Kapitel 17. Einige Geschehnisse
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„Siehst du", sagte sie, „wie schön die Stille doch sein kann."
Turid sprach mit Hadubrand, aber natürlich kam nichts zurück. In gewisser Weise führte sie Selbstgespräche, wenn das Tier sich zu ihr gesellte und das war in Ordnung – nicht ohne Grund lag es in der Natur des Menschen, sich mit seinen Haustieren zu unterhalten.
Nicht, dass du meines wärst, schoss es ihr durch den Kopf. Die Vorstellung ließ sie die Stirn krausziehen, so albern kam sie ihr vor.
Hadubrand indessen hockte vor ihr in der Dunkelheit und ließ nichts von sich hören als das tiefe Schnauben aus seinen mächtigen Lungen. Hochgewürgt hatte er noch nichts, deshalb war Turid auch nicht aus der Nische gekrochen. Damit ließ er sich diesmal wohl Zeit, und sie starrte betrübt an sich herunter, wo ihr Magen leise grummelte.
Unschlüssig über die ungewollte Pause ließ Turid sich an der Wand hinuntergleiten und die Gedanken schweifen. Sie versuchte von oben zu träumen, sich durch die eigenen Erinnerungen unterhalten zu lassen, aber das wollte ihr nicht recht gelingen: Immer, wenn sie die Bilder, Geräusche und Gerüche ihrer Heimat zu sich holen wollte, um darin zu versinken, verblassten sie so schnell wie ein winziger Wassertropfen in der Mittagssonne. Ohnehin fielen ihr keine Geschichten mehr ein, in denen sie nicht schon geschwelgt hatte, kein Tratsch mit einer Schwester, der sie lächeln ließ, kein Festtagsessen, das ihr nicht schon einmal in dieser dunklen Leere den Speichel in den Mund getrieben hatte.
Sie ahnte, warum sie sich nicht konzentrieren konnte – es war Beowulf, der sich wieder und wieder in ihren Kopf schlich und dort sein Unwesen trieb. Dabei hatte sie ihn seit Tagen nicht gesprochen, oder länger... in dieser Höhle konnte sich ein Wimpernschlag wie eine Ewigkeit anfühlen und eine Jahreszeit wie eine vorübergehende Verstimmung. So wie der Winter, der ihr große Mühe bereitete, aber in seiner kalten Beständigkeit zumindest zu ertragen war. Keine Stürme in der Finsternis, keine Kälteeinbrüche, nur die gleiche klamme Luft und das gleiche eisige Wasser.
Auf der anderen Seite – ihr geheimnisvoller Gefährte, ein wilder Ritt aus Stimmungswechseln, Stumpfsinn, Verständnis, Hass, Sanftmut, Komik, alles im Bereich des Möglichen, wenn man Beowulf nur eine Minute gab. Erlebte man ein Gespräch, stach man mit dem Speer in trübes Gewässer und konnte vom Stiefel bis zum Fisch auf alles treffen, was sich darin tummelte.
Zum ersten Mal fragte sich Turid, wie das Ganze ausgesehen hätte, wenn sie sich oben begegnet wären. In Gedanken ersetzte sie ihn durch alle Männer, die sie je gekannt hatte, wenn auch nur flüchtig – Verwandte, Berater, Lehrer, sogar Bedienstete und Verkäufer auf dem Markt – aber er passte einfach nicht in dieses Bild. Er, so wurde ihr klar, war ein Temperament, das ihr Vater niemals in ihre Nähe gelassen hätte, ja sogar – ein Verrückter. Im Kerker, da konnte sie sich ihn gut vorstellen. Im Kerker und im Krieg.
„Da sind wir doch", sagte sie zu Hadubrand. „Im Gefängnis. Und Feinde zueinander."
Ob es wohl möglich war, dieses Fass eines Tages zum Überlaufen zu bringen? Würde Beowulf sie auch dann wortlos verlassen? Männer, die die Beherrschung verloren, waren wie Betrunkene. Sie schlugen, vergewaltigten, töteten sogar. Und wenn sie dann gerichtet wurden, bestrafte sie vielleicht der Schlund.
Vor ihrem letzten Streit hatte sie ihn gebeten, sie auf ihrer Reise zum Ausgang zu begleiten, jetzt schämte sie sich dafür. Es stand außer Frage, dass sie ohne seine Gesellschaft sicher war; gute Geschichten aus fernen Ländern, was für ein lächerliches Gegenaufgebot. Sie war stark genug geworden, sich allein durchzuschlagen, sowohl körperlich als auch geistig.
Nur jetzt. Jetzt war sie hungrig.
Mit einem ernsten Gesichtsausdruck richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Hadubrand, der weiterhin in der Dunkelheit schnaubte. „Und was?", fragte sie und klopfte auf ihren Bauch, „heute noch oder möchtest du später wiederkommen?"
Das Ungeheuer atmete wie zur Reaktion etwas langsamer, aber es regte sich nicht.
„Unnützes Biest", schimpfte sie und schälte sich mit steifen Gliedern aus ihrer Ecke. Als sie dann in der Dunkelheit stand, erfüllte sie wieder ein Gefühl der Orientierungslosigkeit, das sie über die Maßen hasste. Die Wärme ausstrahlende Gliedmaße war nicht auszumachen und zum Ursprung der ein- und ausströmenden Luft – dem Maul – wollte sie ganz bestimmt nicht laufen.
Mit verschränkten Armen blieb sie stehen und wartete, das Bein angewinkelt. Es tat weh heute, stärker als sonst. Turid schob es auf die Kälte. Sie wusste, dass alte Verletzungen empfindlich auf Luft und Wetter reagierten, und der schwere Knochenbruch war nicht ansatzweise richtig zusammengewachsen. „Ob ich große Schmerzen hätte, wenn du nicht..." Ihre lauten Überlegungen verstummten.
Hadubrand raschelte.
„Na endlich", seufzte sie.
Schaben, Bewegung, vertraute Würgeräusche. Er spuckte ihr etwas vor die Füße. Turid bückte sich ächzend und drückte die Finger in eine warme Masse von der Größe eines Apfels. Ungläubig tastete sie die Umgebung ab, ob es sich bei dem kleinen Häufchen vielleicht nur um einen Spritzer von etwas Größerem handelte, aber da war nichts – nur glatter Höhlenboden um diesen Brei, der bereits auskühlte. „Das kann nicht dein Ernst sein", sagte sie und erschreckte sich selbst mit dem Klang von Besorgnis in ihrer Stimme. Schnell schaufelte sie die Substanz in die Kuhle ihrer Hand und hatte sie in wenigen Augenblicken aufgegessen.
„Hadubrand", klagte sie. „Was soll das heißen?" Wusste das Tier, wie abhängig sie von diesen Mahlzeiten war? War es dafür klug genug? Als hätte es ihre Gedanken an die Flucht gehört und wolle sie willentlich aushungern, weil sie zu gut zu Kräften gekommen war. Die Vorstellung jagte ihr einen Schauder über den Rücken.
Wieder raschelten die riesigen Glieder, und einen Moment lang hoffte sie, noch eine weitere Gabe zu erhalten. Stattdessen spürte sie die Spitze seiner feuchten Zunge auf dem Oberschenkel und zuckte zusammen, sank jedoch gleich darauf widerstandslos in die Knie.
Wenn das alles war, dachte Turid, wenn Hadubrand mir alles gegeben hat und seine Vorräte erschöpft sind, dann habe ich ein gewaltiges Problem.
Mit der linken Hand raffte sie den Stoff ihres Oberkleides zusammen, sodass ihr Bauch frei lag – tat sie dies nicht selbst, versuchte Hadubrand es mit seinen groben Bewegungen, auch das hatte sie in den vielen Malen dieser Prozedur gelernt. Sie war keine Neuigkeit mehr für sie, Angst hatte sie keine. Nur das ungute Gefühl, durch das Stillhalten unter diesen scharfen Zähnen gegen den Instinkt zu arbeiten, ließ sich nicht abstellen.
Sie würde Beowulf bitten müssen, ihr zu helfen, wenn er sich wieder blicken ließ. Ihre Laune sank und wurde düster. War er ihr gut gesinnt, würde er holzige Käfer oder eine andere Widerwärtigkeit auftreiben, war er ihr schlecht gesinnt, würde er sie für Selbiges betteln lassen.
Ungewöhnlich lange drückte Hadubrand auf ihrem Bauch herum. Dieses Mal erwiderte Turid seine Berührungen nicht, dazu war ihr die Lust vergangen.
„Es reicht", sagte sie. „Genug."
In einem langen und schmerzhaften Pfad leckte ihr Hadubrand mit der Zunge über die Körpermitte, vom Bauchnabel bis unter dem Stoff zum Hals. Turid keuchte und unterdrückte den Drang, die Hände schützend auf die brennenden Rippen zu legen.
„Was soll das?"
Das Biest ignorierte sie und setzte schon an zur nächsten, schwungvollen Bewegung. „Schluss!", rief sie. Aber da raspelten die unzähligen feinen Stacheln der Zunge ihr schon ein zweites Mal die Haut auf.
Turid regte sich und biss die Zähne zusammen, robbte sogar ein Stück von ihm weg, dann landete eine Pfote auf ihren Beinen und hielt sie fest.
Eine dritte Misshandlung. Hadubrand brachte immer mehr Fläche seiner Zunge in Kontakt mit ihrer Haut, schürfte erneut ihren Rumpf entlang, bis ihr der Duft von Blut in die Nase stieg.
„Es reicht!", fauchte sie. Sie glaubte, er würde jeden Augenblick von ihr ablassen, so wie er es immer getan hatte – es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Hadubrand es mit seinen Kräften zu weit trieb. Als sie allerdings, die Hände gegen einen harten Widerstand gestemmt, den Gedanken an sich heranließ, was sein könnte, wenn nicht, kam die Panik.
Ihre Atmung ging schneller und sie begann, sich ruckartig zu winden, das Herz heftig in einer in Flammen stehenden Brust klopfend, die Hadubrand weiterhin erbarmungslos bearbeitete. Ohne recht zu wissen, was sie tat, schlug sie zu, trommelte mit den Fäusten gegen alles, was sie erwischte, aber ihn kümmerte es nicht. Auch die Fingernägel krallte sie in das weiche Fleisch der Zunge, aber das Organ entglitt ihrem Griff mühelos und ließ nur tausend kleine Nadelstiche auf ihren Handflächen zurück.
Turid trat mit dem gesunden Bein, trat ins Leere – und dann war der Druck auf ihrem Körper fort.
Fassungslos über die plötzliche Freiheit krabbelte sie davon, zunächst auf Knien, dann humpelnd, zum erstbesten Ort, der ihr in den Sinn kam. Der Zufall wollte, dass es der See war, und trotz des eiskalten Wassers ließ sie sich hineinrauschen, in aller Hoffnung, dass Hadubrand ihr nicht folgen würde. Immer weiter platschte sie durch das flache Wasser davon, und erst nach vielen atemlosen Momenten wagte sie es, innezuhalten und sich umzudrehen.
Die Luft strömte ihr wie ein Gewitter in die Lungenflügel, und trotzdem schien sie wie ein stilles Spielzeug inmitten einer Glaskugel zu sitzen, so tonlos war die Schwärze über dem See. Nur am anderen Ende der Höhle, dort, wo sie Hadubrand zurückgelassen hatte, hörte sie einen Hauch von fließendem Atmen, ja fühlte regelrecht die Steifheit von zum Zerreißen gespannter Muskeln. Sie hätte es auch so gewusst, aber sein Herzschlag verriet ihn: Drum drumm drum drumm... derselbe Herzschlag, der so mächtig und beruhigend schlug, dass man die Zeit danach richten konnte, glich jetzt einem wilden Trommelspiel. Wäre Hadubrand ein Straßenköter gewesen, sein Rückenfell wäre ihm zu Berge gestanden, die Ohren hervorgestellt, Schwanz und Pfote steil erhoben.
Etwas hatte ihn erregt.
Turid, am ganzen Körper taub und das kalte Höhlenwasser für niemanden sichtbar blutrot färbend, fing an zu zittern. Ihre Panik von eben, die Flucht in den See, das war mit einem Mal völlig aus ihren Gedanken gefegt. Jetzt war nicht mehr wichtig, was Hadubrands Überfall zu bedeuten hatte, nicht mehr von Belang, was hätte passieren können und was nicht.
Nein, jetzt hatte sie wahre Angst, Angst vor dem, was Hadubrand in seiner Verbissenheit zu unterbrechen vermocht hatte – seine Turid hatte er nun völlig vergessen. Irgendetwas hatte sich verändert, und das Tier hörte es, schlug Alarm wie ein Wachhund, und sie selbst war nur ein Mensch, wusste nicht, was vor sich ging und was in aller Welt solch ein Ungeheuer beunruhigen konnte. Die Vorstellung nahm keine Form für sie an, die Möglichkeit, dass es etwas geben konnte, wovor selbst der König der Unterwelt sich fürchten musste.
Langsam bewegte sie sich rückwärts, bis zum Hals im eiskalten Wasser, den Blick starr in die Finsternis gerichtet. Allein ihr Gehör konnten ihr jetzt noch helfen, die Welt der Geräusche war ihr größter Schatz.
Und so erreichte es auch sie, aber nicht über die Ohren, nicht sofort.
Es war ein Rumoren, eine Vibration, so schwach, dass sie sie zuerst in den Zehen spüren konnte und erst, als es schon ein kräftiges Rumpeln war, als Ton deutlich aus der Luft vernahm. Es schien von unten aus dem Boden zu kommen, und dann aus dem Wasser, dann aus der Dunkelheit um sie herum. Mit hilflos aufgerissenen Augen schwebte sie, einen langsamen Bogen vollführend, im Wasser weiterhin rückwärts wie eine Fee.
Hadubrands Art veränderte sich, er war nicht mehr steif und wachsam, sondern lockerte seine Bewegungen, bis sie elegant und geschmeidig wurden. Es schien ihr, als vernehme sie jedes Detail seines Wesens mit perfekter Präzision, als sei ihr Gehör scharf wie das einer Fledermaus – sie hörte ihn von rauem Stein auf glatten treten und wusste, dass er den Graben verlassen hatte und zum hinteren Teil der Höhle schlich, wo es zur Wandspalte ging. Immer wieder blieb er stehen und lauschte, bewegte sich dann weiter.
Er verließ die Höhle.
Mitten in ihrem Rückzug hielt Turid inne, hielt mit bebendem Brustkorb die Luft an. Sie war fassungslos über diese schnelle, wirre Kette von Ereignissen, konnte sich keinen Reim darauf bilden, warum sich das Tier nun davonschlich.
Es war die Distanz, die Hadubrand zurückgelegt hatte, die ihr schließlich Klarheit schenkte, die zwei Geräuschquellen voneinander für sie trennte.
Die Vibration stammte vom Schlund.
Turids Augen wurden groß.
Ein abgehacktes, schweres Poltern. Der gesamte Berg, nein, das gewaltige Gebirge, das diese Höhlengänge wie Adern durchzogen, hätte knurren mögen, aber es war nur... es war nur ein Stein, ein großer Felsen, der dort am Ende der Finsternis bewegt wurde. Sein Echo war es, das wie eine Flutwelle das ganze Labyrinth erschütterte und sie in diesen Trug einhüllte.
Das Beben des Richterfelsens.
Er wurde beiseitegeschoben.
Es würde eine Hinrichtung geben.
Diese Erkenntnis glich einem Knacksen in ihrem Kopf, als hätte sie soeben ein dünnes Stöckchen zerbrochen. Die wahrhaftige Welt von oben existierte noch wie eh und je.
Ein Mensch würde diesen Tunnel hinuntergestoßen werden.
Es würde... Licht geben.
Und damit war alles andere vergessen.
Die Tatsache, dass das Schwarz in wenigen Momenten kein Schwarz mehr sein würde, dass das Licht die Finsternis aufschneiden wollte, brachte sie um den Verstand. Als gleißendes Messer würde es hässliche Wunden in diese Schwärze reißen und die Höhle fürchterlich verstümmeln durch ihr Hell. Ja, und auch Turid selbst. War sie nicht längst ein Teil der Finsternis?
Sie würde erblinden. Ein feuriges Weiß sehen, einen roten Schimmer vielleicht, und dann wäre es zu Ende mit diesen Augen. Das konnte sie ihr nicht antun, konnten sie ihr nicht wenigstens etwas Zeit lassen, damit sie sich an das Licht gewöhnen konnte? War dies alles, was die Menschen von oben ihr noch bieten konnten, wollten sie ihr noch über die Verbannung in die Unterwelt hinaus Qualen bereiten?
Sie schalt sich selbst. Irrsinn. Dort oben wurde nur ein Stein beiseite gewuchtet. Nichts anderes als ein Deckel über einem Loch, der geöffnet wurde – gerade so weit, dass ein Mann hindurchpasste.
Hölzerne Gerüste und theatralisch aufgebotene Entscheidungen, ein rasender Pöbel, das war eine einmalige Sache, selbst wenn Weyrich der Eroberer noch immer dort oben wüten sollte. Eine Darbietung wie die ihre war wundervoll unmittelbar nach der Einnahme der Stadt, nach einem gewonnenen Krieg. Nicht ein Jahr danach, mitten im Winter - denn den Schlund ließ man nicht länger geöffnet als nötig. Der Mann würde schnell kommen und schnell fallen. Auf, hinunter, zu.
Der richtige Augenblick war schnell erkannt, Turids Gehör, Gespür und die Intuition arbeiteten fehlerlos wie eine hölzerne Maschine. Als der Felsen über dem fernen Schlund gerade einen winzigen Spalt zur Oberwelt freigab und der Luftzug in der Höhle sich um eine feinste Prise verwandelte, drückte sie die Handballen fest auf die Augen und tauchte unter in die schwarzen Tiefen des Sees.
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