Kapitel 24. Flucht vor dem Tod
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Der Wille des Raubtiers war geweckt. Ein Relikt aus den frühsten Tagen der Menschheit – die ureigene Sehnsucht, sein Opfer zu hetzen und zu töten und zu fressen – überrollte ihn wie eine Hitzewelle in der Sekunde, in der seine Beute sich entschied, um ihr Leben zu laufen. Er wusste es, bevor sie einen Muskel bewegte, lange bevor sie in Schwung kam und todesmutig in die Dunkelheit stürzte. Er hatte ihren Gedanken gespürt.
Es reichte nicht, um seine Finger schnell genug hervorschnellen zu lassen, aber das war ein willkommenes Missgeschick: Es bedeutete nur, dass die Jagd nicht enden musste, bevor sie begonnen hatte. Und das Raubtier wollte es so – die Hatz sollte lange dauern, und mit Begeisterung erkannte sein Körper, dass er dazu in der Lage war; da gab es keine Scheu vor der Unmenschlichkeit. Da war nur das Lechzen nach einer Ewigkeit in der Finsternis, Jahre am liebsten, in denen er das Opfer auf seinem Überlebenslauf verfolgen durfte, seinen Herzschlag in der Schwärze hören durfte, seinen keuchenden Atem riechen durfte, der nur einen einzigen Gestank ausströmte: Angst, Angst, Angst.
Schon befand er sich in einer gewaltigen Flut aus Bewegung, die ihn wie eine Steinschleuder nach vorne katapultierte. Er rannte nicht, er flog den Graben entlang, der sich abschüssig und immer enger vor seinem Leib verjüngte, bis das klopfende Herz seiner Beute ihn als scharfes Echo traf wie ein Pfeil. Sie war vor ihm, dort in der Finsternis, und mit jeder Sekunde verringerte sich die Kluft zwischen ihnen um einen weiteren tödlichen Schritt. Es war, als wäre der einzige Zweck seines Daseins in all der Zeit einzig und allein gewesen, hier in diesem Moment zu rennen.
Turid indes trennte sich von der Schonhaltung ihres Beins, die ihr so lange eigen gewesen war, und warf sich in einen derart rasanten Spurt, dass vor ihr Staub und Steinchen durch den Graben flogen. Nach dem dritten Schritt peitschte durch ihren Oberschenkel ein ekelerregendes Stechen, aber sie biss nur die Zähne fest zusammen, denn sie hatte keine Wahl – es war, als hauche ihr bereits sein geifernder Atem in den Nacken. Wenn dieses schnaubende und geifernde Tier sie einholte, war es vorbei.
Turid hatte keine Zweifel, dass der Fremde sie töten würde, wenn er sie zu fassen bekäme. Konnte er?, schrie sie innerlich, konnte er sie einholen? Sein Körper war zerstört, trotzdem war er schnell wie ein Wolf.
Und sie hatte Recht; denn obwohl er wusste, dass sein Schienbein gebrochen war, schien ihm das nicht wichtiger zu sein als eine Fliege auf seiner Haut. Selbst, als der Knochen durch die Wucht seiner Sprünge aus dem Bett seiner Muskeln riss und sich mit jedem Aufprall tiefer in seine Kniescheibe bohrte, so wie man einen gesplitterten Pfahl mit kräftigen Hammerschlägen in grobe Erde treibt, wetzte er ungebremst der Schwärze entgegen. Nicht, dass der Mann das Gefühl dieser grauenhaften Verletzung nicht bemerkte; er erkannte es nur nicht als Schmerz. Er würde jagen bis zum Ende, möge der Knochen sich bis dahin in seine Eingeweide gespießt haben, es war ihm gleich.
Nun, das stimmte nicht ganz. Als sein Gewicht die nackten Fußsohlen mit solcher Härte gegen den Grabenboden schmetterte, dass die messerscharfen Steine stecken blieben und ihre Spitzen auf der Oberseite seiner Füße wieder austraten und seine Lunge gleichzeitig solche Massen an Luft durch seinen Kreislauf pumpte, dass ihm sämtliche Rippen brachen – da lachte er. Welch unfassbare Freude, von jedem Schmerz befreit zu sein! Endlich war diese Last abgelegt, die unliebsame Knechtschaft seines eigenen Körpers beendet, alles, was ihn je daran gehindert hatte, der beste aller Krieger zu sein. Er vergaß sogar, dass er anstelle eines Mundes nur eine zertrümmerte Masse besaß, die sein entzücktes Brüllen hohl und seelenlos machte.
Wie bizarr das hier alles war, dachte er, wie befremdlich und finster dieser Ort, den er sich in keinen Träumen und keinen Albträumen hätte vorstellen können. Da dachten all diese leichtgläubigen Tölpel in der Oberwelt, dass nach dem Fall nichts mehr kam und dann wartete hier unten eine zweite Existenz auf sie, ein Dasein als Raubtier, das endlich jagen durfte. Wer hätte wissen können, dass sie ihn hier unten empfing? Wer konnte schon ahnen, dass völlige Dunkelheit bereits genügte, um der Seele das wahre Ich zu entlocken? Das Blut rauschte in seinen Ohren, es war die Musik unbändiger Freude vor einem nahenden Triumph.
Turids überstürzte Schritte schallten durch den Graben wie ein ratterndes Rad – tap tap tap tap tap – und sie waren so zart unter dem zerbrechlichen Körper, zart wie eine Fee, dass es sein Geschlecht mitten im Lauf zu voller Härte anschwellen ließ. Als er es bemerkte, entfuhr ihm erneut ein schallendes Lachen – ein bisschen überrascht diesmal, aber alles andere als betrübt. Er liebte diesen maßlosen Hunger, den Hunger auf Turid. Er wollte sie mit den Händen packen und ihre Haare nach hinten zerren, ihr gerade so gewaltsam den Körper aus dem Lauf reißen, dass ihr Genick nicht brach, sie dann zu Boden schleudern und sie bezwingen... dann, oder währenddessen, durfte sie sterben, darum scherte er sich nicht. Hauptsache, er durfte sie besitzen und zerfetzen, Hauptsache, sie schrie.
Der Graben wurde zur Schlucht, die Wände steil und endlos, die Luft dünn und kalt, der Untergrund rau und porös. Turid begann zu schluchzen und rang nach Atem, sie hinkte fürchterlich und war dem Zusammenbruch nahe. Eine Welle des Zorns brach über den Mann herein. Sollte sie die Jagd beenden, bevor er es tat, würde er sie dafür bitter bezahlen lassen.
Er sah nicht, dass Turid sich zum ersten Mal in diesen schrecklichen Minuten ihrer Verfolgungsjagd für einen winzigen, kostbaren Augenblick nach ihm umdrehte. Nicht, um ihn zu verorten, sondern um sich zu erlauben, nur ein klein wenig langsamer zu werden. Nie hatte sie solche Qualen erlebt; es war, als ob ihr Körper lange abgebrannt war und trotzdem in Flammen stand, doch ihr eigener Instinkt folterte sie, indem er sie weitertrieb, um nur nicht in den Fängen dieser Schreckensgestalt zu enden. Doch was hatte es für einen Zweck, vor einer Gewalt davonzulaufen, die ihr in jedem erdenklichen Falle einen grässlichen Tod versprach? Sie bereute ihre Sturheit, ihre Unschuld, ihre Herzensgüte – alles – aber es war zu spät. Durch das Gift hatte Beowulf jede Menschlichkeit dieses Mannes getötet, bis nur eine leere tödliche Hülle übriggeblieben war, deren gehetztes Knurren ihr im Rücken lag. Dass ihr Verfolger weder Sinn noch Verstand verloren hatte, sondern ihr unter vollem Bewusstsein nach dem Leben trachtete, konnte sie ja nicht wissen. Sie dachte nur daran, dass Beowulf sie, nach all der Zeit und dem Vertrauen und dem Begräbnis ihrer Ängste, letzten Endes doch auf dem Gewissen haben würde. Sie erfasste diese Erkenntnis als kurzes Aufblitzen zwischen zwei Sprüngen, und so schnell sie gekommen war, war sie auch wieder fort. Der Schmerz in ihrem Bein brachte sie schier um.
Eine Biegung. Turids Schall verwand, aber nur für eine Sekunde, dann war er für ihren Verfolger wieder da, lauter und köstlicher in seinen Ohren als je zuvor.
Was würde er tun, wenn sie endlich tot und sein Hunger noch nicht gestillt war? Wenn nicht nur seine Lust nach Befriedigung gierte – oh, es konnte so lange dauern, bis ihr Körper ihm das nicht mehr geben konnte – sondern wenn sein Hunger wahrhaftig, fleischlich, war? Es dauerte nur eine Sekunde, um sich darüber Klarheit zu verschaffen. Was auch immer mit ihm geschehen war und wie es enden sollte, in diesem Augenblick war er nicht nur unbesiegbar. Er war nicht nur ein Überlebender des Schlundes, den nichts aufhalten konnte, sondern auch ein Gestrandeter in der Finsternis, dem ein Wunder widerfahren war. Er war kein Mann mehr, sondern ein Gott, nicht dieser Gott, aber doch gottgleich durch einen gottgleichen Willen: Bei allen Mächten dieser Erde, in seinem Leib brannte ein Feuer, das selbst in dieser unbekannten Finsternis ohne seinesgleichen war und niemals wieder gelöscht werden konnte. Und wenn das Raubtier von ihm verlangte, zu tun, was für den neuen König der Unterwelt würdig war, dann würde er dem Folge leisten.
Er besaß so viel Kraft. Seine Sprünge waren endlos weit, seine Muskeln schrecklich stark, seine Sinne in allen Maßen vollkommen. Nur sehen, sehen konnte er nicht. Aber wer braucht schon Augen, um eine blinde Beute zu verfolgen.
Desto langsamer Turid wurde, desto schneller raste sein Herz. Bald würde sie nur noch eine Handbreit von seiner Erlösung trennen. Blut und Speichel liefen ihm über die Überreste seines Barts.
Als die Schlucht sich verschmälerte und weiter absenkte, wandelte sich der einst kerzengerade Gang in ein steiles Labyrinth aus Windungen, das Jäger und Gejagte gleichermaßen dazu zwang, ihr Tempo zu drosseln. Nur die Tatsache, dass Turids Verfolger breiter war als sie, rettete ihr in diesen Augenblicken das Leben: Er musste sich ebenso mit ausgestreckten Armen im Lauf durch die Schlucht tasten wie sie und brüllte jedes Mal vor Wut, wenn eine hohe Steinformation ihm den Durchgang verwehrte. Er hielt es für eine höhnische Ironie, dass ihnen die Schlucht all ihre Steine in den Weg setzte, wie um die beiden Körper um jeden Preis behalten; gleichzeitig aber schien der Weg so schräg in der Luft zu hängen, dass sie mehr hinunterflogen als hinabrannten – als sei die Schwerkraft hungrig nach Seelen und wolle sie in die Tiefe locken.
Immer wieder prallten beide Körper links und rechts gegen die Felswand, was ihnen die Haut von Schultern, Armen und Händen wetzte und sie dennoch nicht aufhielt. Es war, als ob beide in einen Wettkampf vertieft seien, in dem es um die Ehre ging und nicht um das Leben: Das Labyrinth war ihre Disziplin, die Natur ihr Regelwerk und die Finsternis die Preisrichterin. So herrschte alles in allem in diesem verbitterten Keuchen tatsächlich eine wunderschöne Art von Harmonie, die Turid mit einem Schlag zerstörte, indem sie stolperte und zu Boden stürzte.
Sie hatte gewusst, dass dies kommen würde. Einen von ihnen musste es ja früher oder später treffen; entweder Verfolger oder Verfolgte wären im Sprung gegen einen kniehohen Stein geprallt, genau groß genug, um einen Körper vornüber zu schleudern. Turids Felsbrocken reichte ihr nur bis zum Schienbein, aber das reichte völlig aus. Sie war einfach so schnell gewesen.
Sie erwartete, gegen den zerklüfteten Boden zu donnern, doch kaum eine Manneslänge vor ihr kippte die Schlucht endgültig nach unten ab wie ein steinerner Wasserfall. Turid fühlte, wie ihr Körper von der Schräge empfangen und augenblicklich wieder ausgespuckt wurde, als hätte die plane Fläche sich an ihrer Haut verbrannt. Sie vollführte in der Luft eine kunstvolle Drehung, in der ihr magerer Leib für einige Sekunden mit rudernden Armen um die eigene Achse rotierte, dann schlug sie wieder auf, kippte mit den Beinen voran nach unten weg und schlitterte rückwärts in den Abgrund.
Sie hörte, wie der Mann einen wilden Schrei ausstieß und sich ihr hinterherwarf, hörte, wie er sich mit den Beinen abstieß, den Rücken bog und den ganzen Körper im Flug zu einem perfekten Bogen spannte – so sprang er ins Nichts, die Hände zu Klauen gebildet, die Augen weit aufgerissen vor Verlangen, sie endlich zu ergreifen. Und Turid starrte ihm direkt ins Gesicht, wissend, dass sie seine Fratze jetzt auf sie zurasen gesehen hätte, wäre da nicht die Finsternis gewesen, um sie zu verschlucken. Sie war ihr dafür so unendlich dankbar.
Hätte sie sehen können, sie hätte vor Entsetzen geschrien und mit aller Macht danach getrachtet, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen, um den Tod durch seine Hand in jedem Falle zu verhindern... und das nicht aufgrund seines zertrümmerten Gesichts. Jetzt aber klammerte sie sich an die Hoffnung, ihrem Tod doch noch entkommen zu können.
Reichlich schwer, erkannte sie, denn mit dem steilen Hang war jetzt Schluss. Es gab nichts, woran sie sich festhalten konnten, sie nicht und der Mann nicht. Sie verschwanden einfach beide stumm in der Schwärze, als hätte man zwei kleine Glasmurmeln über eine Tischkante gefegt.
Seltsam war, dass die Schwerelosigkeit alle Empfindungen aus Turids Leben strich, selbst die Angst. Sie war davon ausgegangen, dass Szenen aus ihrer Heimat, von ihrem Vater womöglich, vor ihren Augen vorbeizögen, oder das vertraute Meer aus ihren Träumen. Ja, vielleicht wäre sie sogar mit der Vorstellung von Beowulf und der Finsternis zufrieden gewesen. Allerdings schoss ihr nur ein absurdes Bild ihres baldigen Mörders durch den Kopf, wie er Unterschenkel voran über den Gesteinsbrocken flog und sich das lädierte Schienbein dabei vollends auseinanderriss, jedoch unbekümmert auf seinen verbliebenden drei Gliedern durch die Dunkelheit weitergaloppierte wie das Raubtier, das er war.
Als der Aufprall ihr die Luft aus den Lungenflügeln presste, wünschte sie sich, sie hätte in ihren letzten Momenten an etwas Schöneres gedacht.
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