Kapitel 19. In den Händen des Todes

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Kaum eine Sekunde später und ihr Schrei war abgewürgt. Der Griff eiserner Finger drückte ihr die Luftröhre zu; hatte sie vorhin geglaubt, unter Wasser ersticken zu müssen, so konnte dies nicht mehr als ein Witz gewesen sein. Jetzt war sie dem Tode wirklich nahe, jetzt war ihre Atemnot nicht selbst auferlegt, nicht selbst behebbar; nun lag auch nur der kleinste Hauch von Luft ihrem eingeschnürten Rachen ferner als jeder Weg in die Oberwelt.

In einem plötzlichen Schub wahrer Kraft, den Turid nie, niemals von einem Gefallenen erwartet hätte, bäumte sich der verrenkte Körper unter ihr auf, vollführte eine schwungvolle Drehung, streckte den Arm durch und schleuderte sie gegen die Wand. Der Fremde war massig, bestimmt drei- oder viermal so schwer wie sie selbst, und sogar in seiner gebückten Haltung überragte er sie, denn sie konnte sein Schnauben weit über ihren Haaren hören. Er prustete regelrecht, als fiele es ihm schwer, Luft in die eigenen Lungen zu bekommen – aber wie sehr auch immer der Aufprall seinen Brustkorb zusammengepresst hatte, es war nichts im Vergleich zu dem, was Turid erleiden musste. Sie wand sich, strampelte, aber der Mann schloss seine Finger nur fester um ihre Kehle und stieß sie weiter gegen die Wand, lehnte sich aber gleichzeitig zurück, als hielte er eine bissige Schlange am Hals von sich gestreckt.

Turid spürte, wie ihre Zehen vom Boden abhoben und die Dunkelheit vor ihr begann zu pulsieren. Stumm öffnete und schloss sie den Mund. Ein, zwei Augenblicke noch und sie würde in Ohnmacht fallen. Ein paar mehr, dann wäre sie tot.

Der Mann riss sie wieder eine Handbreit zu sich her, dann schmetterte er sie erneut gegen die Felsbrocken. Noch einmal, und dann noch einmal, bis sie meinte, ihr Leib sei nur noch eine zermatschte Fliege an der Wand. Anstatt aber ihren Rücken noch ein viertes Mal gegen den Stein zu rammen, holte er aus und schleuderte sie zur Seite; durch den Schwung verloren seine Finger den Halt und Turid schlitterte durch die Dunkelheit. Sie überschlug sich, bis ihr Gleitflug von den steilen Felsen des Schlunds unterbrochen wurde und ihr Körper auf den Boden klatschte.

Schwer atmend stolperte der Hingerichtete zurück und ließ sich stöhnend auf die Knie sinken, während Turid als verrenkte, zerschrammte Form in die Nische kroch und durch kleine Stöße ihres Zwerchfells mehr und mehr Hohlraum in ihre Lungen pumpte, bis ihr Rachen sich durch den Unterdruck wieder öffnete und ein rasselnder Durchzug durch ihre Kehle pfiff. Nichts fühlte sich in diesem Moment so gut an wie diese kühle, feuchte, stinkende Luft.

Eine Weile lag sie nur da, bäuchlings, die Arme links und rechts ausgestreckt, als wolle sie fliegen, und atmete. Nur darauf konzentrierte sie sich – und auf ein leises Gebet, dass er nicht zu ihr kommen würde, um sein Werk zu beenden.

Er kam nicht.

Als ihre Sinne wieder klarer wurden, konnte sie ihn hören. Wie die Zuschauerin eines Schauspiels beobachtete sie, wie er dort in der Höhle herumstolperte, gegen Wände stieß, hinfiel, fluchte und vor Schmerz schrie. Er musste Verletzungen davongetragen haben wie Turid damals auch, Schürfwunden, Prellungen, gebrochene Knochen. Doch kämpfte er dagegen an wie ein Ochse, dem ein Speer in der Seite steckt: Nur noch rasender gemacht durch die Qualen. Vielleicht würde er irgendwann einfach tot umfallen, wenn das Feuer seines Schocks niedergebrannt war.

Wie er doch der Finsternis ausgeliefert ist, dachte sie und schob sich die Faust in den Mund, um ihr eigenes schmerzerfüllte Wimmern zu unterdrücken. Des Augenlichts beraubt, sich völlig blind vorkommend, ohne gelernt zu haben, auf Ohren, Nase und Hände zu vertrauen wie sie selbst, die genau wusste, was er tat und wo er war – er lief ihre Karte ab wie eine leuchtende Landmarke. Erst taumelte er nach rechts, stieß dort gegen die Höhlenwand und wandte sich hastig ab. Sein Schnaufen verriet ihr, dass er sich auf den See zubewegte, und im nächsten Moment hörte sie auch schon ein Platschen und einen Aufschrei. Er zuckte regelrecht zurück vom eiskalten Wasser, als hätte er sich daran verbrannt. Doch auch sein nächstes Ziel brachte ihm kein Glück: Er lief mit erstickten Lauten den Rand des Abgrunds entlang, schleifte mit gekrümmtem Oberkörper die Hände über den Boden, um sich den Weg zu ertasten und sich zu stützen. Den schmalen Grat, der vom Schlund zur weitläufigen Höhle führte, bemerkte er nicht, dafür war er zu hastig. Überhaupt, wie hätte er wissen können, dass der Abgrund in Wahrheit nur ein Graben war?

Turid ihrerseits war aber nicht weniger hilflos als er. Sie konnte nichts weiter tun, als sich in der Nische zu verstecken, ihre Wunden zu lecken und abzuwarten. Selbst wenn sie sich einen Ruck geben könnte, um etwas zu unternehmen, was wäre ihr schon eingefallen? Seit dem ersten Grollen des Richterfelsens, ja sogar seit dem ersten rauen Hieb Hadubrands, liefen ihre Gedanken im Kreis. Der Mann war nicht nur ein Eindringling in diese Höhle, ihre greifbare Heimat, sondern auch in ihre geistige Welt. Die Hinrichtung hatte alles zerstört, was sie gekannt hatte und sie durch einen Strudel aus Verwirrung dem Wahnsinn ein Stück nähergebracht.

Der Fremde hinkte nun in immer schnelleren Kreisen wie ein eingesperrtes Tier. Sie erkannte, dass er mit aller Gewalt das Weite suchen wollte, aber sie verstand nicht, warum. Sein Drang zur Flucht war so stark, dass sie ihn wittern konnte wie einen strengen Geruch. Er wollte nichts anderes auf dieser Welt als fort, obwohl er doch schwer verletzt war und sie hier unten...

Als sie endlich begriff, war es bereits zu spät. So erfuhr sie, was Tiere tun, wenn sie der Todesangst ins Auge sehen und keinen Ausweg finden können.

Der Mann stieß wie ein Pfeil mit dem Kopf voran in die Nische und überfiel sie mit solcher Wucht, dass sie zusammen in einer Kugel aus zwei Körpern vom Boden gerissen wurden und gegen die Wand donnerten. Ein gellendes Brüllen erklang aus seiner Brust, sein Schlachtruf, der von der Höhlenkuppel zurückhallte und ein Heer von Kriegern über sie hinwegsausen ließ.

Doch sein zerschundener Leib war zum Gleichgewicht nicht fähig. Er hatte sie festnageln und wieder würgen wollen – stattdessen prallte seine massige Brust an ihr ab, seine Hand griff ins Leere, nur ein paar ausgerissene Haarsträhnen in den Fingern. Er rutschte seitlich zu Boden und stieß sich den Kopf an der Decke, als er versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Wie eine Spinne krabbelte Turid davon und entwischte seiner Faust, die nur einen Moment später auf den Boden krachte, dort, wo ihr Kopf gewesen war.

Sie ignorierte den scharfen Schmerz in Rückgrat und Oberschenkel und jagte zum Graben, wo er sie auf halbem Weg mit einem Hechtsprung an sich riss und zu Boden schleuderte. Seine Hand wanderte wieder in eine steinerne Umarmung um ihre Kehle, auch als Turid sich in einem wilden Gewirr aus in der Finsternis zappelnden Gliedern zur Wehr setzte: Mit den nackten Füßen trat sie ihm gegen das Schienbein, wo sie einen angebrochenen Knochen endgültig bersten hörte, im nächsten Moment in den Bauch, woraufhin der Mann vor Schmerz tobte. Gleichzeitig schloss sie die linke Hand – die rechte war unter seinem Körper begraben – zur Faust und schlug blindlings zu. Wie sich herausstellte, traf sie ihm nun seinerseits in die Kehle; ein Röcheln und Husten, dann lockerte sich der Griff und Turid keuchte.

Leider tat er es ihr gleich. Sein Hieb allerdings fühlte sich an wie die Pranke eines Bären, als er an ihrer linken Schläfe einschlug, das Auge in die Höhle drückte und Turid für einige Momente aus dem Bewusstsein schleuderte.

Als sie die Lider wieder öffnete – es war der Schmerz an Kopf, Kehle und Brust, der sie wachrüttelte – war ihr die Luft wieder abgeschnürt, sie fühlte ihn taumeln, als er versuchte, sich aufzurichten. Er konnte nicht; so landete er nach Atem ringend quer über ihr und erdrückte sie mit seinem Gewicht, bis ihre Rippen knacksten. Er bewegte sich auf ihr, versuchte, sich in der Dunkelheit zurechtzufinden, robbte halb über ihrem Bauch und halb auf dem Höhlenboden ihren Körper entlang nach oben.

Trotz des Nebels in ihrem Kopf, ein vages Schummern von dem Mangel an Luft und dem Schlag auf die Schläfe, fragte sich Turid, was er wohl vorhatte. Er wollte sie nicht nur zerdrücken, sie nicht ausschließlich umbringen – so verrückt sich das anhörte – er hätte ihr längst den Rücken brechen können, das wurde ihr jetzt klar. Vielmehr bezweckte er etwas, wie eine ganz bestimmte Position, als müsste der Prozess des Erwürgens nach einem festgelegten Ritual erfolgen, das er nun durch seine Mühen erreichen musste. Welche Tragik, wenn alles so enden sollte, war es doch nicht ihre Schuld und nicht seine.

Nun, auch wenn der Lauf der Dinge sie zu erbitterten Feinden gemacht hatte, noch waren sie nicht Mörder und Ermordete.

In einem exakt abgepassten Moment, als er sich ein Stückchen von ihr löste, bäumte sie sich auf und biss ihm in die Hand. Er schrie und zuckte reflexartig zurück, aber Turid setzte ihm nicht nach, sondern floh weiter ihrem Ziel entgegen. Dieses Mal rechnete sie damit, dass er sie einholte und überrannte – der Moment passte perfekt. Die Kraft seines Sprungs riss sie beide den Abhang hinunter, nur war Turid auf den Graben vorbereitet und rollte sich ab, er war es nicht – jedoch packte er sie im Flug am Oberkleid und klammerte sich an sie, sodass sein Gewicht beide hinunterriss und sie sich in einem Schwall aus Staub wie eine Spindel in die Tiefe drehten.

Kaum waren sie zwischen einem Berg aus Schutt hustend und röchelnd zum Erliegen gekommen, hatte er sie wieder am Hals gepackt und ihre Wange gegen die spitzen Kiesel gepresst. Einer plötzlichen Eingebung folgend ließ sie ihre Muskeln erschlaffen, doch die List konnte den erfahrenen Kämpfer nicht täuschen; er schloss beide Hände nur noch fester zusammen und rammte ihr seine Knie in Rücken und Unterschenkel, sodass ihr rechter Arm von seinem Stiefel zerquetscht wurde und Turid unter seinem Körper keine Möglichkeit mehr hatte, sich zu wehren.

Das rettete ihr das Leben – das und die Dunkelheit. Diese nahm nämlich Turids freie linke Hand in ihren schwarzen Schleier auf, verschluckte sie, damit ihre Finger, wie sie es gehofft hatte, verstohlen über das Geröll wandern konnten.

Mit einem Ruck zog sich der Mann an ihrem Hals nach oben. Plötzlich glitt sein warmer Atem über ihre Wange, raue Barthaare zerkratzten ihr das Gesicht, dann wurde ihr Kopf zur Seite gedrückt. Kurz dachte sie an Hadubrand, war ihr doch sein Maul genauso nah gewesen wie dieses.

Jetzt hatte er sie endlich erreicht, seine steinerne Umarmung, es war alles vorbereitet, um sie zu erwürgen. Jetzt, ohne Luft in den Lungen und qualvoll unter seinem Griff erstickend, verstand sie auch seine Absicht, sein Gesicht so nah an das ihre zu bringen...er öffnete die Lippen und krächzte ihr etwas ins Ohr.

Sie erfuhr nie, was der Hingerichtete ihr die ganze Zeit über hatte sagen wollen, denn der schwere Felsbrocken in ihrer Hand zertrümmerte ihm das Kinn. Der Hieb schleuderte seinen Schädel zur Seite, doch sie schlug zielsicher noch einmal zu, und ein drittes und ein viertes Mal. Wie gut das tat, den kräftigen Knochen in tausend kleine Teile splittern zu hören und wie weh es tat, weil niemand von ihnen es gewollt hatte!

Sein Leben lang hatte der Mann sich wie jede andere Seele im Land gefragt, was wohl am Ende des Schlunds auf die Gefallenen warten mochte; hatte uralten Hexen gelauscht, wie sie sich im Schein ihres Lagerfeuers mit Tonfarbe die grausamsten Tode auf die Gesichter malten; hing dem Prediger an den Lippen, wenn er vom Biest aus der Bibel erzählte und hatte kleinen Kindern zugesehen, die mit spitzen Stöcken zwischen den Zähnen hinter den Rücken ihrer Eltern Hinrichtung spielten. Er mochte sich mit seinen Brüdern darüber gestritten haben, welchen Geschichten von Basilisken, Chimären und Höhlenghulen zu glauben war, oder seine Lehrer um Rat gefragt haben, ob es derartige Fabelwesen überhaupt geben mochte. Eines stillen Tages, als das Wetter lau war und die Felder brachlagen, hatte er vielleicht das Grollen aus den Tiefen des Gebirges gehört und gebetet, dass es krachende Felsen oder tiefe Gewitter oder kochende Erde war, alles... nur nicht lebendig. War von all diesen Bildern noch ein einziger Flecken seiner Fantasie unberührt, so überließ er ihn des Nachts seinen Albträumen.

Dann fand er sich eines Tages leibhaftig in der Unterwelt wieder, die gähnende Leere, ein Fall, Schreie, Angst und Schmerzen, ein schwarzer Sumpf aus Dunkelheit, auf einmal Seite an Seite mit einer geisterhaften Gestalt, die mit lieblichen, lockenden Worten aus der Finsternis trat und ihre kalten Finger in sein Hemd krallte. Was hätte er alles geändert, dieser heilige Ruf: „Ich bin ein Mensch!" Wer hätte schon erahnen können, dass am Ende dieser Todesfuge keine dornenbewehrte Fratze der Teufelsbrut mit geöffnetem Rachen auf ihn wartete, sondern nur eine kleine helfende Frau.

Diese kleine Frau, dachte sie bitter, während sie seinen Kiefer weiter zu Brei zerhackte, kann sich wehren, weil sie sich nie gewehrt hat. Die Finsternis hat es sie gelehrt. 

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