Kapitel 18. Der Hundertste

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Wären da nicht ihre Finger gewesen, die sich fest um einen Stein am Boden krallten und so durch die Erschütterungen des Bodens eine ganz sonderbare Geschichte erzählten, dann hätte Turid den Verstand verloren. Sie hörte nicht das Hämmern ihres Herzens, nicht das Pochen ihres Blutes, nicht das Kratzen ihrer Zehen über dem Höhlenboden: Nur ein dröhnendes Rshhhh. Schwarzes Wasser war in ihre Ohren gedrungen, hatte ihr, so fühlte es sich an, das Hirn zu Eis gefroren und jeglichen Ton ausgemerzt, um sein eigenes Rauschen in ihrem Kopf zum alleinigen Herrscher ihrer Welt zu machen.

Und es war laut. Eigentlich, schätzte sie, konnten nicht mehr als ein paar Sekunden vergangen sein, denn ihre Lungen ertrugen den Stillstand ihres Atems gut; das Bedürfnis, an die Oberfläche zu springen und tief Luft zu holen, ließ noch ein wenig auf sich warten. Auch die Nadelstiche des Wassers auf ihrer Haut waren frisch und schmerzhaft. Dieses Rauschen in ihren Ohren allerdings war so unerträglich, dass es die Zeit ausdehnte und jeden Moment, den sie in den Fängen des Sees verbrachte, zur Qual machte.

Konzentriere dich, beschwor sie sich, höre zu, was die Höhle dir zu sagen hat. Das funktionierte gut, denn das Schaben des riesigen Felsens über dem Schlund lenkte sie ab von ihrem Schmerz. Es waren die letzten Momente dieses Geräuschs, die Turid hier fühlte – im nächsten Augenblick nämlich verstummte die Vibration und das Treiben der Hinrichtung stand still. Jetzt führen sie ihn zum Schlund, dachte Turid, und die Erinnerung an die kreisrunde, gähnende Dunkelheit stieg wieder vor ihren Augen auf, so schwarz, dass sie ihr damals im Licht der Rotunde wie ein Riss ihres Blickfelds vorgekommen war. Was der Mann wohl im Angesicht dieser schwarzen Ewigkeit fühlte? Turid ahnte es – erst jetzt würde er begreifen, dass sein Fall unausweichlich war, dass er gleich selbst Teil der Finsternis werden würde. Er würde es bereits im Kerker gewusst haben, ja, aber er würde es nicht verstanden haben. Das Loch war fern, wenn man nicht vor ihm stand, aber wenn die eigenen Zehennägel über den Rand lugten und man den ziehenden Windhauch spürte, der sein Opfer ergreifen und zu sich hinunterholen wollte, dann erst kam die Erkenntnis. Sie konnte nicht anders, sie hatte Mitleid mit ihm.

Gleich kommt es, dachte sie. Gleich.

Trotzdem erschrak sie fürchterlich, als der Aufprall die Höhle erschütterte.

Turid biss die Zähne zusammen und drückte sich den rechten Handrücken noch fester über die Augen. Sie wusste, dass in diesem Moment ein Strahl aus Licht auf den Höhlenboden traf – Beowulf musste ihn gesehen haben, wo er den Schlund doch „Lichtrinne" getauft hatte. Aber Turid bekam davon nichts mit, unter ihren zugekniffenen Lidern blieb alles so finster wie eh und je. Vielleicht war der Schlund ja lang genug, dass nur ein schwacher Schein nach unten gelangte, und das trübe Wasser verschluckte den Rest. Ein Dankesgebet verließ stumm ihre Lippen.

Wieder das Schaben, im nächsten Augenblick zu einem Grollen herangewachsen, das ihre Finger erzittern ließ. Sie hoffte, dass es nicht mehr lange dauern würde, den Schlund zu verschließen, denn die Luft wurde ihr knapp. Was würde sie tun, wenn sie zu ersticken drohte und auftauchen musste, bevor das Loch geschlossen war? Würde sie dann doch noch erblinden?

Mit aller Kraft kämpfte sie gegen den Drang an, den Felsen loszulassen und zu atmen. Sie durfte nicht! Noch nicht.

Gerade, als die Atemnot das Rauschen in ihren Ohren an Unerträglichkeit überstieg und Turid schon meinte, ertrinken zu müssen, versank die Welt abrupt in Stille.

Keinen Moment später stieß sie prustend durch die Wasseroberfläche und hustete sich die Lungen aus dem Leib. Die brennenden Augen schlug sie auf und war zum ersten Mal in ihrem Leben froh beim Anblick der vertrauten, undurchdringbaren Schwärze.

Zitternd und gelähmt – ihre Glieder schienen ihr nicht recht gehorchen zu wollen – kippte sie den Kopf nach links und rechts, um ihre Ohren vom Wasser zu befreien. Ganz schaffte sie es nicht, aber zumindest das Dröhnen war vorbei. Die Stille in der Höhle kam ihr auf einmal sehr ruhig und friedlich vor.

Stille... nein. Das war nur die halbe Wahrheit. Langsam drehte sie sich um und hinterließ einen schwachen Widerstand in der Strömung des Wassers.

Selbst mit diesem eingeschränkten Gehör, selbst unter dem Trommeln ihres Herzschlags, konnte sie es hören: Nicht mehr als ein Häufchen Elend unter dem Schlund, das sich kaum bewegte. Es musste zerschmettert sein, ebenso verrenkt und zerbrochen daliegen wie Turid damals. Aber es lebte, denn atmen konnte es.

Ein leises Shh, shh. Auf und ab. Das Zeugnis von sehr, sehr tiefem Schlaf.

Seltsam.

Soweit Turid sich erinnern konnte, hatte sie das Bewusstsein erst einige Zeit nach dem Aufprall verloren, als ihr Körper endlich entschieden hatte, dass die Schmerzen ihrem Geist nicht mehr zumutbar waren. Ja, die Luft war sogar derart lange von ihren Schreien erfüllt gewesen, dass ihr noch Wochen später die Ohren davon klingelten. Stundenlang hatte sie sich bewegt, gewunden, gelitten.

Vielleicht war der Mann dort schon fast tot. Womöglich hatte er sich den Schädel gebrochen und lag im Sterben.

„Was für ein Glück du hast", sagte sie dumpf. Dann schälte sie sich mühsam aus dem schulterhohen Wasser.

Als der See flacher und das Unvermeidliche, während sie mit sachtem Platschen gen Ufer watete, immer näher kam, fragte sich Turid, was nun zu tun sei. Sollte sie zu ihm gehen? Ein wenig Neugier hatte die Hinrichtung in ihr geweckt, aber hauptsächlich empfand sie Angst und Verwirrung. Es war wie ein Ereignis, das nicht wirklich passierte, oder einer anderen Turid passiert war. Eine andere Turid in einer anderen Finsternis, zu einer anderen Zeit.

Sie seufzte. Alles drehte sich, die Dunkelheit um sie herum machte sie schwindelig. Turid schob es auf den Mangel an Atemluft während ihres Tauchgangs. Warum war sie überhaupt...?

Hadubrand und ihre Panik von fielen ihr wieder ein. Aber das Tier und was vorher passiert war, das war für ihre Gedanken nicht mehr greifbar. Es lag zu fern zurück. Hadubrand war verschwunden, mehr zählte nicht, und die Angst vor seinen Fängen kam ihr nun lächerlich vor.

Mit aller Geduld wrang sie ihre Haare aus, wischte sich die Tropfen aus dem Gesicht, nahm sich sogar etwas Zeit, um das stechende Bein unter dem triefenden Unterkleid zu kneten. Schuhe und Oberkleid hatte sie mit schlotternden Fingern abgelegt und ausgebreitet. Sie ärgerte sich, dass sie so überstürzt – völlig grundlos! – vor Hadubrand geflohen war und jetzt mit den Schmerzen ihres schlecht verheilten Knochenbruchs bezahlen musste. Das Bein würde niemals aufhören, sie für ihre Dummheit zu bestrafen. Sie lachte bei dem Gedanken, dass Beowulf es vielleicht so gewollt hatte, dass er es mit Absicht so stümperhaft behandelt hatte, um sie an der kurzen Leine zu halten! Aber das Lachen verstummte allzu schnell. Beowulf mochte vieles sein, aber er war nicht grausam. Auf einmal tat ihr der stille Vorwurf schrecklich leid.

Der Hingerichtete vor ihr stöhnte.

Turid betrachtete die Dunkelheit mit wachsamen, weit aufgerissenen Augen. Aber sie hielt still. Die tanzenden Muster, ihre alten Begleiter, schienen sich wie Glühwürmchen um den Punkt zu sammeln, an dem sie das verzerrte Bündel verortete. Es atmete jetzt stärker – der Mensch erlangte das Bewusstsein. Die schwachen Schmerzenslaute bestätigten ihre Vermutung, dass es ein Mann war. Das waren die Hingerichteten immer gewesen... achtundneunzig Männer und eine Frau, wie Beowulf es gesagt hatte.

„Du bist der Hundertste", sagte sie leise, ein schwaches Lächeln spielte auf ihren Lippen. „Du bist etwas Besonderes."

Etwas regte sich. Der Mann hatte sie gehört. Turid dachte daran, wie es ihr selbst als Gefangene eines zerstörten Körpers am Boden des Schlundes ergangen war, und kam zum Schluss, dass er sie wahrscheinlich für ein Produkt seiner Fantasie hielt.

„Es ist in Ordnung", sagte sie sanft und näherte sich ihm vorsichtig. Der vereinigte Gestank von Blut und Schweiß schlug ihr entgegen. In allen Feinheiten konnte sie ihn riechen, wie er unter den Achseln, den Füßen und den Händen dieses Mannes hervorkroch, wie er von seinen Schürfwunden hinuntertropfte und aus den Knochenbrüchen austrat, um sich in leise dampfenden Schwaden an seinem Körper emporzuschlängeln. Aber da war noch etwas anderes – eine milde Mischung aus kaltem Rauch und Schlamm, die um ein Haar eine weitere schwache, aus tausend Sprenkeln zusammengesetzte Prise verdeckte. Pferdemist war darunter, Tannennadeln, Urin, Gänsebraten, fauliges Gemüse, gegerbtes Leder... für Turid so frisch und klar und köstlich wie kürzlich aufgebrühte Suppe. Es war der Geruch der Oberwelt.

Das, zusammen mit der Wärme eines neuen Körpers und einer ungewöhnlichen Klarheit der Luft, als wäre in der Höhle soeben Schnee gefallen, ließen sie fast glauben, sie wäre wieder dort. Das rege Treiben der Stadt, zwischen mit Bärenpelzen gewärmten Leibern, mit Raureif überzogenen Häusern und kalten Atemwolken vor rosigen Gesichtern... aber nur fast. Zu überwältigend war die Finsternis, die keinen Raum für Träumereien ließ, wie sehr Turid sich auch anstrengte, sich die winterliche Schönheit von Gremholdshand vorzustellen. Sie wollte Bilder beschwören, in Erinnerungen schwelgen, alles andere um sie ignorieren. Doch kam das vernichtende Schwarz wie eine Pechfarbe und übermalte alles. Die Finsternis hatte wieder gesiegt und sie zurückgeholt. Die Finsternis siegte immer.

Turid biss sich auf die Lippe und streckte die Hand nach dem Gefallenen aus, der nun stoßweise nach Luft schnappte. Vielleicht konnte er ihr diese Vertrautheit zurückgeben, vielleicht würde er überleben und diesen Ort besser machen, weil er ein Stück Heimat war. Nur einige Handbreit trennten sie jetzt noch voneinander. „Ist schon gut", flüsterte sie, wie sie zu einer verschreckten Stute geflüstert hätte, „alles ist gut." Eine Welle von Wärme glitt über ihre Brust, obwohl die Luft eisig war wie eh und je. Es war eine innerliche Wärme, ja sogar Zuneigung, wie mütterliche Sorge um ein Kind, das Turid sich zu retten geschworen hatte. Ein instinktgetriebener Teil von ihr wollte sich um dieses Bündel kümmern – um jeden Preis.

Ihre Fingerspitzen berührten den weichen Stoff eines Hemds.

Das Keuchen brach ab. Der Puls des Mannes hämmerte. Ein Ruck, ein Rauschen, und eine feuchte Hand schloss sich um ihre Kehle, kalt, verkrümmt, wie tot. 

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