Kapitel 20. Gedanken des Grabens
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Der Mann starb nicht. Nun, das stimmte nicht ganz, denn als Turid die Schultern sacken ließ und der schwere Stein mit einem hohlen Knirschen auf den Boden knallte, setzte das Herz des Unglücklichen aus. Sie dachte, das müsse es gewesen sein und lauschte ungläubig der Stille, die lautstark darüber klagte, dass Turid einen Menschen umgebracht hatte. Ungläubig nicht, weil sie überrascht über den Tod des Hingerichteten gewesen wäre – sie hatte oft genug ausgeholt, um mehr als einen Menschen zu erschlagen – sondern weil Turid nun wusste, dass ihr es an jeglichem Talent für die Maßreglung ihrer Hände mangelte, wenn einmal eine Mordwaffe in ihren Fingern lag. Diese siegreiche Schlacht war ein Festbankett und jedes Knochenbersten wie ein weiteres süßes Rosinchen in einer Schale voll Zuckerwerk gewesen. Eins noch, eins noch, noch ein kleines...
Großer Gott, dachte Turid, zum Glück bin ich kein Mann geworden. Was hätte ich nur für eine Schneise an Gewalt durch das Land gezogen.
Poch, poch, poch, meldete sich das Herz des Hingerichteten, ein ruhiges, schläfriges Pulsieren. Grundverschieden von dem wilden Hämmern, das es einst gewesen war. Turid verzog vor Scham das Gesicht und bat den Herrn in einer Reihe an stummen Gebeten um Verzeihung.
Eine Weile blieben sie beide als verrenkter Haufen in der Kiesgrube liegen, teils übereinander, aber das störte Turid nicht. Sie war zu erschöpft, um auch nur einen Finger zu bewegen; zu allem Übel wusste sie, dass nach und nach die Schmerzen einsetzen und die friedliche Ruhe, die nun mit dem langsamen, arhythmischen Takt ihrer Herzen in der Höhle eingekehrt war, zur Qual machen würden. Sie hatte noch Zeit, sich vorzubereiten: Mit zusammengekniffenen Augen – das rechte willentlich, das linke von selbst zugeschwollen – zählte sie sie auf, ihre Andenken an diese wenigen Minuten, vielleicht sogar Sekunden, die ihr Leben grundlegend verändern würden, nun, da der Mann überlebte. Da war eine unheilvolle Wärme über der linken Seite ihres Kopfes und das Gefühl von Muskeln in ihrem Gesicht, die einem nicht gehorchen wollen. Da war die eigenartige Feuchtigkeit ihrer linken Hand, als hätte sie in eine der schleimigen Massen gefasst, die Hadubrand ihr ausspuckte. Turid wusste, dass es Blut war; die Haut der Innenfläche war von unzähligen Schlägen mit dem rauen Felsbrocken zerfetzt. Von ihrem Rücken und dem Bein spürte sie nichts. Aber das würde kommen.
Ob wohl ein Wirbel gebrochen war? Kurz bekam sie es mit der Angst zu tun, als Bilder von Bettlern mit verdorrten Beinen vor ihren Augen aufblitzten, die obere Hälfte völlig gesund, die untere faulig und schief wie der Körper eine Mumie. Sie hatte einmal mit zarten Kinderhänden am Kleid einer Amme gezupft und gefragt, warum man diese Menschen nicht im Säuglingsalter erlöst hatte. „Nicht doch", hatte die Frau gesagt, „die da mussten erst zu Krüppeln werden." Und dann, wie ein Rat zur Zubereitung einer Suppe: „Es gibt Knochen, die man sich besser nicht bricht."
Vorsichtig hob Turid die Hand und tippte sich gegen den Oberschenkel. Eine Erinnerung flackerte wieder auf, diesmal an ihren eigenen Fall durch den Schlund, nach dem sie es genauso gemacht hatte. Wie ähnlich das hier diesen ersten Stunden nach dem Aufprall war! Genauso betäubt, genauso schlaff wie damals musste sie nun daliegen und sich fragen, was an ihrem Leib noch so war, wie es sich gehörte. Auch jetzt war sie durstig und zerfahren und betroffen, auch jetzt war der Schock die größte Triebkraft ihrer Taten. Ja, sie lag sogar nicht weit vom Schlund entfernt. Nur die Finsternis, die war nicht mehr dieselbe, die war ihr heute so vertraut wie ein guter Freund.
Vor den kalten Fingern zuckte ihr Bein beinahe zurück. Turid seufzte zufrieden und ließ sich wieder sinken. Der Rücken war heil, und der Oberschenkelknochen so schief beisammen wie eh und je. Wenn sie also nicht in der nächsten Zeit Blut spucken und sterben sollte, müsste ihr Körper bald wieder so ruiniert sein, wie er vor dem Kampf gewesen war.
Dieser Gedanke brachte sie zum Grinsen, bis sie ihrer bösen Freude nicht mehr Herr wurde und sie in hemmungsloses Kichern ausbrach. Einen Moment dauerte es, dann verwandelte sich das Kichern in Gelächter und das Gelächter in Schluchzen.
Es war sehr lange her, dass Turid zuletzt geweint hatte. Früher war es oft ihre erste Wahl gewesen, besonders als Kind, wenn ihre Brüder sie zum Narren gehalten hatten, sie bald zu Bett musste oder vom Pferd gefallen war... aber vielleicht gewöhnten sich Augen in der Dunkelheit daran, nutzlos zu sein, und stellten mit dem Verlust des Lichts auch die Tränen ein. Wie man es nämlich drehte und wendete, es kamen keine. Nur gut so, denn an Wasser fehlte es ihr schon genug.
Ihr fiel ein, dass sie zuvor beinahe ertrunken war, und verzog die Lippen wiederum zu einem bitteren Lächeln.
Nach einer Weile blickte sie wieder zu dem Mann hinüber, mit nachdenklicher Miene, während die Schmerzen allmählich deutlicher an ihrem Bewusstsein zogen. Knochenbrüche waren eine Sache, Prellungen eine andere, in den ersten Tagen allerdings konnte man sie kaum voneinander unterscheiden. Die Letzteren heilten nur schneller, das war alles, was Turid tröstete. Trotzdem gönnte sie sich kein Selbstmitleid. Lieber steckte sie in ihrer Haut und litt an einem blauen Auge, aufgeschürften Gliedern und einem stechenden Rückgrat, als mit zermatschtem Gesicht und zerbrochenem Körper in dieser Kiesgrube zu liegen. Leise drehte sie sich um und schlang den Ärmel ihres Kleides um die Faust. Damit wischte sie dem Bewusstlosen vorsichtig das Blut von den Augen, genau darauf bedacht, ihn nicht unterhalb der Nase zu berühren.
Turid hatte immer geglaubt, die Stätte eines Gemetzels müsse etwas Böses an sich haben, gleich einer Narbe, die ihren Besitzer für immer als Gefährte der Gefahr kenntlich macht. Aber dem war nicht so. Der Graben war zwar alles andere als gemütlich, aber alle Zeugnisse von Gewalt verschwanden in der Dunkelheit, keine rotbesprenkelten Felsen, die man sehen konnte, keine gequälten Schreie, die man hallen hören konnte, kein Schweiß oder Staub in der Luft, der sich nicht schon längst gelegt hätte.
Einmal mehr war sie fasziniert von der Gutmütigkeit der Stille und dem leisen Schnaufen des Hingerichteten neben ihr. Zurück blieb nur eine leise Unruhe, die aber, so erkannte sie gleich, nicht von außen auf sie einwirkte, sondern aus ihrem Innern kam. Es war, als hinge ein Gefühl in der Schwebe, das Turid eigenartig vertraut vorkam, anders als die Erinnerungen aus der Stadt, etwas viel Persönlicheres, das ihr zur eigenen Bewunderung die Haare zu Berge stehen ließ. Die Nähe zu diesem Mann war wie eine verschlüsselte Drohung, auf einmal so beklemmend, dass sie den Arm wieder sinken ließ. Vielleicht war es ein Duft...
Turid verschloss das rechte Auge und versuchte den Peitschenhieben Herr zu werden, die eine unsichtbare Gestalt auf ihren Schädel niedersausen ließ. Es tat viel mehr weh als der Faustschlag selbst. Immer noch nichts im Vergleich zu den Qualen, die den Verursacher dieses Schmerzes beim Erwachen erwarten würden, falls er überhaupt –
Doch, unterbrach sie ihre Überlegung, dieser Mann würde erwachen. Er war vorhin nicht gestorben, dann würde er auch jetzt nicht mehr sterben.
Je länger sie dort lag und dem schwachen Pochen seines Lebens lauschte, desto mehr steigerte sie sich in die Schuld hinein. Mehr, als gut für sie gewesen wäre. Auch wenn sie sich nur gewehrt hatte, auch wenn sie nur Gutes gewollt hatte. Es war ihre Schuld, was ihm widerfahren war, denn sie hätte wissen müssen, wie er dachte. Hatte sie nicht Verantwortung gegenüber diesem Gefallenen gehabt und versagt, hätte sie nicht auf seinen Zustand und seinen Schock Rücksicht nehmen und mit seinen Fehlern rechnen müssen? „Die eigentliche Frage ist doch, warum du nicht aufgehört hast", flüsterte sie und verfiel, die Arme um die Brust geschlungen, in ein schwaches Wippen. Die Bibel befahl nicht, den eigenen Tod durch die Hand eines anderen zu akzeptieren. Aber Turid konnte sich nicht selbst belügen. Jene, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen.
Am Ende ihrer Gedankenkreise war sie ein reumütiges Wrack voller Angst vor der Sühne und hatte den Entschluss gefasst, alles wieder gut zu machen.
„Also dann", sagte sie traurig, „nach oben mit dir."
Mit einem beherzten Griff packte sie den Mann am blutdurchfeuchteten Hemdkragen und wuchtete ihn ein Stück den Abhang nach oben – eine klägliche Leistung, bewegte sich der schwere Leib doch nur ein paar Fingerbreit und sackte dann wieder in seine Position zurück. Turid stöhnte und hielt sich den Rücken, in dem kleine Flammen aus Schmerz um jeden Wirbel loderten. Sie saß gekrümmt auf dem Steinboden und wartete, bis das Stechen weder vergehen würde, aber es blieb. Das hatte ihr Vorhaben also gebracht. Es war armselig, dass sie überhaupt versucht hatte, ihn zu bewegen, zumal ihr Körper ohne ihre Mitsprache nach wie vor gegen eine Berührung dieses Mannes zu stimmen schien. Er seinerseits, dachte Turid, hätte mich wahrscheinlich zwischen zwei Fingern tragen können wie einen Schmetterling.
Sie gab sich einen Ruck. Es brachte niemandem etwas, wenn sie hier unten blieb und über diesem bewusstlosen Körper wachte wie ein Hund; sie tat besser daran, erst sich selbst zu helfen. Ja, vielleicht gestärkt zurückkehren und dann weiter darüber nachdenken. Der Gedanke an den See und sein kühles Wasser entlockte ihr ein trockenes Schmatzen.
Ihr Entschluss war leichter gefasst als ausgeführt. Die Grube hinunterzurollen war eine Sache, in die die Schwerkraft mit Leichtigkeit ihre Finger ins Spiel gebracht hatte, den Hang wieder hinaufzugelangen eine völlig andere. Die Steigung lag auf jenem schmalen Grat, bei dem Menschen sich nicht entscheiden können, ob sie mit einer Portion Schwung nach oben laufen oder langsam auf allen Vieren klettern sollen; Turid unterdessen hatte noch das Problem, dass nur zwei ihrer vier Gliedmaßen anständig funktionierten – die rohgewetzte linke Handfläche mitgezählt. An die verkrümmte rechte Hand hatte sie sich längst gewöhnt, einfache Arbeiten erledigte sie stets mit dem Ellenbogen, damit kam sie auch hier zurecht. Zur Belastung des Beines aber war sie gezwungen, und nur ein Gebet konnte dafür Sorge tragen, dass der Knochen durch ihre hangelnden Bewegungen keinen Ermüdungsbruch erlitt oder, noch schlimmer, Turid an den staubigen Felskanten den Halt verlor und ihn sich auf noch unsanftere Weise wieder in Einzelteile zertrümmerte. Nun, sie selbst glitt nicht aus, aber einmal rutschte ihr eine Schar an Kieseln schlichtweg unter den nackten Füßen davon; sie hatte Glück, denn im selben Moment bekam sie einen kleinen Vorsprung zu fassen und zog sich daran nach oben. Nachdem sie sich heftig keuchend eine Weile daran festgeklammert hatte, stellte sich heraus, dass es kein herauslugender Stein, sondern der Boden war, an dem sie hing. Mit einem letzten gepeinigten Laut schob sie sich über die Kante und blieb mit brennendem Rücken liegen.
Es war wohl ihrer Erschöpfung geschuldet, dass sie, nicht auch nur eine Spur an diese Seele der Höhle denkend, nach einigen taumelnden Schritten gen See sehr zu ihrem Ärger auf einen Widerstand traf, nämlich Beowulf in die Arme lief.
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