09. Gewissen
♪ The Chain – Fleetwood Mac
❃ ❃ ❃ M I L O ❃ ❃ ❃
Eine gleichmäßige Bewegung, ein monotones Geräusch und der Geruch von Essen schlichen sich in meine Sinne. Schlagartig spürte ich den Brechreiz in meiner Kehle, der mich automatisch dazu zwang, mich aufzusetzen.
„Halt an", würgte ich mühsam hervor und just in diesem Moment lenkte Liam den Wagen auf den Seitenstreifen. Keine Sekunde zu früh, denn als ich mit letzter Kraft die Autotür öffnete, trat mein Mageninhalt seinen Weg nach draußen an.
Ich kotzte mir die Seele aus dem Leib, hatte das Gefühl beinahe ohnmächtig zu werden und wurde von zwei starken Armen gehalten, deren fester Griff verhinderte, dass ich aus dem Wagen fiel.
„Alles okay, Milo?", vernahm ich Harrys besorgte Stimme, als ich den Kopf hob, um tief durchzuatmen.
Mein Schädel dröhnte und jeder einzelne Knochen in meinem Leib fühlte sich an, als hätte ich eine Schlägerei hinter mir. Daran konnte ich mich beim besten Willen jedoch nicht erinnern. Stattdessen vermischten sich Rabenschwärze, das Stöhnen einer Frau und der Geschmack eines Cocktails miteinander.
Und dann traf mich der letzte Fetzen Erinnerung brutal ins Herz.
Verzweifelt versuchte ich diesen Gedanken auszulöschen, die Aktion, die mir die Schamesröte ins Gesicht trieb, in die hinterste Ecke meines Gedächtnisses zu verbannen. Aber sie würde für immer Bestand haben, mich allezeit verfolgen.
„Milo, was ist eigentlich mit dir passiert?", mischte sich Liams Stimme in meine wirren Gedankensprünge.
Sie hatten also beide keine Ahnung. Ebenso wenig wusste ich, wie sie mich gefunden und in das Auto befördert hatten, denn ich litt unter einem gewaltigen Filmriss.
„Ich – ich weiß es nicht genau", stammelte ich hilflos. „Wie bin ich ins Auto gekommen? Wo habt ihr mich gefunden?"
Noch immer dröhnte mir der Kopf und ich fasste mir gegen die Stirn. Just in diesem Moment platzte Harry heraus: „Ich habe dir doch gesagt, wir hätten ihn nicht alleine lassen sollen! Bestimmt hat ihm jemand was in den Drink getan, sonst könnte er sich doch an alles erinnern!"
„Kann ich was dafür?", fauchte Liam. „Mir hat dort noch niemand was in den Drink geschüttet und meinen Kumpels auch nicht. Ich konnte doch nicht wissen, dass sowas passiert!"
Mein Verdacht bestätigte sich in diesem Moment. Ich war ausgetrickst worden, von einer Frau, die Sex mit mir wollte und das leider auch bekommen hatte. Durch die lähmende Wirkung des Drinks war ich ihr ausgeliefert, aber ich erinnerte mich bruchstückhaft an ihr lustvolles Stöhnen, an ihren weichen Körper.
Hilflos schlug ich die Hände vor das Gesicht. Ich wollte nicht daran erinnert werden, ich wollte es vergessen, denn es war nicht mein Wunsch gewesen, sondern ein Albtraum, der mich von nun an quälte.
„Es war einfach eine Schnapsidee!", empörte sich Harry, während er eine Flasche Wasser öffnete. „Hier, trink das, Milo. Es ist wichtig, dass du das Gift aus deinem Körper kriegst. Was immer man dir eingeflößt hat, es war bestimmt nichts Gutes."
Darauf wettete ich.
Langsam und in kleinen Schlucken trank ich das Wasser, spürte, wie die kühle Flüssigkeit meine Lippen benetzte, ehe sie meine Kehle hinabrann. Hoffentlich behielt ich das Wasser bei mir, denn ich hatte wahrlich genug gekotzt.
Harry fühlte meinen Puls, nickte zufrieden und sprach: „Am besten du ruhst dich noch etwas aus, Wir sind in einer Stunde zuhause."
In einer Stunde schon? Wie lange hatte ich bitte in diesem Dämmerzustand verbracht? Und noch immer war nicht geklärt, wie und wo die beiden mich gefunden hatten. Da ich dies jedoch um jeden Preis wissen wollte, bohrte ich nochmals nach.
„Ihr habt mir immer noch nicht gesagt, wo ihr mich gefunden habt. Dass ich nicht alleine in das Auto gekommen bin, ist mir bereits klar."
Es war Liam, der meine Frage beantwortete: „Wir fanden dich im Dark Room, nachdem ein Typ meinte, da läge einer, der wohl eingepennt sei und dort verschwinden müsste, damit der Raum wieder frei wird. Derjenige, der heute die Aufsicht im Club hatte, holte nach und nach die Leute in den Dark Room, nachdem man dort ein wenig Licht hineingebracht hatte und fragte, ob jemand dich kennt. Zum Glück waren Harry und ich unter den Ersten, die dort vorbeischauten. Du wurdest also nicht von allzu vielen Menschen gesehen und trugst außerdem noch deine Maske."
„Was für eine verfickte Scheiße", murmelte ich.
„Milo, was ist da drin passiert? Kannst du dich erinnern?", hakte Harry nach und sofort spürte ich den eisernen Ring, der sich um mein Herz legte, dieses beinahe zerquetschte.
Bei dem Gedanken an Gillian wurde mir ganz schlecht. Ich fühlte mich hundeelend und überlegte, was ich sagen sollte. Natürlich konnte ich leicht behaupten, mich an nichts erinnern zu können, das würde man mir mühelos abnehmen. Aber das war nicht ich. Ich stand stets zu meinen Taten, zu allem, was ich jemals verbrochen hatte.
„Ich – ich glaube, ich hatte Sex mit einer Frau. Sie trug eine venezianische Maske."
In der Tat erinnerte ich mich an dieses Detail noch sehr genau. Es fühlte sich gruselig an, daran zu denken und nicht minder gruselig, dies nun Harry und Liam mitzuteilen.
Beide hielten für einen Moment die Luft an und die ungemütliche Stille, die sich im Wagen ausbreitete, umhüllte mich wie eine Giftwolke. Schließlich brach Liam das Schweigen: „Du solltest Gillian nichts davon erzählen, denn es war keine Absicht von dir. Außerdem wurdest du unter Drogen gesetzt. Die Sache bleibt unter uns."
Er schaute zu Harry, der sein Einverständnis mit einem Nicken gab. Dann streckte er seine Hand aus. „Schlagt ein, Brüder. Niemand wird erfahren, was heute Nacht passiert ist."
Meine Hand zitterte leicht, als ich sie auf Harrys legte und kurz drauf Liams Hand auf meiner spürte. Es fühlte sich an wie ein Bund, den wir eingingen. Ein Bund des Schweigens.
Die Morgendämmerung setzte gerade ein, als wir in die Auffahrt zur Dearing Ranch einbogen. Souverän steuerte Liam den Wagen bis zum Haus und als Harry die Tür öffnete, schlug mir die laue Morgenluft entgegen.
„So, da wären wir", meinte Liam, wobei er mir seine Hand reichte. „Schaffst du es alleine ins Bett, Milo?"
„Das dürfte gehen", erwiderte ich lahm.
Etwas wackelig fühlten sich meine Beine noch immer an, aber ich kippte wenigstens nicht um und auch der Magen rebellierte nicht mehr.
In diesem Moment fiel mir ein, dass Gillian vermutlich gar nicht da sein würde und augenblicklich machte sich eine Art Erleichterung in mir breit. Ich musste sie noch nicht anschauen, ihr noch nichts vorlügen. Ich hatte Zeit, mich an diesen Gedanken zu gewöhnen, der mir, aus den unterschiedlichsten Gründen, so gar nicht behagte.
Einen Fuß vor den anderen setzend, mit Harry und Liam an meinen Seiten, ging ich mehr schlecht als recht auf die Eingangspforte zu. Stille empfing uns im Haus. Es war Sonntag und alle schliefen noch, sodass wir keiner Menschenseele begegneten.
Vor der Tür zu unserem Apartment verabschiedeten sich Harry und Liam.
„Wenn was ist, Milo, dann melde dich auf meinem Handy", bat Liam, der reichlich besorgt wirkte.
„Alles klar, aber ich schaffe das schon. Werde mich erstmal aufs Ohr hauen", ließ ich die beiden wissen.
Harry nahm mich kurz in den Arm und Liam gab mir einen leichten Klaps auf die Schulter, ehe ich durch die Tür verschwand. Nachdem ich diese hinter mir geschlossen hatte, lehnte ich mich mit dem Rücken dagegen und atmete tief durch.
Es konnte nicht wahr sein, was passiert war. Es musste ein verfluchter Albtraum. Doch leider wurde aus dem Albtraum eine brutale Realität, die mir einen Schlag ins Gesicht pfefferte. Ich sah es, als ich das Bad betrat und beiläufig in den Spiegelschrank über dem Waschbecken blickte.
Ein dunkler Fleck, ein Mahnmal der Ausschweifungen der letzten, verhängnisvollen Nacht, zierte meinen Hals.
Erschrocken zuckte ich zurück, tastete vorsichtig mit der Fingerkuppe des Zeigefingers darüber und versuchte daran zu reiben. Aber er verblasste nicht. Mich regelrecht verspottend, leuchtete er mir entgegen. Er dachte überhaupt nicht daran zu verschwinden, damit diese Nacht in Vergessenheit geriet. Wie ein Damoklesschwert schwebten die Erinnerungen über meinem Haupt, alles drehte sich in mir und ich hatte das Gefühl, innerlich zu zerbrechen.
Wie sollte ich das Gillian erklären, ohne zu lügen?
Wie sollte ich mir selbst noch guten Gewissens ins Gesicht schauen können?
Wie sollte unser gemeinsames Leben weitergehen, nachdem ich es praktisch zerstört hatte?
Völlig neben mir stehend lief ich in die Küche, goss Wasser in ein Glas und trank dieses in einem Zug leer. Seit dem Konsum der Drogen spürte ich eine enorme Trockenheit in meiner Kehle, wollte sie ständig benetzen.
In Endeffekt trank ich die ganze Flasche leer, wischte mir den Mund ab und betat das Schlafzimmer. Dunkel und leer lag es vor mir, doch Gillians Geruch schwebte im Raum, suchte förmlich den Weg in meine Nase und ließ mich kurz träumen.
Sie war wunderschön, liebevoll, ehrlich und treu.
Sie war die Frau, für die ich alles tun würde.
Sie war mein Leben.
Schwer atmend schlug ich beide Hände vor das Gesicht und ließ mich mit letzter Kraft auf das Bett fallen. Ich trug noch immer meine Klamotten, aber das fühlte sich plötzlich ekelhaft an und deshalb raffte ich mich auf, um mich der Kleidungsstücke zu entledigen. Vor allem die Boxershorts konnte ich nicht schnell genug abstreifen. Ich hatte sie in diesem Swinger Club getragen, genauer gesagt im Dark Room und wollte sie deswegen am liebsten für immer aus meinem Schrank verbannen.
Letztendlich landete sie im Mülleimer in der Küche, bevor ich erneut das Bad aufsuchte. Dort stieg ich in die Dusche, drehte das Wasser bis zum Anschlag auf und stand fast bewegungslos da, während es auf meinen Körper prasselte.
Mit geschlossenen Augen und innerlich zitternd versuchte ich die Vorkommnisse der letzten Nacht von mir abzuwaschen, aber das schlug gnadenlos fehl. Sie waren so präsent wie in diesem Moment, in dem ich zum ersten Mal realisierte, was wirklich geschehen war.
Kraftlos sackte ich in der Dusche zusammen, fand mich am Boden hockend wieder, die Arme um die Knie geschlungen. Sekunden wurden zu Minuten, Minuten zu einer halben Stunde, in der meine Haut schrumpelig wurde und ich zu frieren begann.
Keuchend erhob ich mich, drehte das Wasser ab und langte nach einem der großen Badetücher. Ich zitterte wie Espenlaub, als ich mich abtrocknete. Jeder Knochen tat mir weh, aber noch schlimmer war der Schmerz, der sich in meinem Herzen auftat.
Mühsam schleppte ich mich zurück ins Schlafzimmer, legte mich direkt ins Bett und schloss meine Augen. Die Gedanken wurden träge, verlangsamten sich mehr und mehr, bis ich schließlich weg döste.
Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, als die Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch die Jalousien bahnten, mich weckten. Vermutlich Mittag, zumindest wenn ich meinem Magen vertraute.
Noch immer schien ich alleine in unserem Apartment zu sein, das sich viel zu still und einsam anfühlte. Vorsichtig tastete ich nach meinem Handy, sah, dass Gillian mir geschrieben hatte. Mein Mund wurde trocken und die verdammten Stiche in meinem Herzen tauchten wieder auf.
„Hi Schatz, ich werde gegen drei Uhr am Nachmittag zuhause sein. Ich hoffe euer Abend war schön und freue mich ganz doll auf dich. Gillian xxx"
Viermal setzte ich an, um zu antworten, schrieb, dass ich bereits zuhause sei und mich auf sie freute. Noch war ihre Welt heil, aber ich wusste nicht, ob ich diese Illusion aufrechter zu erhalten vermochte.
Es war nach ein Uhr, als ich die Küche betrat, in der Flora gerade einen Teig anrührte. Kochen und backen gehörte zu ihren Hobbys und da Harry Kuchen liebte, kam er fast jedes Wochenende in den Genuss, seinem Laster zu frönen.
„Hi, Milo, alles klar?", begrüßte mich die hübsche Frau.
„Ja, ich habe bloß Hunger. Ist was zu essen da?"
„Aber sicher."
Ohne Umstände lief Florence zum Kühlschrank und holte eine Auflaufform hervor. „Lasagne, frisch gemacht. Ich mache sie dir schnell warm." Sie zwinkerte mir zu und ich sagte: „Du bist ein Engel, danke dafür."
„Ach was, hungrige Männer sind meist unausstehlich, deshalb ist das wohl eher eine Geste der Vernunft, anstatt eine Geste der Güte", ließ sich Harrys Frau schmunzelnd vernehmen.
Auf meine Frage, wo Harry und Liam abgeblieben seien, bekam ich zur Antwort, dass beide am Pool liegen würden. Nachdem ich eine Portion Lasagne verspeist hatte, begab ich mich direkt zum Pool, wo Liam und Harry sich in der Sonne aalten.
„Hey Milo", begrüßten sie mich, „geht es dir heute ein wenig besser?"
„Körperlich gesehen ja", erwiderte ich und ließ mich seufzend auf einer der Liegen nieder.
„Das wird schon", wisperte Liam. „Irgendwann wirst du nicht mehr daran denken. Spätestens, wenn euer erstes Kind geboren wird."
An solche Dinge dachte ich überhaupt noch nicht, denn damit wollten wir beide uns noch Zeit lassen. Wie viele Jahre würden bis dahin ins Land ziehen? Mein Gewissen machte mir von Sekunde zu Sekunde mehr zu schaffen und Gillians Cousin redete von vergessen.
Nach ungefähr fünf Minuten erhob ich mich und ging zurück ins Haus. Als ich Schritt hinter mir vernahm, drehte ich mich um und blickte in Harrys besorgtes Gesicht.
„Milo, ich weiß, dass es nicht einfach für dich ist. Aber wenn du jemanden zum Reden brauchst, sind Liam und ich immer für dich da. Ich wollte nur, dass du das weißt."
Harry war ein guter Kerl, absolut liebenswürdig und ehrlich und ich wusste, dass ich ihm absolut vertrauen konnte.
„Werde ich machen."
Eine Minute später stand ich in unserem Apartment, dass jedoch, im Gegensatz zu meiner Annahme, nicht mehr leer war. Ehe ich mich versah, fiel Gillian mir um den Hals. Sie war eine ganze Stunde zu früh, denn die Uhr zeigte gerade mal kurz nach zwei an.
„Ich habs nicht mehr ohne dich ausgehalten", flüsterte sie, bevor ihre weichen Lippen sich auf meine legten. Nur zu gerne ließ ich mich durch diesen Kuss ablenken, gleichzeitig fühlte es ich so falsch an das zu tun.
Ein gewaltiger innerer Aufschrei hallte durch meinen Kopf, durch mein Herz, durch meine Seele. Er zwang mich dazu, den Kuss zu unterbrechen und als Gillian mich aufmerksam musterte, da brach alles in mir zusammen.
Ich konnte nicht mit einer Lüge leben. Ich musste ihr die Wahrheit sagen.
„Ist irgendwas, Milo?", richtete sie ihre Frage an mich.
Tief atmete ich durch: „Es gibt da etwas, was ich dir sagen muss."
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Cliffhanger!
Endlich geht es in dieser Story weiter. Ich hoffe, es mag noch jemand lesen und ihr habt Spaß dabei.
Was denkt ihr wird nun passieren? Wird Milo tatsächlich die Wahrheit erzählen oder kneift er in letzter Sekunde?
Und wie wird Gillian reagieren, wenn er doch mit der Wahrheit herausrücken sollte?
Fragen über Fragen und ich hoffe, ihr seid gespannt auf die Antworten.
Danke an alle, die mich noch begleiten. Ich hoffe, es geht euch gut und ihr erfreut euch bester Gesundheit.
LG, Ambi xxx
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