sh", machte Beowulf. Es war ein scharfer Laut, der das dumpfe mechanische Krachen in der Finsternis durchtrennte wie ein Schwert. Als hätte man inmitten einer Schar gewaltiger mahlender Rinder mit einer Peitsche in die Luft geschlagen. Durch das fremde Blut, das ihr in die Ohren gedrungen war, hörte sie ihn gedämpft atmen, hörte, wie er das Keuchen unterdrückte und spürte, wie sich die Muskeln seines Handgelenks um ihren Fuß verkrampften und entkrampften und wieder spannten. Wie ein Mann, der große Schmerzen hat, dachte sie.
Während er sie mit einem Ruck über eine Steinkante zog und dann am Kragen packte, entwich ihm trotz allem ein gepeinigter Laut, der aber so schnell abgewürgt wie gekommen war. Als wäre sie eine Strohpuppe, fügte sich ihr schlaffer Körper in Beowulfs Griff, schmiegte sich in die Schwerkraft, fühlte nur den Schmerz im Genick, als er Turid in die Höhe hielt und durch die Schwärze stolperte. Er kam so schneller voran, die hastigen Schritte in einem unsteten Rhythmus mit Hadubrands kräftigem Drumm, Drumm. Sie wollte zappeln, aber eine Verbindung zu ihren Gliedern schien gekappt zu sein, sie konnte nicht. Furcht loderte wieder in ihr auf, voller Grauen in Erinnerung an zuvor, als es ihr genauso gegangen war. „Nicht", stieß sie aus, doch Beowulf fluchte nur unter zusammengebissenen Zähnen.
Turid achtete nicht auf ihn. „Nein!", rief sie, „bitte!"
„Was ist in dich gefahren?", herrschte er sie an, sich einen kurzen Moment der Rast gewährend, um ihr Gewicht in seiner Hand neu zu positionieren. Turid antwortete nicht, sondern wimmerte nur.
Es gab da eine Stimme in ihrem Kopf, die alles in abgebrühter Klarheit sah, so ruhig und wissend wie eine Außenstehende. Diese Stimme erkannte, dass sie im letzten Moment gerettet worden war. Dass der Eroberer nun von einer Reihe scharfer Zähne zerstückelt wurde und dass jetzt, am Ende dieser Hölle auf Erden, alles vorbei war. Aber diese Stimme war stumm oder zu schwach. Sie hatte kein Gewicht gegenüber der Panik, die ihren menschlichen Verstand im Keim erstickte wie ein mächtiger Feuerwall.
Das Raubtierbrüllen, das in ihren Ohren hallte. Der hungrige Blick des Verfolgers im Nacken, der Gestank, der Geifer. Die Erkenntnis, vom Lauf der Dinge verraten worden zu sein, weil ihr das Schicksal genau dieses Tier auf den Hals gehetzt hatte, dass viel schrecklichere Dinge mit ihr hatte tun wollen als sie zu zerfetzen. Sie fühlte seinen Griff, seine Begierde, seine Tötungslust, Finger und Zungen und Zähne – und andere Gliedmaßen! – an Stellen, an denen sie nie gewesen waren, aber um Haaresbreite hätten sein können.
Plötzlich war es, als sei es wirklich passiert. Die Erinnerungen an ihre letzten Stunden im Licht, die nun schon wohl mehr als ein Jahr zurücklagen, und die letzten Stunden in dieser Finsternis verschwammen und verzerrten sich zu einer einzigen großen Angst, die nicht enden wollte. Und Turid schrie und schrie und schrie. Hadubrands Schnauben setzte kurz aus und sogleich wieder ein, untermalt von dem Tropf Tropf Tropf des fallenden Blutes.
„Sh, sh", zischte Beowulf wieder, zorniger diesmal, und zerrte sie noch verbissener fort von dem schrecklichen Schmatzen, mit dem Hadubrand nun wieder dort oben in der Dunkelheit seine Mahlzeit verzehrte, als sei es die Störung nicht wert gewesen.
Irgendwann erwachte Turid an eine Felswand gelehnt, ohne recht zu erfassen, dass sie das Bewusstsein überhaupt verloren hatte und wann. Sie wusste nur eines: Eine glühende Eisenstange befand sich anstelle des Knochens im Fleisch ihres Oberschenkels, eine andere bösartige Macht hatte zwei Finger ihrer rechten Hand in Brand gesetzt und erfreute sich nun an ihren Qualen. Beinahe konnte sie das hämische Gelächter ihres erfundenen Folterknechts hören, das nun die entfernt erklingenden Fressgeräusche und den tiefen Herzschlag Hadubrands lautstark übertönte. Beowulfs Herz war nah, direkt vor ihr und wieder beherrscht – die vernünftige Stimme vermerkte als stille Beobachterin, dass das Atmen ihm nun wieder leichter zu fallen schien – wurde aber ebenso von dem stummen Lachen besiegt. Deiner Fantasie, flüsterte die vernünftige Stimme, sind im Fieber keine Grenzen gesetzt. Aber der Gedanke wurde von der Panik abgefangen, bevor er ihren Geist erreichen und sie beruhigen konnte.
Eine Weile lag sie nur da und litt unter dem Feuer ihrer Schmerzen, ihr Kopf leergefegt. Inmitten dieses Strudels aus Wahn registrierte ein kleiner Teil von ihr den schmalen Schnitt an ihrem Oberarm, ein leises Tröpfeln und einen Geruch, dessen tausendfache Verstärkung sie in ihren Albträumen für immer verfolgen würde. Halb stöhnte, halb knurrte sie wie ein in die Verzweiflung getriebenes Tier, bekam einen plötzlichen Anfall von Entsetzen, schrie unverständliche Laute, bis sie die Worte „NEIN! NEIN!" wiederfand und in die Finsternis hinausbrüllte, doch es war zu spät. Die Lähmung legte sich über sie wie eine weiche Decke und ließ sie die Furcht vergessen, dass sie durch das Gift so werden könnte wie das Monster, vor dem sie geflohen war.
Sie spürte nicht mehr, wie Beowulf ihre Hand in schnellen Bewegungen mit den groben Fasern eines Stoffes umwickelte, der sich auf der Stelle mit Blut vollsog. Da waren nur ein grobes Pulsieren und das schreckliche Gefühl des Verlusts, nicht weiter als ein ekelerregendes Ziehen in ihren Nerven. Dass er ihr, so gut er konnte, das verklebte Blut aus den Lidern wischte, nahm sie zur Kenntnis. Das Blut war überall, in ihrem Mund, in ihrer Nase, auf ihrem Gesicht – es bedeckte jede Faser ihrer Haut. Hadubrand hatte sie darin gebadet, getränkt... getauft. Es würde durch ihre eigenen Wunden in ihren Körper gedrungen und sich mit dem ihren vermengt haben. Ekel stieg in ihr auf, das dritte Gefühl nach der Angst und dem Schmerz.
Turid wusste, was kommen würde, sobald Beowulf glaubte, sie sei dem erzwungenen Schlaf hilflos genug ausgesetzt. Sie ahnte, wie es sich anfühlen würde nach dem, was sie nun wieder hatte erleben müssen. Sie fürchtete, dass es tausendmal schlimmer sein würde als das erste Mal nach ihrem Fall – warum, konnte sie nicht sagen. Vielleicht, weil der Schock um die Erkenntnis, um wen es sich beim Gefallenen handelte, tiefere Narben auf ihrer Seele hinterlassen hatte als am Tag ihrer ersten Begegnung, als Gremholdshand frisch erobert und er ein Unbekannter war: Ein gewöhnlicher Mann, der in der Rotunde über dem Schlund zum Albtraum wurde, und kein Ungeheuer, dass am dunkelsten Ort der Erde wieder in ihr Leben trat und sie einem Gräuel aussetzte, vor der sie sich längst sicher gewährt hatte.
Die vernünftige Stimme in ihr setze alles darauf, dass das Vertrauen und der Verstand obsiegen und erkennen würden, dass für diese Angst kein Grund mehr bestand, nicht vor dem Mann aus der Finsternis. Aber die Hoffnung war haltlos, denn der erste Kontakt seiner Finger mit ihrer Haut verschmolz mit der Erinnerung an dieselbe Bewegung aus der Hand des anderen. Es war, als sei es immer dieselben Finger gewesen, die ihr das Kleid quälend langsam nach oben schoben und ihre Oberschenkel entblößten, ganz egal ob gefesselt über dem Schlund oder festgebunden am Ring in der Höhle oder im Würgegriff am Ende des Grabens. Hinaus aus der Gnade des einen, hinein in das Erbarmen des anderen.
Und auf einmal kamen alle Ängste wieder hoch, die sie in den ersten Wochen in der Höhle vor Beowulf gehabt hatte: Aus dem vertrauten Gefährten, mit dem sie endlose Stunden in friedlicher Gemeinschaft verbracht hatte, dessen Geschichten sie gelauscht hatte, mit dem sie gestritten hatte, wurde wieder die ungewisse Gestalt aus der Dunkelheit. Ein abstoßendes Wesen ohne Gesicht, halb Mensch, halb Monster, dessen Willen sie schutzlos ausgeliefert war.
Lass ihn, zischte die Stimme, die es besser wusste; trotzdem zappelte sie, als er ihren Leib zu Boden zwang. „Nein – nein – NEIN!", ließ die Panik sie rufen, bis ihre Willenskraft den Schleier des Giftes wieder zerriss, wie sie es schon früher geschafft hatte. Ihre Arme wurden selbstständig, schlugen mit einem Mal wild um sich und verspritzten Blutstropfen in alle Richtungen, als gehörten ihre Glieder gar nicht mehr ihr, sondern einer anderen Turid.
„Halt STILL, verdammt nochmal!", fauchte Beowulf, „glaubst du, dass ich dich vergewaltigen werde wie er?"
Das brachte sie für einen Moment zum Schweigen, den er augenblicklich nutzte, um sie auf dem Felsen festzunageln.
Es war das erste Mal, dass er die Sache zwischen ihnen so direkt aussprach, das erste Mal überhaupt. Es spülte Klarheit in Turids Gedanken, hielt der schreienden Panik für einen Moment die Hand vor den Mund. Wenn man es in Worten hörte, war es leichter, sich darauf zu besinnen, wie falsch es klang.
Er murmelte etwas, was wie ein Dankesgebet klang, und schlug den Stoff zurück. Doch Turid hatte sich bereits entschieden. „Beowulf, nein", sagte sie. Fest und bestimmt von ihrer menschlichen Besonnenheit geleitet und nicht von dem gehetzten Tier.
Und er schien es zu bemerken, denn als er sprach, war seine Stimme leise und in einer irritierenden Weise herausfordernd. „Das Bein ist gebrochen." Jedes Wort wurde einzeln betont, was ihre Bedeutung zu einer unumstößlichen, schrecklichen Tatsache machte.
„Ich weiß. Tu es nicht. Das überlebe ich nicht", flüsterte sie. Sein stummer Blick verriet ihr, dass er nur eine schwache Ahnung hatte, was genau sie meinte – die Unsicherheit veränderte seine Atmung.
Ein Knacken ließ sie alle beide zusammenzucken. Beowulf hob den Kopf und starrte wie ein aufgeschreckter Feldhase in die Finsternis. Hadubrand schabte, schleckte und grunzte. Inmitten des Nebels aus Schmerz und Gift und Verwirrung erkannte Turid, dass er in diesem Moment nichts anderes als ein zufriedenes Tier mit seiner Mahlzeit war. Beowulf sog leise die Luft ein.
Sie war die erste, die sich ihm wieder zuwandte, in ihrem Gesicht ein ernster Blick. Seine Augen huschten über die ihren – nie war es spürbarer gewesen – und das war eine sonderbare Sekunde, eine sonderbare Szene: Er kniend über sie gebeugt zwischen ihren Beinen, die Hände neben ihren Füßen, beinahe so wie ein Liebhaber, der sich gleich mit einem verspielten Lächeln auf den Lippen über sie wirft; die besorgte Miene mit der ihren, blutgetränkten verbunden durch ein Band aus – aus nichts. Ein Band aus Finsternis.
Er fasste sich wie ein salutierender Soldat an die Brust und zog den Dolch aus der Scheide hervor, dessen Klinge noch rot war und schimmerte vom Gift. Die Geste war stürmisch, beinahe gewaltvoll. Turid entfuhr ein erstickter Schrei, vor ihrem inneren Auge das Bild einer Tonscherbe, die mit einem Schmatzen aus Fleisch gezogen wird und sich in ihre Hand vergräbt, um ihr fürchterliche Schmerzen zu bereiten, um den ersten Schritt zu tun für das schlussendliche Bezwingen.
„Bitte nicht", rief sie, „ich vertraue dir doch – " weiter kam sie nicht, fühlte sie nun abermals den Dolch an ihrer Hand, diesmal war es die linke. Nur war es nicht die Schneide, sondern der Griff.
Beowulf packte ihre Faust und presste sie mit der seinen um das kalte Eisen. Er zwang sie nach vorne, streckte ihren Arm der Schwärze entgegen, bis die Spitze auf einen Widerstand stieß – seine eigene Brust. Es war die Vertiefung, an der die Sehnen des Halses und die geschwungene Form beider Schlüsselbeine im Zentrum des Menschen aufeinandertreffen und ein weiches, verletzliches Kreuz bilden. Die Stelle, an der sie den Eroberer hatte aufspießen wollen.
Turid schnappte nach Luft. Beowulf blieb ruhig. Als ihre Finger sich fester um die Waffe schlossen, schob sie die Hand ganz leicht nach vorne. Der Duft des Blutstropfens, der unter der Klinge hervortrat, war so intensiv, dass er die Luft und all das andere Blut, ihres und das des Eroberers, einfach überschwemmte. Er war glühend heiß und roch nach... Kälte. Das Blut war wie das Blut eines Toten.
Stumm glitten seine Finger ihren Oberschenkel empor. Erst, als er das Bein mit beiden Händen fest umschloss, wie um es zu erwürgen, und den zertrümmerten Knochen quälend langsam wieder zu einer Einheit schob, konnte sie ihm nicht länger mit Entsetzen in die Augen starren und verlor das Bewusstsein.
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