Kapitel 11. Die Flucht, das Gift und die Missgeburt

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„Es muss möglich sein", sagte sie. In dieser Hinsicht war sie widerspenstiger als jedes Maultier. Vielleicht war es die Hoffnung, an die sie sich klammerte, und das so fest, dass Beowulf sie ihr nicht ausreden konnte.

„Schluss damit", sagte er. „Niemand kommt dort hoch."

Turid schüttelte den Kopf. Er war ihr ständig ausgewichen, seit sie ihm ihre Gedanken offenbart hatte. Nie richtig realisiert hatte sie diese simple Tatsache – dass nur schwarze Luft sie von der Oberwelt trennte, von ihrem Zuhause, nur ein Tunnel. Er konnte nicht einmal besonders lang sein, sonst würde sie jetzt nicht mehr leben. Das einzige Problem war seine Richtung... steil in die Höhe. Aber das war nur ein Hindernis unter einer Reihe von Möglichkeiten. Warum es nicht versuchen?

Beowulf wehrte sich entweder vehement gegen ihre Vorschläge oder er sagte gar nichts. Turid bereute es, ihn darauf angesprochen zu haben. Aber noch war er nicht aus der Fassung geraten und dieses Thema war ihr wichtig genug, dieses Mal nicht klein beizugeben. Selbst wenn, was würde schon passieren? Immer war er ihr bedrohlich vorgekommen, wenn seine Stimmung kippte und sie hatte geglaubt, um ihr Leben fürchten zu müssen. Bisher allerdings war die schlimmste Konsequenz ihrer Provokation eine alberne Ohrfeige gewesen. In diese Hinsicht fühlte sich Turid wie ein Hund, der die Grenzen seines Herrn austestet und langsam begreift, dass dieser ihm nur ein Schauspiel vor die Nase setzt.

„Ich glaube dir erst, wenn du es versucht hast", meinte sie. „Hast du?"

Keine Antwort.

Turid versuchte, sich in eine angenehmere Position zu bringen und verzog dabei das Gesicht. Vorhin war der Schmerz in ihrem Bein nur ein leichtes Ziehen gewesen, jetzt stach er wie schon lange nicht mehr. Sie hätte es nicht so stark beanspruchen dürfen.

„Selbst wenn du die Lichtrinne emporfliegen könntest, am Felsen kämst du nicht vorbei", sagte Beowulf.

Ja, das stimmte. Der gewaltige Stein über dem Schlund sollte eigentlich jene am Hineinfallen hindern, die nicht dazu bestimmt waren. Er stand aber auch allen Unglücklichen im Weg, die unten landeten und lange genug lebten, um wieder hinaufklettern zu wollen. Nur hatte Turid die leise Ahnung, dass sie die erste Seele war, die überhaupt auf dieses Problem gestoßen war. Oder... vielleicht auch die zweite.

„Möchtest du nicht hinauf?", fragte sie.

Beowulf hüllte sich in Schweigen.

„Ich weiß ja nicht, was – ", Turid suchte nach den richtigen Worten, „was Leute von deinem Schlag von so einer Höhle halten. Wie dein natürlicher Lebensraum?", sagte sie.

„Nein", hörte sie ihn sagen. Er klang gereizt.

„Ist ja gut", murmelte sie. Ihr Bein pochte noch heftiger. Und dann gesellte sich ein schwaches Ziehen im Magen dazu, das sich im nächsten Moment in ein kribbelndes Zurren verwandelte.

Krampfartig zogen sich ihre Eingeweide zusammen und sie stöhnte auf. Mit einem Mal fühlte sie sich so elend wie schon lange nicht mehr.

„Schmerzen?", fragte Beowulf. Kein Hauch von Sorge lag darin, es war eine trockene Feststellung.

Jetzt war es Turid, die ihm nicht antwortete. Stattdessen legte sie die Hände um den Bauch und zog sich weiter in die Nische hinter dem Schlund zurück. Wahrscheinlich kam es ihm gerade recht, dass ihr eigener Körper die Fluchtpläne unterbrach und Beowulf vor weiteren unangenehmen Fragen bewahrte.

„Nur das Bein", sagte sie schließlich, warf den Kopf zurück, saß zusammengesunken an der Wand und ließ sich leiden. „Ich habe es zu viel belastet." Dass sie die Wanderung gar nicht erst hätte unternehmen sollen, würde sie ihm niemals sagen.

„Sicher?", meinte er und stellte damit eine Frage, die sie als genauso unangebracht wie sinnlos empfand. Auf was wollte er hinaus? „Geschwollen?", hakte er nach.

Turid tastete vorsichtig an ihrem Oberschenkel. „Ich weiß nicht so recht", gab sie zu.

Sie hörte, wie er sich regte. „Lass mich nachsehen", sagte er.

„Nein", sagte sie bestimmt. „Und dabei bleibt es."

Es war nicht so, als dass sie sich vor ihm gefürchtet hätte, die Berührung war ihr kaum mehr unangenehm. Scheu hatte an diesem lebensfeindlichen Ort nichts verloren, das hatte sie mittlerweile verstanden. Ja, sie schämte sich sogar vor ihrer eigenen Angst, wie lange sie geglaubt hatte, er wolle sie besitzen – ein Paradebeispiel der naiven Jungfrau. Turid machte den Eroberer dafür schuldig, denn seine Berührungen hetzten sie noch immer in ihren Träumen und hatten sie zu diesem kindischen Betragen verleitet. Beowulf zeigte nämlich nicht nur herzlich wenig Interesse an Gesprächen mit ihr, er würde sie auch nicht anrühren. Davon war sie überzeugt. Seltsam, dennoch, dachte sie, immerhin war sie die erste Bekanntschaft, die er seit vielen Jahren gehabt haben mochte, und noch dazu die einzige Frau. Plötzlich kam ihr in den Sinn, dass er womöglich auch mit anderen Hingerichteten Umgang gehabt hatte, aber sie verdrängte diese Vorstellung schnell. Es war, als hielt sie etwas zurück, wie eine tiefe Unruhe, die sie nicht erwecken wollte, aus Furcht, sie deutlich zu sehen.

Erst schien es, als akzeptierte er ihre Abweisung, denn ihre Worte blieben unerwidert. Dann jedoch holte er Luft, als wolle er Zeit für eine Entscheidung gewinnen.

„Deinem Bein geht es nicht schlechter als sonst", sprach Beowulf schließlich in die Stille hinein. „Nur die Wirkung lässt nach", sagte er.

Für einen Augenblick wusste sie nicht, was er meinte. Dann verstand sie.

Natürlich. Wie dumm, dass sie nicht darauf gekommen war... es war eine Ewigkeit her, dass er ihr die Messerspitze mit dieser eigenartig tröpfelnden Substanz in die Wunde gedrückt hatte.

So fühlt es sich also an, wach zu werden, dachte Turid. Es war, als ob sich das Empfinden ihres Körpers verzehnfacht hatte, vorbei mit den verschleierten Schmerzen, stattdessen nur Stiche und Übelkeit an allen Ecken und Enden.

Und er bot ihr an, davon befreit zu werden.

Würde sie wieder ruhiger werden, wenn sie es zuließe? Still und nachgiebig? Womöglich. Es war auch Stolz, der sie davon abhielt, Beowulf um Erlösung zu bitten. Wie aber sollte sie dieses Bein ertragen? Was sollte sie essen, wenn sie jedes Mal spüren musste, wie ihr Körper sich heftig gegen rohen Fisch und faules Fleisch zur Wehr setzte?

Sie seufzte. Was machte es schon für einen Unterschied.

„Unter zwei Bedingungen", sagte sie.

„Gleich zwei", antwortete Beowulf. Sie ignorierte es.

„Ich will wissen, woher du diese Flüssigkeit hast und sie kommt nicht ins Bein."

Sie hörte ihn aufstehen und lauschte den Schritten. Kleine Steinchen knirschten unter seinen Sohlen und sie fragte sich plötzlich, wessen Schuhe er trug.

„Komm da raus", befahl er. Ohne jede Eile rappelte sie sich auf, wobei ihr ein kurzes schmerzerfülltes Keuchen entfuhr.

Er packte sie am Arm und zog den Fetzen ihres Kleids beiseite, der ihre Schulter bedeckte. „Hadubrand", sagte er, und ritzte ihr mit einer schnellen Bewegung in die Haut, der Schnitt nicht länger als eine Fingerkuppe, aber tief. Turid fauchte und stieß ihn weg, ihre Finger berührten kurz den noch feuchten Stoff um seinen Arm und er zuckte zurück. Er hätte sie wenigstens warnen können.

„Was ist mit dem Tier?", fragte sie und hielt sich die blutende Wunde. Unwillkürlich genoss sie das Rinnsal, das sich dort den Weg durch ihre Handfläche bahnte – weil es warm war.

„Er erzeugt es", sagte Beowulf, in seinem Ton eine leise Feindseligkeit. „Stößt es ab."

Das verschlug ihr die Sprache. Knochenmark unbekannter Herkunft, verwesende Fledermäuse, schmutziges Wasser, ihr eigener Schweiß und die Ecke, in der sie sich erleichterte... alles Wesen des Ekels, Orte der Widerwärtigkeit. Und doch hatte sie sie akzeptiert. Dass allerdings eine Substanz aus irgendwelchen Drüsen eines menschenfressenden Monsters auf ihren Kreislauf Einfluss nahm, ließ ihr den halbverdauten Fisch als bittere Säure wieder in die Mundhöhle steigen. Untersteh dich, wies sie sich an.

Turid schluckte. Sie dachte an einen ihrer Brüder, der beim Spielen einmal von einer Wasserspinne gebissen worden war. Noch Tage danach war ihm übel gewesen und er hatte wirre Geschichten erzählt.

Ehe sie Beowulf sagen konnte, dass sie ihren Entschluss zurücknehmen wolle, hatte er bereits wieder ihren Arm ergriffen und drückte den Dolch hinein. Es brannte, als ihr das Gift wie zähflüssiger Honig den Ellenbogen hinunterlief.

Sie entriss ihren Arm, wortlos.

Einige Minuten später war sie froh, dass sie nicht mehr zum Einspruch gekommen war. Ihr Bein pulsierte nur noch schwach und die Magenkrämpfe hatten aufgehört. Ihr Atem ging ruhig und regelmäßig. Dass ihr Körper ihr keine Aufmerksamkeit mehr abverlangte, verschaffte ihr die Freiheit, sich auf ihre Gedanken konzentrieren. Unweigerlich schlich sich ihr verhasstes Mysterium in das Zentrum ihrer Überlegungen, das Herz dieser dunklen, tödlichen Höhle.

Ob das Biest wohl auch Ähnlichkeit mit einer Spinne hatte? Die Schritte hatte sie bisher eher zur Sorte von Pfoten verordnet, und acht Beine hatte es sicher nicht. Ebenso wenig wie glatte Haut oder Schuppen, denn das, was da raschelte, musste weich sein. Flauschig, kam es ihr in den Sinn, und sie verzog den Mund zu einem bitteren Grinsen. Die größten, ekelerregendsten Spinnentiere im Mauergewölbe waren auch behaart gewesen. Wie viele Augen Hadubrand wohl besaß? Tausende? Konnte es deswegen in der Dunkelheit sehen?

„Beowulf?", fragte sie.

Einige Schritte entfernt hörte sie ein ungehaltenes Brummen.

„Wie sieht Hadubrand aus?"

Zu ihrer Überraschung lachte er, und das regelrecht herzhaft. Als wäre sie über eine verstaubte, versteckte Tür gestolpert und hätte entdeckt, dass sie auf eine grüne Wiese führte und nicht in den Keller.

„Wenn sich ein fleischfressendes Kraut mit einer Assel paaren könnte und eine Kreuzotter mit einer Katze, dann könnte die Brut beider Untiere Hadubrand sein. Den Rest überlasse ich deiner Fantasie", meinte er und sie hätte ihr Leben darauf verwetten mögen, dass er grinste.

Unwillkürlich fragte sich Turid, ob Beowulf es liebte oder hasste. Ja, im Klang seiner Stimme war die Abscheu unüberhörbar, und doch... sie meinte, eine winzig kleine Prise Zuneigung darin zu erahnen, nur die Gefühle eines Mannes, der sein Leben lang in einer Höhle sitzt und nichts hört außer langsame Herzschläge und tiefes Schnauben.

Sie wollte von ihm wissen, warum es hier war, warum er hier war, warum er es getauft hatte, es jedoch scheute und sie doch beieinander lebten; alles kribbelte in ihr, es war eine fürchterliche Wissbegierde und in der Mitte stand die Ungewissheit, was sie selbst in dieser Höhle für eine Rolle spielte. Aber sie wusste, dass er ihr nicht antworten würde.

„Hat es Fell?", fragte sie stattdessen. Ein trostloser Ersatz.

„Teils", sagte er.

„Aha. Und Stacheln auch."

„Ja. Auf der Zunge und am Hinterkopf... und an anderen Stellen."

„Wie viele Augen hat es?"

Beowulf schnalzte mit der Zunge, wie um ihr zu sagen, dass er der Fragerei langsam überdrüssig wurde. „Turid. Er kann sehen", sagte er.

„Und Zähne?"

„Mehr, als du zählen kannst... lang, spitz, und giftig. Reicht dir das?"

„Nein", sagte sie. „Es hat vier große. Ich kann die Narben immer noch fühlen."

„Wie du meinst. Genug jetzt." Und da war sie wieder, die missmutige Luft, ein Anflug von Genervtheit, den sie beinahe riechen konnte. Hör auf damit, Turid, sagte sie sich, warum strapazierst du seine Geduld? Aber sie wollte nicht. Zu verlockend war die Möglichkeit, mehr aus ihm herauszuquetschen.

„Wie groß ist es?"

„Übermannshoch", kam die knappe Antwort.

„Welche Farbe hat es?"

„Was weiß ich?", fuhr er sie an.

Als er erkannte, welches Unglück ihm eben unterlaufen war, war es bereits zu spät.

„Braun", korrigierte er sich schnell, „es ist braun."

Turid legte den Kopf schief und starrte in die Finsternis. „Du hast erzählt, du kannst sehen", sagte sie langsam.

Stille erfüllte die Höhle.

„Kannst du sehen?", fragte sie.

Und wieder keine Antwort. Er war noch da, sie konnte ihn atmen hören.

„Beowulf."

„Mir reicht es", zischte er. „Du sollst bekommen, was du willst. Ich werde ihn dir holen."

„Du bist ein schlechter Lügner", rief sie, bevor er in der Dunkelheit verschwand. 

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