Kapitel 13. Vier Bündel
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Als Beowulf nach seiner Flucht in die schwarzen Tiefen des Höhlenlabyrinths zum Schlund zurückkehrte und die Dunkelheit vor Leere strotzte, keine Felsformation und kein Steinhaufen Turid war und er sie auch nicht leise atmen hörte, wie er es immer getan hatte, sank er an Ort und Stelle auf die Knie. Dort, die Hände auf den Boden gestützt und in die Finsternis starrend, verweilte er, die Gedanken blank und doch fassungslos, gläsern und verwirrt zugleich, wie wenig er diese Geschichte verstand und wie schnell die Wahrheit ihn eingeholt hatte.
Als Turid sich im Schlaf in ihrer Nische regte, rappelte er sich augenblicklich auf, streifte sich mit leisen, hastigen Bewegungen den Staub von den Hosen und überquerte wortlos die Brücke zum Schlund.
„So satt bin ich zuletzt bei meinem Geburtstagsfest gewesen", erzählte Turid. „Da gab es reihenweise Bankette für Gäste aus den entferntesten Ecken von Gremholdshand, Berater und Schatzmeister und natürlich alle Verwandte, die zugegen waren... wie viele Schweine geschlachtet wurden!", erinnerte sie sich. „Und Gänse. Die Federn wirbelte es beim Rupfen bis zu den hinteren Saalfenstern hinauf, man hätte meinen können, es schneit. Weißt du, der Übertritt vom Kind zur Frau ist ein besonderer Tag, die letzte Feier für mich vor der Hochzeit." Sie seufzte. „Seltsam. Mein Vater muss zu diesem Zeitpunkt schon geahnt haben, dass der Krieg uns den Garaus macht."
Die Soldaten ins Flachland ziehen zu lassen, weit weg von der schützenden Festung, war kein stattlicher Offensivschlag gewesen, sondern eine Verzweiflungstat. Turid hatte nie darüber nachgedacht.
„Ich kann nicht sagen, dass ich keine Angst vor ihm hätte", sagte sie und beiden war klar, dass sie von Hadubrand sprach und den Vater umgehend aus ihren Erinnerungen verdrängt hatte. „Er ist so riesig und hat so viel Kraft. Aber er weiß nicht, wie man mit zerbrechlichen Körpern umzugehen hat, das ist alles."
Beowulf sagte nichts. Turid störte das wenig. Mittlerweile wartete sie keine Antworten mehr von ihm ab – auf seine Launen Rücksicht zu nehmen, lohnte nicht. Stattdessen schlang sie sich die Arme um den Körper und rieb sich die Ellenbogen. Es war kalt in der Höhle geworden, das ließ sich nicht leugnen. Erst hatte sie geglaubt, es müsse sich um die Zugluft vom Schlund handeln und war – ohne jegliche Hilfe – in der Dunkelheit über den schmalen Grat zum Ring gerobbt, ihren vertrauten Platz. Aber auch dort fröstelte sie. Es war, als käme die Kälte von unten, vom Stein.
Auch deshalb war Bewegung zum obersten Gebot für sie geworden, nicht zu vergessen aber das Verlangen nach Wasser. Hadubrands Mahl hatte sie für einige Tage gestärkt, der Durst allerdings kam in regelmäßigen Schüben, sodass sie ihre Erkundungsgänge vorsichtig fortgesetzt und den See wiederentdeckt hatte, dem sie in ihren ersten Stunden der Finsternis schon einmal begegnet war. Wie lange das zurücklag.
„Hast du ein Zeitgefühl?", fragte sie Beowulf. Eine Wende im Gespräch half meistens, ihm ein paar Worte zu entlocken
„In Maßen", sagte er.
„Seit wann bin ich hier?"
„Glaubst du, ich habe die Tage gezählt?"
Turid schnaubte. „Zu meiner Hinrichtung blühten die ersten Winterlinge. Für mich macht es durchaus einen Unterschied, ob wir nun April oder August haben."
„April und August?", fragte er.
Das brachte Turid zum Lachen. Er kannte die Monate nicht. „Wir haben das Jahr geordnet", erklärte sie, „in zwölf Teile."
„In meiner Heimat kannten sie nur den Winter", sagte er leise, mehr zu sich selbst als für sie verständlich. Beowulf kam aus dem Norden? Sie hatte immer geglaubt, er stammte aus einer anderen Zeit ihrer eigenen Welt. Das Fürstentum im Gebirge. „Bald kommt er wieder", meinte er.
Also doch. So schleichend, wie die Kälte ihr in die Glieder kroch, hatte etwas in ihr gewusst, dass der Sommer längst vorüber war. Draußen würden sie schon Holz gehackt und Heu geerntet haben, sodass auf den kurzen Halmen der Felder morgens der Raureif glitzerte. Es waren diese Bilder in ihrem Kopf, die sie einmal mehr wünschen ließen, oben zu sein.
„Wie soll ich das überleben?", fragte sie. Es folgte eine Pause. Und sie blieb. Turid verstand nicht, warum Beowulf darauf nichts erwiderte, denn ihre Frage war weder zu aufdringlich für ihn noch verschlüsselt in irgendeiner Weise. „Wie viele... von diesen Kleidungsstücken haben wir?"
„Es waren achtundneunzig Männer", erinnerte er sie. Sie fragte sich mit einem Mal, warum er diese Seelen gezählt hatte, aber die Jahre nicht. „Der Großteil ihrer Habe ist lange verfault. Der Rest liegt dort in der Kuhle oder in der Höhlenwand."
„Eine Spalte?", wollte sie wissen.
„Sie schützt die Stoffe vor der Feuchtigkeit."
„Zeig sie mir", verlangte sie. Ohne zu zögern, erhob er sich und wartete, bis sie aus der Nische gekrabbelt war. Sie saß häufig dort; der Ort gab ihr ein Gefühl von Schutz. Kurz darauf stand sie aufrecht neben ihm, wie immer gestützt auf das linke Bein und das rechte in Schonhaltung.
So deutlich zwischen ihnen, als sei sie mit Tinte in die Luft geschrieben, stand die Frage, ob er sie anfassen sollte. Er machte dazu keine Anstalten, lief aber auch nicht los, als wartete er auf ihre Entscheidung. Turid räusperte sich. „Den Teil der Höhle kenne ich nicht."
Beowulf umfasste wortlos ihr Handgelenk. Es war das rechte, damit sie die gesunde Hand frei hatte. Acht auf sie, so wie das letzte Mal, als er sie behutsam zum vermeintlichen Abgrund geführt hatte, gab er allerdings nicht: Voller Ungeduld zog er sie hinter sich her, die Schritte ein rhythmischer Hall in der Dunkelheit. Ohne Pause ging es an der Brücke vorbei einen Hang hinab, von dem sie nicht gewusst hatte, dass es ihn gab und Turid war schnell klar, dass sie einen längeren Marsch vor sich hatten.
Eigentlich war der Teil dieser Höhle auch nur ein endloser Gang neben anderen. Doch flatterte ihr Herz vor Aufregung. Nein, es gab nichts zu sehen – sowohl im übertragenen als auch im buchstäblichen Sinne – für Turid allerdings war der neue Weg ein fremdes Land, das man erkunden wollte. Unwillkürlich nahm sie den feinen Temperatursturz wahr, und das heftig, als sei sie in kaltes Wasser getreten. Die Luft roch und schmeckte eine Winzigkeit kalkiger, jedoch trockener, ihr Zug änderte sich und am Schall der eigenen Schritte konnte sie erkennen, dass sich die Decke schwungvoll weitete.
Als Beowulf schließlich stehen blieb und ihre Hand an den rauen Felsen presste, keuchte sie leicht und ihr Bein schmerzte. Halb abstützend, halb tastend wanderten ihre Finger an der Wand entlang, bis die Oberfläche einen Knick nach innen vollführte und einen schmalen Raum freigab, in den sie ihren Arm gänzlich hineinführen konnte. Gerade wollte sie fragen, wo nun der Schatz versteckt sei, als sie mit den äußersten Rändern ihrer Fingerspitzen etwas Weiches berührte. Turid streckte sich und zog.
Es war ein Bündel, lose zusammengebunden in einer Art Netz aus langen Streifen und Seilen aller Art. Die Stoffe lagen so verdichtet, dass sie unter ihrem Gewicht taumelte, bis Beowulf ihr die Last abnahm. Sie hörte, wie er sich in die Spalte beugte und raschelte und dann mit einem Ruck weitere Bündel hervorzog. „Setz dich", lud er sie ein. Turid ließ sich das nicht zweimal sagen und sank gegen die Wand. Das steife Bein hatte sie ausgestreckt.
„Du kannst sie tasten", meinte er. Sie erinnerte sich daran, wie er sich bei ihrem letzten Streit verplappert hatte. Wie viel er von ihnen wohl sah? Ohne Zweifel konnte er sich mühelos in der Höhle orientieren. Andererseits kannte auch Turid von ihrem Eck mit dem Ring blind jede Einzelheit. Wenn man lange genug hier gefangen war, Jahrzehnte vielleicht, dann bekam man womöglich eine andere Auffassung des Sehens, ganz ähnlich der Karte, die mit jedem Tag weiter in ihrem Kopf gedieh. Ob er wohl ein junger Mann gewesen war, als er die Oberwelt verließ?
Während sie die Hände über das Bündel gleiten ließ und langsam die Schnüre aufknöpfte – ihre fünf Finger und der rechte Daumen waren dafür gerade gut genug – grübelte sie darüber, wie sich Beowulfs Geschichten wohl mit der Wirklichkeit vereinbaren ließen. Seiner Stimme nach zu urteilen lagen die Jahre der Jugend bereits hinter ihm. Bisher war es ihr einleuchtend vorgekommen, ihn ihm eine Art fantastisches Relikt zu sehen, aus einer dunklen Zeit, in der es Gremholdshand noch nicht gegeben hatte und Wesen aus Schauergeschichten über die Berge gewandelt waren. Es passte nur zu gut zu ihrem Bild von einer unsterblichen Kreatur, die hier mit einem Monster in der Finsternis hauste und sich vom Fleisch der Gerichteten ernährte.
Mittlerweile aber glaubte sie, dass Beowulf menschenähnlicher war, als sie befürchtet hatte. Wie sonst hätte er oben bei seinem mysteriösen König leben können, sprechen und von der Gesellschaft lernen können, warum sonst trug er selbst hier unten Stiefel und Kleidung und verhielt sich auch so? Vielleicht ist er es heute noch, dachte sie, ein Mensch. Sie glaubte, wenn sie es jemals schaffen sollte, ihn zu berühren, dann würde er ein Gesicht haben wie jeder andere auch. Was, wenn die Höhle gigantisch war und Beowulf vor nicht allzu langer Zeit von einem Eingang im Norden gekommen war, aus einem fernen Land, aus Adalgers Reich?
Turid schluckte. Die Monate waren bereits für sie eine Ewigkeit gewesen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mensch zwanzig Jahre oder mehr in dieser Kälte und Finsternis aushalten konnte, ohne den Verstand zu verlieren. Wobei... wie sicher konnte sie sein, dass Beowulf ihn noch besaß?
Der letzte Knoten fiel. Mit zitternden Fingern breitete sie die Stücke auf den Leinen aus, die sie zusammengehalten hatten, um sie vor dem Schmutz des Höhlenbodens zu schützen. Vorsichtig, fast liebevoll, als streichelte sie ein lebendiges Tier und keine kalten, modernden Stoffe, berührte sie die Hinterlassenschaft der Verstorbenen.
Sie dachte an die Zahl, die Beowulf ihr genannt hatte, beinah hundert Hinrichtungen, die er von unten erlebt hatte. Nur hatte Turid, stimmten ihre Theorien, selbst einen guten Teil dieser Zeit oben gelebt und sie wusste nur von einem einzigen Mann. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als ein Bild ihr inneres Auge erleuchtete, so plötzlich und klar, als hätte man eine Kerze entzündet. Eine stille Prozession im Mondschein, Gestalten in langen Mänteln mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen, am Kopf der grotesken Kette ein schwaches Licht. Die Rotunde im Berg war ein Ort der Geheimnisse. Nichts hätte den Fürsten von der Gremholdshand daran gehindert, über die Jahre dutzende Körper für immer verschwinden zu lassen.
Die Szene entzerrte sich wie eine Wolke im Wind und verschwand. Turid wollte sie vergessen, wollte nicht wissen, was es für sie und das Bild bedeutete, das sie von ihrem Vater gehabt hatte.
Ihre Finger krallten sich unmerklich fester in den Stoff. Sie konzentrierte sich zurück auf ihre Aufgabe.
Fast alle Teile waren Bauernkleidung. Kittel, Mäntel, Lappen und Leibröcke, ausgetragen und mit Löchern versehen, hier und da zerrissen oder steif von längst getrocknetem Blut. Sie fühlte harten Filz und dünne Leinen, aber auch zerfallene Lederreste und Flachs. Eine kratzige Wolldecke zog sie sofort beiseite und warf Beowulf, den sie neben sich atmen hörte, einen bösen Blick zu. Diese Decke hätte sie längst gebrauchen können.
Auch das nächste Bündel, das er ihr zur Untersuchung hinwarf, war ein Zeugnis der einfachen Leute. Mit Freuden nahm sie mehrere Paar Bündelschuhe zur Kenntnis, alle zu groß für sie, aber zu diesem Zweck konnte man sie ja zusammenschnüren. Sie fand überdies sowohl knie- als auch knöchellange Hosen und sogar eine einfache Kappe, von der aber ein großes Stück fehlte. Als hätte jemand diesen Teil herausgebissen. Schnell ließ Turid sie fallen.
Im dritten Kleiderknäul lagen Lederriemen kreuz und quer verstreut, hier und da auch ein paar kurze Stricke und Seile, das meiste aber schlaff und faulig. Einige weichere Stoffe erregten ihre Aufmerksamkeit. Ober- und Unterkleider, Tuniken aus samtenem Stoff, Brokatröcke, ein festes Wams und zwei Gürtel. Ein kleiner Haufen, aber einige Stücke so frisch, dass man sie oben hätte tragen können. Die Kleidung adeliger Männer. Wie sehr es in ihr brannte, die Geschichte dieser Menschen zu hören, wie sie aus der Unantastbarkeit ihres hohen Standes hierhergekommen waren – gottlose Verbrechen waren eine Sache für die Armen, Verzweifelten, Verrückten.
„Das ist das Letzte", sagte Beowulf und reichte ihr einen leichten Sack, in dem es klapperte. „Meistens werfen deine Leute sie kaum mehr als nackt hinunter. Aber alles können sie nicht finden."
Langsam führte sie die Hand hinein. Gegenstände aller Formen und Größen. Wahllos griff sie zu und legte ihn in ihren Schoß.
Es war ein flacher Stein, der bequem in ihre Faust gepasst hätte. In der Mitte der perfekten runden Form befand sich eine kreisförmige Absenkung, die mit einer gläsernen Substanz gefüllt war. Turid lächelte. Jemand hatte den Stein ausgekratzt und abgeschliffen und ihn dann mit Kupfer oder Silber gefüllt.
Im Sack fand sie noch mehr Schmuck. Eine Kette aus Holzperlen, einen billigen Ring aus Messing, verschrumpelte Nüsse und Kastanien und Ornamente aus Stroh, die sich bereits auflösten. Eine winzige, abgewetzte Schreibfeder. Ein Anhänger in Form eines Kreuzes. Und am Boden, der letzte Gegenstand, eine kleine Flöte.
Sie blies hinein und erzeugte einen schrillen, schiefen Ton, der Beowulf zusammenzucken und sie auflachen ließ. „Ist doch schön", sagte sie.
Er knurrte. „Mit dem Ding könntest du mich in die Flucht schlagen", sagte er.
„Gut. Gehen sollst du nämlich."
Sein drohender Blick brannte auf ihr, ohne dass sie ihn sehen musste.
„Beruhige dich. Ich will mich umziehen."
Er lachte. Kalt und hart. Diese Seite von ihm machte ihr Angst. Keiner von ihnen hatte lange Zeit ein Wort darüber verloren, dass sie Mann und Frau in einer Höhle waren. Nach ihrer anfänglichen Panik hatte Turid sich in dieser Hinsicht beruhigt, ja jegliche Vorstellungen verdrängt. Nie war ihr in den Sinn gekommen, welche Überlegungen er wohl anstellen mochte, wenn er mit seinen Gedanken allein war.
„Ich will mich umziehen", wiederholte sie mit fester Stimme.
„Ich verstehe", sagte er. Es hörte sich an, als würde er sich darüber amüsieren, in ihren Ohren ein gefährlicher Klang. Er regte sich nicht.
„Hast du keinen Anstand?", fragte sie.
„Vielleicht ist die Finsternis kein Ort für Sittlichkeit."
Sie fühlte sich wie ein Kind auf einem gefrorenen See, dem die Eisplatten unter den Füßen immer zarter werden, jederzeit bereit, zu zerbrechen. „Hör mir zu", sagte sie, „wir sprechen nicht darüber. Nie."
„Früher haben die Bauernmädchen nackt im Flussbett gebadet. Wenn wir ihnen dabei zusahen, dann war das eine Kicherei für sie", sagte er.
„Warum jetzt darüber sprechen?", fuhr sie fort. „Ich bin kein Bauernmädchen."
Ohne weitere Worte verstaute sie das Durcheinander zurück in den Leinsack, packte die Bündelschuhe, legte sich einen Gürtel, eine Samthose mit verziertem Oberkleid und Mantel über den Arm und bauschte die Wolldecke unter ihrer Brust zusammen. Als sie wie ein Esel schwer beladen mit ihrer Last den Weg zurückhinkte, den sie gekommen waren, betete Turid, sie möge nicht stolpern.
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