Kapitel 16. Heimat

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Erst als der Winter da war, die Tage und Nächte in ihrem unergründlichen, lichtlosen Wechsel kälter und kälter wurden und Turid stets mit laufender Nase und zitternden Händen erwachte, wurde die Höhle endlich zu ihrer Heimat. Fast ein Jahr hatte es also gedauert, stellte sie fest, ein Jahr der Finsternis. Im Schlaf sah sie zwar noch immer – nach ihrem Bad im Höhlensee kehrte der Traum des spiegelglatten Meeres zurück und zeigte sich fortan regelmäßig – doch ihre Augen waren nun schon so lange nutzlos, dass sie fürchtete, nie wieder sehen zu können. Ob sich die Linsen trübten, die Nerven erstarben und die Augäpfel eintrockneten wie Rosinen, wenn man so lange in der Dunkelheit blieb? Turid konnte es nicht sagen, doch wenn sie Albträume hatte, dann passierten all diese grauenhaften Dinge. Weinen konnte sie allerdings noch, das hatte sie schmerzlich feststellen müssen.

Es war an einem der Tage passiert, als Hadubrand ihr erneut zu Essen brachte. Er tat es oft; für gewöhnlich breiige Massen, mal mehr, mal weniger flüssig, aber nie wieder so fest wie der Brocken Fleisch bei der zweiten Fütterung. Ja, Fütterung. So nannte sie es.

Später gestand sie ein, dass es ihre eigene Schuld gewesen sei. Als Hadubrand nämlich wieder gewürgt hatte – ein schrecklich dumpfes Umg, von dem man sicherlich auch Albträume bekommen konnte – spürte sie mit einem Male eine Gliedmaße in der Dunkelheit, warm, pulsierend und in Reichweite. Ohne zu zögern, packte sie zu. Ehe sie sich über die flaumigen Haare in ihrer Hand und die weiche Haut darunter wundern konnte, ertönte ein ohrenbetäubendes Fauchen und Hadubrand entriss ihr, was auch immer sie gefunden hatte. Dabei beließ er es jedoch nicht: Plötzlich war die Luft erfüllt von einem Stechen, einem ätzenden Gas, ein solches Feuer in ihren Augen entfachend, dass sie sich mit einem Aufschrei an die Lider fuhr und die nächsten Stunden am Ufer des kühlen Wassers verbringen musste.

Danach dauerte es lange, bis Hadubrand sie wieder aufsuchte. Ohne Beowulf, der wieder rohen Fisch und sogar einige Käfer für sie auftrieb, wäre sie verhungert.

Dieser Vorfall allerdings lag lange zurück und seitdem war nichts dergleichen passiert. Sie berührte das Ungeheuer wieder, aber immer nur, wenn es sie inspizierte und seine Zunge über ihren Körper gleiten ließ. Das passierte oft, beinahe jedes Mal, wenn Hadubrand kam. Sie gewöhnte sich daran. Dann tastete Hadubrand an Turid herum, meistens in der Bauchgegend und über den Rippen, manchmal an den Oberschenkeln, und Turid tastete zurück. Strich über glatte, geschwungene Strukturen, pelzige Streifen und ledrige Hautflächen. Sie lernte viel bei diesem Ritual – und nichts zugleich. Sie wusste, dass Hadubrand zumindest zwei Vorderpfoten hatte, gewaltig, aber samtig, wie die eines Bären. Auch die stoische Erscheinung seiner Kraft und sein Brummen erinnerte sie an dieses Tier. Seine Schritte und die schwungvolle Eleganz mancher Bewegungen hatten wiederum etwas Katzenartiges.

Das war allerdings auch alles, was sich mit einem Säuger in Verbindung bringen ließ.

Nun, die ledrige Haut und manche Fortsätze hatten durchaus etwas mit einer Fledermaus gemein. Vielmehr allerdings schien dies das Vermächtnis eines Salamanders oder einer Schlange, vielleicht sogar einer dickblättrigen Pflanze zu sein. Und die glatten Stellen, so wie der erhitzte Fortsatz, an dem sie sich viele Male wärmte, ließen Hadubrand wie ein gewaltiges Insekt wirken. Womöglich eine Spinne, wenn sie an die vielen Stacheln dachte.

Mit Beowulf ließ sich nicht darüber sprechen, mit welchem Geschöpf sie hier die Ehre hatten. Ein einziges Mal, an einem guten Tag, hatte er gespöttelt, dass Hadubrand Lamellen wie ein Pilz habe. Danach wurde er aber wieder ernst und still. Für gewöhnlich antwortete er ihr nicht, wann immer sie sich nach dem Tier erkundigte.

„Erzähl mir von Adalger", bat sie. „Von deiner Vergangenheit." Sie unterhielten sich viel in dieser Zeit, da Turid wusste, dass er häufiger als angenommen in einer dunklen Ecke der Höhle verweilte und sie beobachtete. Immer, wenn sie die Stille nicht mehr ertrug, fragte sie ihn.

„Ein andermal."

„Siehst du denn nicht, dass ich mich zu Tode langweile?"

„Spiel auf deiner Flöte", schlug er vor.

Turid schnalzte abfällig mit der Zunge und kuschelte sich tiefer in ihre Decke. Seit einigen Wochen roch die Wolle ranzig, aber das ertrug sie. „Wenn das Nichtstun mich nicht umbringt, dann die Kälte", meinte sie. „Wie kalt soll es hier drin denn noch werden?"

„Noch etwas kälter", sagte er.

„Und der See? Er ist kaum mehr als eine Pfütze. Er wird zufrieren."

„Nein", widersprach Beowulf, „die Höhle hält die Temperatur im Gleichgewicht. Im Sommer ist es kühl, aber im Winter wärmer als draußen."

Bilder zogen vorüber, von Hirschen mit Schnee auf ihren prächtigen Geweihen und schnaubende Pferde in einer weißen Winterlandschaft. Turid liebte die kalte Jahreszeit, sie war zauberhaft in ihren ruhigsten Tagen und aufregend in den stürmischsten Nächten. Wenn sie als Kinder mit halb erfrorenen Zehen – trotz der zähen Lederstiefel – nach dem Spiel nach drinnen geholt worden waren, wartete bereits dampfende Suppe und warmes Feuer auf sie und ihre Brüder. Es war die Zeit gewesen, sich mit geröteten Wangen von den alten Frauen schaurige Werwolfgeschichten erzählen zu lassen.

Das Volk hasste den Winter. Fernab seiner rauschenden Feste hatte ihr Vater selten Erbarmen mit dem Pöbel gehabt. Und Turid vermisste sie alle.

„Wie ist das Leben im Winterland", fragte sie, „wenn es niemals Sommer wird?"

„Knochenhart", sagte Beowulf. „endlose Wochen lang liegt nur Schnee, der immer tiefer und fester wird und alles unter sich begräbt, und wenn du denkst, dass er sich lockert und dahinschmilzt, schneit es wieder und ist wie eh und je. Aber dass es keinen Sommer gibt, stimmt nicht. Er ist nur sehr, sehr kurz. Und wunderschön."

„Jeder findet den Sommer schön."

Er lachte leise. „Hier im Bergland, im Süden, ist der Sommer nur ein Scherz. Er dauert ewig und es regnet viel. Bei uns damals... da war es anders. Das war ein Sommer."

„Ein richtiger Sommer ist für mich brütende Hitze und kühler Wein zu später Abendstunde", sagte sie.

„Ein richtiger Sommer hat keinen Abend. Es gibt überhaupt keine Nacht."

Turid machte große Augen. „Was erzählst du mir da?"

„Es wird einfach nicht dunkel", sagte Beowulf. „Nur einige wenige Tage lang. Zu dieser Zeit wird gefeiert und getrunken, weil niemand schlafen kann. Und die Menschen sind fürchterlich beschäftigt... sie säen und ernten in einem fort, denn nur in dieser Spanne kann Leben gedeihen. Eine Handvoll Wochen vielleicht dauert die Nacht nicht mehr als eine Stunde. Dann wird das Korn in die Speicher geschafft, Vieh geschlachtet, Holz gehackt und so viel Fisch eingesalzen, dass man für ein volles Netz tagelang rudern muss. Und kurz darauf kommt wieder der Winter." Die Erinnerungen schienen ihn nachdenklich zu stimmen, denn er verstummte.

Turid indessen war hellhörig geworden. „Rudern?", sagte sie. „Du kommst vom Meer?"

„Nein", meinte er. „In meiner eigenen Heimat durchziehen tausende Seen die Nadelwälder wie gewaltige Regentropfen. Aber mein Volk lebt auch am Meer. Nur ich bin selten dort gewesen."

„Ich nie", murmelte sie. „Aber ich träume davon."

Solche Momente, in denen Beowulf ihr großmütig vom Norden erzählte, waren selten, und Turid genoss sie umso mehr. Sie hörte von der wilden Brandung im herbstlichen Sturm, von Wolfshetzen und Fuchsjagden, von großen grauen Huftieren mit silbernen Hörnern und der endlosen Weite der Tannenwälder. Er erklärte ihr, mit welchen Pferden man Holzhacken gehen konnte und mit welchen nicht – man brauchte stämmige Kaltblüter, Hengste am besten, sonst bekam man die Baumstämme nicht von der Stelle – und berichtete ihr vom beißenden Qualm riesiger Räucherkammern. Er entsetzte sie mit der Aussage, dass es im Winter, so wie es im Sommer manchmal nicht Nacht wurde, Tage gebe, an denen die Sonne nicht aufging und die Menschen im Dunkeln lebten. Am liebsten aber hatte sie es, wenn es ums Essen ging: Wenn er sie in die Welt der Bilder führte, in der Bauernfrauen in schwarzen Kesseln über dem Feuer Saubohnen ausschoteten, wie die in der Frühlingsströmung gefangenen Fische beim Braten goldgelb wurden oder wie herrlich bitteres Roggenbrot mit Butter schmeckte.

Turid bedauerte ihn. All das, er hatte es aufgegeben, für eine Reise in den Süden, die so schrecklich geendet hatte. Sie wollte ihn so gerne fragen, warum er nie aus der Finsternis zu fliehen ersucht hatte, aber sie wagte es nicht.

Auch an ihrem eigenen Leben ließ sie ihn teilhaben. Besonders viel allerdings konnte sie ihm nicht berichten – sie war jung und außerdem eine Frau, sie hatte kindische Entdeckungsreisen und das Treiben auf dem heimischen Markt erlebt und sonst kaum etwas.

„Es ist mir ohnehin lieber, deinen Geschichten zuzuhören", sagte sie einmal. Zu ihrer Überraschung aber wurde er daraufhin regelrecht ungehalten. Es war wohl einer seiner schlechten Tage.

„Ich unterhalte dich", brummte er, „und auch ich will unterhalten werden."

„Aber wenn ich doch nichts mehr weiß", sagte sie.

„Dann spiel", sagte er.

Sie seufzte. Einen Narren hatte Beowulf an dieser Flöte gefressen. Sie zog sogar ernsthaft in Betracht, seiner Anweisung Folge zu leisten, denn es wäre nicht das erste Mal gewesen – regelmäßig übte sie Lieder, und ihm schien es zu gefallen.

Dann fielen ihr aber die Nächte in ihrem Burgzimmer ein, wenn sie und ihre Geschwister mit großen Augen um das Kaminfeuer versammelt waren.

„Ich könnte dir ein Märchen erzählen. Ist das recht?", fragte sie spitz. Jedoch traute sie ihren Ohren kaum, als er nicht wusste, wovon sie sprach.

„Schabernack", erklärte sie mit verdrehten Augen, „erfundener Unsinn." Sie kannte hunderte Märchen, die meisten hätte sie im Schlaf aufsagen können.

„Das Prinzip einer Sage ist mir bekannt. Aber es ist die Überlieferung einer göttlichen Wahrheit, wie Himmel, Erde und das Leben entstanden sind. Nichts für Kinder", meinte Beowulf.

„Kein Mann bei vollem Verstand lässt sich eine Mär erzählen. Ich glaube, da haben wir einen grundlegenden Unterschied zwischen unseren Welten gefunden."

„Es liegt weitaus mehr zwischen uns beiden", sagte er trocken.

Turid tat, als hätte sie nichts gehört. „Du verstehst nicht", sagte sie, „meistens geht es um harmlose Weisheiten mit einem drohenden kleinen Finger. Reime, Witze, sprechende Tiere und so weiter. Hadubrand wäre ein tolles Fabelwesen, wenn er nicht so fürchterlich wäre."

„Du meinst Drachen? Riesen?"

„Ja!", rief sie, „und Helden, die sie besiegen. Für die Prinzessin im Turm oder einen funkelnden Schatz."

Beowulf wurde still und Turid konnte ihn beinahe grübeln hören. Eine Weile hüllte sich die Finsternis in Stille, doch Turid wartete geduldig, geleitet von dem starken Gefühl, ihm jetzt Zeit geben zu müssen. „Was wir nicht alles für diesen mythischen Reichtum getan haben", sagte er schließlich zögerlich. „Und wie viele wir waren. Alles nur wegen einer Legende von Mund zu Mund."

„Ist das der Grund, warum du in den Süden kamst?" Turid hatte ins Blaue hineingeraten, nur geleitet von einer schwachen, doch logischen Ahnung, und das Glück war ihr so zugeneigt, dass sie einen beachtlichen Treffer landete.

„Turid", sagte er warnend.

„Nur dieses eine Mal", bat sie, „diese Frage kannst du mir beantworten."

Er brummte ungehalten. „Es gebe Gold im Herzen der Reina, sagten sie, und sie kamen in Strömen. Nicht nur aus dem Norden, aus allen Himmelsrichtungen, wenngleich sie sich schnell in alle Winde verstreuten oder in andere Geschichten verwickelt wurden, so wie ich." Er seufzte, als hätten diese wenigen Sätze ihn große Überwindung gekostet.

„Siehst du", sagte Turid, „das hat doch nicht wehgetan." Sie rutschte an der Wand hinunter und machte es sich noch gemütlicher, bis sie mit dem Kopf auf dem Boden lag, wo sie die Kälte des Felsens selbst durch ihre dichten Haare noch spüren konnte. „Aber was du da erzählst, das kenne ich auch. Es ist eben doch ein Märchen, wenn auch ein älteres, zu lang und zu schwer für die Kinder."

Im nächsten Moment zuckte sie zusammen, denn sie spürte seinen geballten Ärger in der Luft, als sei sie plötzlich eingefroren. „Wir sind keinen Kindergeschichten gefolgt, Turid", knurrte er. „Maße dir nicht an, über Dinge zu richten, von denen du nichts weißt."

Ich bin nicht anmaßend, mein Lieber", sagte sie. Das spöttische Kosewort fühlte sich gut an auf ihrer Zunge und sie war stolz, dass sie es zu verwenden gewagt hatte. „Vielleicht seid ihr ja wirklich blind einem Irrglauben hinterhergelaufen. Wie wäre es, wenn du mir einfach zuhörst, um es herauszufinden? Bei der Musik klappt es doch auch."

Sie hörte, wie er sich aufrappelte, aber sie überging es. „Die Sage beginnt mit einer Frau", sagte sie laut, „ein höfisches Weib, und sie träumt von einem Falken –"

„Schluss damit", unterbrach er sie. „Behalte deine Albernheiten für dich."

Mit bebenden Händen stützte Turid sich am kalten Höhlenboden ab, um sich vorzubeugen und ihn direkt durch die Schwärze hindurch anzustarren. „Wirst du jetzt gehen?", fragte sie, „so, wie du es immer tust? Und Hadubrand wird an deine Stelle treten, ja?"

„Du solltest dich freuen. Immerhin scheint es dir zu gefallen, was er dir bringt."

„Nicht jeder kann von Luft und Dunkelheit leben", fuhr sie ihn an. „Es wohnen tatsächlich Menschen in dieser Höhle, die essen müssen. Einer zumindest." Sie hasste es, wie er auf sie herabsah und noch mehr war es ihr zuwider, dass es nur eine solche Nichtigkeit benötigte, dass er die Beherrschung verlor. Was hätte es ihn schon gekostet, sie die Geschichte erzählen zu lassen? Er wollte doch unterhalten werden.

Beowulf wandte sich ohne Antwort ab, seine Schritte entfernten sich.

„Warum könnt ihr nicht beide hier sein?", fragte sie, weil sie wusste, dass er derlei Fragen nicht ausstehen konnte.

Er strafte sie mit Schweigen.

„Ich sage dir", rief sie, „Hadubrands Gesellschaft ist mir tausendmal lieber, dass du das weißt!"

„Du weißt nicht, was er tut", sagte er ruhig, „wenn du nur wüsstest."

„Warum klärst du mich nicht auf?"

Aber er sagte nichts, wieder nur Stille, entzog sich ihr, weil er es konnte. Das Blut schoss ihr heiß in die Ohren. „Zumindest verletzt er mich nicht. Nicht absichtlich. Er hat mich weder an einen Ring gefesselt noch beinahe nackt hier herumlaufen lassen, mich nicht angeschrien, mich nicht hungern und dursten lassen, mich nicht mit diesen furchtbar kalten Worten und den ständigen Launen abgewiesen und mir auch kein Messer in die Haut geritzt, um mich zu betäuben", keifte sie. Nein, das hatte sie ganz sicher nicht vergessen, auch wenn es lange her war. Zu tief war er damit in ihr Selbst gedrungen, hatte die Grenzen ihres Körpers überschritten. „Ein paar Wochen voller Geschichten aus dem Norden machen das nicht ungeschehen. Es waren nur Worte, die du mir gegeben hast! Aber er – " sie zeigte mit dem Finger in die Finsternis, irgendwo in die Tiefen des Labyrinths, „er kam und hat aus diesem Loch ein Zuhause gemacht."

„Auch Hadubrand hält dich gefällig", sagte Beowulf. Es war keine Regung in seiner Stimme, keinen Hinweis gab es, dass er amüsiert oder wütend oder traurig war. „Von seinem Körper in seine Zunge in seinen Speichel... direkt in deine Haut."

Das hatte sie nicht gewusst. Aber ihr Groll ging keinesfalls gegen Hadubrand nach dieser Offenbarung, nein, er wuchs nur gegen Beowulf. Wieder seine Masche, ihr nichts zu sagen, sie dumm zu halten, und dann – wenn es zum Streit kam, dann packte er die Informationen aus und sie hatte keine Chance gegen ihn.

„Verschwinde." Turid machte eine harsche Handbewegung, als verscheuche sie ein Insekt. „Auf dass dies das letzte Wort sei, dass ich mit dir gewechselt habe, Beowulf."

„Wie traurig!", rief er und lachte. 

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